47.
Kapitel
Sieben Uhr. Über Funk wird noch immer sein Name
herausposaunt, Leo Koslenko, er soll sofort in Gewahrsam genommen
werden, bewaffnet und gefährlich, Chrysler LeBaron, und jetzt der
neuste Knüller, Trotter, Michelle Trotter, Gouverneurstochter, die
Tochter des Gouverneurs, mögliche Verbindung, wird gesucht,
gefährlich, bewaffnet …
Bieg mit dem Toyota Camry vom Interstate ab, folge
den Hinweisschildern durch die Stadt. Neues Gebäude hier an der
Ecke, hat er noch nie zuvor bemerkt, komisch, die alten Gefühle
kehren wieder, aber der Ort schaut anders aus, er war seitdem nicht
mehr hier, hat sich immer ferngehalten, hatte keinen Grund,
herzukommen, aber jetzt ist er zurück, in jeder Hinsicht, er
arbeitet wieder, ist wieder im Spiel.
Mansbury College, willkommen in Mansbury, wo
Visionen Wirklichkeit werden.
McDermott lauscht einem weiteren Bericht über die
Befragung der Nachbarn; einem weiteren Bericht über irgendjemanden,
der nichts gesehen hat. Ein Nachbar hat heute so um Mittag eine
Kettensäge gehört, doch das schien ihm hier in der Nähe des
baumreichen Parks am See nichts weiter Ungewöhnliches.
Um die Mittagszeit, an einem Wochentag.
Koslenko muss sie unter der Dusche überwältigt haben, nach dem
Aufstehen, und dann gewartet haben, bis das Apartmenthaus sich
leerte, bevor er sich an die Arbeit machte. Dieser Kerl mochte
geisteskrank sein, aber dumm war er nicht.
Die Spurentechniker der Staatsanwaltschaft und der
Gerichtsmediziner sind mit ihrer Arbeit fast fertig. Sie forschen
auch nach Fingerabdrücken, aber alles wurde feinsäuberlich
abgewischt, und sie wissen ohnehin, wer es war. Sie können ihn nur
nicht finden. Seit heute Morgen läuft die Fahndung nach Koslenko
und seinem Wagen auf Hochtouren – ohne Ergebnis.
Sein Handy klingelt, ein Anruf aus dem Revier, wo
Harland Bentley und sein Anwalt inzwischen offensichtlich genug vom
Warten haben. Sie sind aus freien Stücken hier, hat sein Anwalt
gesagt, also könnten sie jederzeit wieder gehen.
»Albany hat sich ebenfalls verzogen, Mike. Wir
konnten ihn schlecht …«
»Schon in Ordnung«, sagt er. Er hat heute Nacht
ohnehin alle Hände voll zu tun. Aber er ordnet an, je einen Wagen
vor Bentleys und Albanys Haus zu postieren und ihnen zu folgen,
wenn sie wegfahren.
Er wirft einen Blick ins Wohnzimmer, wo Paul Riley
auf der Couch hockt, das Gesicht in den Händen vergraben, mit den
Zehen auf den Teppich trommelnd. McDermott wollte, dass er sich in
einen der Streifenwagen setzt, aber er hat sich geweigert.
McDermott lässt ihn hierbleiben, unter der Bedingung, dass er ihnen
nicht in die Quere kommt.
In Rileys Gesicht stehen nicht nur Trauer und
tiefer Schock geschrieben. Vor allem spricht es von Schuld. Das
hier geht auf seine Kappe, egal, was alle anderen dazu sagen. Mit
der Zeit wird auch er nach Rechtfertigungen dafür suchen. Er wird
sich sagen, dass er im Fall Burgos sein Bestmögliches getan hat. Er
wird sich einreden, dass Leo Koslenko Shelly getötet hat und nicht
er selbst. Aber er wird nicht daran glauben. Er wird sich ein Leben
lang Vorwürfe machen.
McDermott kann ein Lied davon singen.
Er hatte die Möglichkeit und auch das Recht, seine
Frau einweisen zu lassen, gegen ihren Willen. Mit einem
dreijährigen Kind hatte er sogar mehr als das – er hatte die
Verantwortung. Wie also konnte er an diesem Tag Joyce allein mit
Grace zurücklassen? Nachdem er ihren Zusammenbruch am Vorabend
miterlebt hatte?
Wie hatte er Gracie das nur antun können?
Sie gibt sich selbst die Schuld, sagte der
Arzt.
Wie hatte sie ihrer Tochter das antun
können? Egal wie krank, egal wie verstört – wie hatte Joyce der
kleinen Grace das antun können?
Hol die Schuhschachtel vom Schrank.
Mach sie auf.
Gib Mami das Ding.
Er bemerkt, dass er auf der Schwelle zu Shelly
Trotters Badezimmer verharrt. Was sich hier abgespielt hat, ist
zutiefst grausam und böse, egal, wie man es hindreht, egal, ob es
das Produkt einer geistigen Störung ist. Der Tod kennt keine
Ausnahmen, nur Opfer.
Der Einschusswinkel. Der Spurentechniker
dachte, McDermott könnte ihn nicht hören. Er wusste nicht, dass
McDermott, der seine dreijährige Tochter fest im Arm hielt,
aufmerksam auf jedes Wort aus dem Nebenzimmer lauschte.
Der Winkel ist sehr ungewöhnlich für einen
Selbstmord.
»Mike.«
Sie hätte die Pistole über einen Meter von
sich weg halten und damit auf sich zielen müssen.
»Mike.«
Dann muss es eben so passiert sein, hatte
Ricki Stoletti gesagt, die damals seit vier Monaten seine Partnerin
war. Dann ist es genau so passiert.
Stoletti berührt seinen Arm. Sie wirft keinen Blick
ins Badezimmer, aber sie ahnt, was sich in McDermott abspielt. Sie
haben nie darüber gesprochen, nicht mal direkt nachdem es geschehen
war. Damals, nach dieser Unterhaltung mit dem Techniker, hatte
Stoletti es vermieden, McDermott anzusehen.
Der Fall ist abgeschlossen, war alles, was
sie zu ihm sagte. Selbstmord.
»Hey, Mike«
Danke, dachte er, hatte es aber nicht
ausgesprochen. Damals nicht, und auch später nie.
»Der Gouverneur ist da«, sagt sie. »Mach dich
bereit für die Show.«
Ich erhebe mich, als Gouverneur Trotter
hereinrauscht, in Anzug und olivfarbenem Regenmantel, dicht gefolgt
von seiner Frau Abigail und einem ganzen Tross Sicherheitsbeamter.
Er stürzt auf mich zu, ergreift meine Hand, er zittert, seine Augen
sind rot, aber nicht nass. Er weint nicht. Das hat er bereits
erledigt.
»Wie …?« Seine Augen suchen in meinen nach einer
Antwort, aber ich habe keine.
»Es ist wegen mir«, sage ich. »Er hat sie wegen mir
getötet.«
Er schüttelt den Kopf, als verstehe er nicht recht.
Nichts an dem Ganzen hier macht Sinn. Das wird es womöglich auch
nie. Hinter ihm versucht sich seine Frau an McDermott
vorbeizudrängen, um Shelly zu sehen.
»Abby, gehen Sie da nicht rein«, sage ich. »Das ist
nicht … das ist nicht mehr Shelly.«
»Wie konnte das passieren, Paul?« Sie wendet mir
ihr Gesicht zu, das um Jahre gealtert wirkt. »Was haben Sie getan,
Paul?«
Es gibt nichts, was ich darauf erwidern könnte.
McDermott tritt heran, nimmt den Gouverneur beim Arm und führt ihn
und seine Frau in die Küche, um mit ihnen zu sprechen. Plötzlich
jedoch reißt der Gouverneur sich los, späht ins Badezimmer, und
kurz darauf folgt ein zutiefst gequälter Aufschrei.
McDermott, den die Anwesenheit des Commanders und
des Gouverneurs irritiert, ist erleichtert, als sie endlich in
Richtung Revier abziehen. Es ist kurz vor neun Uhr abends. Schon
der zweite Abend in Folge, an dem er Grace nicht ins Bett gebracht
hat. Und es könnte die zweite Nacht in Folge werden, in der er
keinen Schlaf findet. Zum ersten Mal seit Stunden spürt er, wie
sein Adrenalinspiegel sinkt. Sein Kopf ist völlig erschöpft. Die
Beine kann er nur noch unter Schmerzen bewegen.
Susan Dobbs, die junge Gerichtsmedizinerin, gehört
zu den wenigen, die sich jetzt noch im Apartment aufhalten.
Mittlerweile hat ihr Gesicht wieder die ursprüngliche Farbe
angenommen; bei ihrem Eintreffen vor einigen Stunden schien sie
ziemlich beeindruckt vom Tatort, und das will durchaus etwas
heißen, bei den Leichen, die normalerweise in dieser Stadt
anfallen. »Der Gouverneur muss eine Einwilligungserklärung für den
DNS-Test unterschreiben«, sagt sie. »Für eine zweifelsfreie
Identifikation.«
»Nicht viel von ihr übrig.« McDermott seufzt.
Sie zieht den Reißverschluss ihrer
Instrumententasche zu. »Nur der linke Fuß.«
»Oh, hab ich ganz vergessen.« McDermott schnippt
mit den Fingern. »Gott, in der ganzen Hektik …«
»Ja«, sagt sie, »er war da. Ein kleiner Einschnitt
zwischen der vierten und fünften Zehenwurzel. Er hat alles in
Stücke gesägt, bis auf den linken Fuß. Er wollte sicherstellen,
dass du drauf stößt.«
»Danke, Sue.«
Sie mustert ihn mitfühlend. »Wann hört er damit
auf, Mike? Du hast erwähnt, dass er diesem Songtext folgt?«
McDermott nickt und deutet mit den Fingern das
Peace-Zeichen an.
»Noch zwei Morde«, sagt er. »Wenn ich ihn nicht
vorher schnappe.«
Fahr wieder auf den Interstate, diesmal in
nördlicher Richtung, an der Innenstadt vorbei, ein Motel wäre das
Beste, wo er den Mietwagen hinter dem Haus verstecken kann. Zwar
wird keiner nach dem Camry suchen, aber er ist vorsichtig, immer
hübsch vorsichtig. Er entdeckt einen geeigneten Ort abseits des
Highways, zeigt seine falschen Papiere, trägt Brille, einen
falschen Bart und eine Baseballkappe, zahlt bar, wartet in der
Lobby, ob ihm jemand auf den Fersen ist, doch die Luft ist rein,
alles läuft bestens.
Die Tochter des Gouverneurs wurde ermordet,
sämtliche Nachrichten schreien es heraus, er sitzt auf dem Bett,
schaut zu, dann schaltet er aus, geht ins Bad und leert die Tüte
aus dem Drugstore auf dem Waschtisch aus.
Er klebt ihr Foto an den Badezimmerspiegel, fährt
die Konturen ihres Gesichts mit den Fingern nach, schön, so
wunderschön.
Mit dem Rasierapparat schert er sich die
Vorderseite und die Oberseite seines Schädels, keine Glatze, das
ist zu offensichtlich, nicht kahl, nur eine kleine kahle Stelle,
einen Fleck in Form eines Hufeisens.
Du schaust komisch aus.
Ich weiß. Aber so werden sie mich nicht erkennen.
Sie werden vermuten, dass ich mir den Kopf rasiere, aber nicht,
dass ich mir nur eine kahle Stelle rasiere.
Sieht trotzdem komisch aus.
Haarfärbemittel wird die übrigen Haare von
tiefschwarz in ein schmutziges Blond umtönen, andere Farbe, anderer
Haarschnitt, er betrachtet sich im Spiegel und entdeckt einen Mann
mittleren Alters mit typisch männlicher Glatzenbildung, hellbraunes
Haar an den Seiten, Brille …
Ich habe Angst.
Ich weiß, aber mein Plan wird funktionieren. Riley
wird uns jetzt helfen.
Er lässt sich aufs Bett fallen, bettet seinen Kopf
auf die Kissen, und das ist angenehm, auch wenn er nicht mit Schlaf
rechnet.
Elf Uhr. Das Revier gleicht einer betriebsamen
Bahnhofshalle, der Commander hat Quartier im Büro des Lieutenants
bezogen, wo er und Gouverneur Trotter miteinander konferieren. Der
Sohn des Gouverneurs, Edgar Trotter, Chief der State Police, ist
bei ihnen und bellt seinen Detectives, die er hier in einer Art
Staatsstreich eingeflogen hat, Befehle zu. Der jüngere Trotter
schien zunächst kurz davor, McDermott den Fall ganz zu entziehen,
hat sich dann aber auf die Erklärung beschränkt, das Sonderkommando
bräuchte eine effektivere Führung und die lokalen
Polizeikräfte hätten »das« womöglich verhindern können, wären sie
nur etwas weniger lahmarschig gewesen.
Bleiben Sie in der Nähe, hat er McDermott
angewiesen. Wir brauchen Sie vielleicht bei Detailfragen zum
Fall.
Die Presseabteilung hat sich der ganzen Sache
angenommen, stimmt sich mit den Leuten des Gouverneurs ab, bereitet
Erklärungen vor, feilt an jedem einzelnen Satz, damit sie nicht zu
viel, aber gerade genug sagen, um den Eindruck von Effektivität zu
erwecken. Die nationale Presse ist inzwischen auch vor Ort, was bei
den PR-Leuten noch mehr Druck macht, wenn nicht sogar Panikstimmung
auslöst.
Panik ist in seinen Augen überhaupt das
zutreffendste Wort für den momentanen Zustand. Unter den
Einsatzkräften herrscht eine gereizte Stimmung, eine Reaktion auf
die unterschwelligen Vorwürfe, die Polizei sei verantwortlich für
Shelly Trotters Tod. Falls diese Vorwürfe massiver werden, ist
ziemlich klar, wer den Kopf dafür hinhalten muss. Es ist zwar
unfair – Leo Koslenko hat einen gewaltigen Vorsprung, und immerhin
ist es ihnen gelungen, wenige Tage nach Beginn der Mordserie seine
Identität zu ermitteln – aber Fairness war noch nie eine
herausragende Tugend im politischen Konkurrenzkampf.
Schon jetzt haben sie ihn aufs Abstellgleis
geschoben. Er hat in diesem Fall nur noch beratende Funktion, und
wenn alles vorüber ist, wer weiß, wie es dann bei ihm
weitergeht.
Vermutlich werden sie ihn nicht auf Streife
schicken. Das wäre eine Degradierung um drei Ränge. Da würde die
Gewerkschaft nicht mitspielen. Nein, er wird einen
Schreibtischposten kriegen – irgendwo in einem muffigen Keller,
etwas, das ihn zur Kündigung zwingt. Und wenn alles vorbei ist,
wird McDermott vielleicht sogar die Energie aufbringen, sich
darüber ernsthaft Gedanken zu machen.
Er steckt den Kopf in den Konferenzraum und schaut
nach Riley. Riley wird es noch heftiger erwischen als alle anderen.
Wenn sich ihr Verdacht erhärtet, hat er entweder den falschen Mann
in die Gaskammer geschickt oder es versäumt, einen Mittäter, einen
Mitverschwörer zu fangen. Und falls sein Klient Harland Bentley in
die Sache verstrickt ist, haben die Medien die freie Auswahl an
Motiven: Riley hat die Ermittlungen behindert, entweder um sein
Versagen vor sechzehn Jahren zu vertuschen oder um seinen Mandanten
zu decken.
Aber was die Presse und der Bezirksstaatsanwalt
Riley zufügen werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was er sich
selbst antun wird. Diese Geschichte wird ihn nie mehr loslassen.
Manchmal wird es kurz an Intensität verlieren, nur um dann umso
heftiger wieder auf ihn einzustürzen, ohne jede Vorwarnung. Jeder
Moment des Glücks wird davon getrübt, sein ganzes Leben
beeinträchtigt.
McDermott weiß das besser als jeder andere.
Mami hat das selber getan, hat er zu Grace
gesagt, immer und immer wieder, unzählige Male. Es war Mami. Sie
war krank und wollte gehen.
Dabei weiß er nicht, was wirklich geschehen ist. Er
wird es nie wissen. Immer wieder malt er es sich aus, als wäre er
als unsichtbarer Beobachter dabei gewesen, und sucht nach der am
wenigsten schrecklichen Variante: Sie hat von Grace nur verlangt,
ihr die Schuhschachtel aus dem Schrank zu holen, sonst nichts
weiter; sie wollte Grace nach unten schicken, damit sie es nicht
mit ansehen musste; sie wollte erst ihren Mann anrufen, damit er
sich um Grace kümmern konnte; vielleicht war sie sich nicht mal
sicher, ob sie die Pistole überhaupt benützen würde. Vielleicht
wollte sie ihre Meinung im letzten Moment ändern.
Dann ging die Pistole los. Aber vielleicht war es
ein Unfall. Jedenfalls hätte sie ihrer Tochter niemals befohlen,
den Abzug zu drücken. Nein, wie gepeinigt ihre Seele auch war, das
hätte sie ihrer Tochter nicht angetan. Es war ein Unfall.
Aber er weiß es nicht. Er wird es nie wissen.
Mami hat das getan. In der Hoffnung, dass es
durch die Wiederholung zum festen Bestandteil ihrer Erinnerung
wird. Sag es oft genug, und sie wird es glauben. Haben Dreijährige
überhaupt Erinnerungen? Seine früheste Erinnerung reicht in das
Alter von fünf Jahren zurück. Er sitzt auf dem Absatz vor einem
Kamin und spielt mit Tierfiguren und einer kleinen Scheune. Aber
mit drei?
Dr. Sutton meint, nein. Es besteht nur eine
minimale Chance, dass sie sich daran erinnert. Wenn sie es
überhaupt irgendwann versuchen sollte. Wenn es sich
überhaupt so abgespielt hat.
Riley hockt bewegungslos in einem Stuhl, er nimmt
keine Notiz von McDermotts Anwesenheit. Seine Augen sind
blutunterlaufen und tief in sein bleiches Gesicht eingesunken. Sein
Haar steht wild in alle Richtungen. Seine Krawatte ist
verschwunden. Wie auch immer die ganze Sache ausgeht, eines ist für
McDermott gewiss: Riley hat sich keines Verbrechens schuldig
gemacht. Man kann die Fakten interpretieren, wie man will, aber
sein Instinkt hat ihn bisher noch nie im Stich gelassen. Warum
hätte sich Riley sonst mit Gwendolyn Lake getroffen? Warum Brandon
Mitchum aufgesucht?
Einfach, weil er wissen wollte, ob er während
seiner Ermittlungen im Fall Burgos etwas übersehen hat. Er
verfolgte die Sache so hartnäckig, dass er bereit war, den größten
Erfolg seiner Karriere infrage zu stellen, um die Wahrheit zu
erfahren.
»Burgos ist Ihnen in den Schoß gefallen«, sagt
McDermott zu Riley. »Er hatte ein Motiv, er hatte die Gelegenheit,
sein Haus war voller Beweisstücke. Er hat gestanden. Ich habe das
Vernehmungsprotokoll gelesen. Jeder an Ihrer Stelle hätte es
genauso dabei bewenden lassen, mit dem Täter derart unmittelbar vor
der Nase.«
Riley scheint ihn nicht zu hören. Er fährt mit den
Händen über den Tisch, als wolle er Sand von einem zerbrechlichen
Kunstwerk streichen; als suche er nach Worten.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Riley. Ist Ihr Kopf noch
klar genug dafür?«
Riley schweigt. Aber McDermott hat nichts zu
verlieren. Vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, Riley
überraschend und mit offenem Visier zu erwischen. Womöglich tut es
ihm auch gut, sich auf den Fall zu konzentrieren statt auf seinen
Schmerz.
Also breitet er den Stand der Ermittlungen vor
Riley aus, auch wenn dieser bereits das meiste davon weiß oder doch
zumindest ahnt. Harland ist Gwendolyns Vater, was Cassie kurz vor
ihrem Tod herausfand. Cassie war schwanger und hatte eine
Abtreibung – was Cassies Mutter bestätigt hat -, und sie hatte eine
Affäre mit Professor Albany. Cassie vermutete, ihr Vater hätte ein
Affäre mit ihrer besten Freundin Ellie – und das unmittelbar vor
dem Tod der beiden.
Er muss Riley nicht eigens sagen, dass all das
bereits hinlänglich auf Harland Bentley und Professor Albany
verweist. Und falls es noch Zweifel gibt, werden sie durch den
Brief ausgeräumt, den man bei Koslenko fand und dessen Echtheit
Albany bestätigt hat: Harland hat mit Albany einen Handel
geschlossen – schweig du über meine Affäre, dann schweig ich über
deine.
Für beide stand einiges auf dem Spiel. Reiche
Frauen, die Anwartschaft auf eine Lebensstellung. Da war durch den
Tod von zwei jungen Frauen viel zu gewinnen.
Riley schweigt. Bisher hat er kein Wort gesagt.
McDermott beginnt sich zu fragen, warum er sich überhaupt die Mühe
macht.
Plötzlich springt Riley von seinem Stuhl auf. Er
läuft in die Ecke des Raumes und starrt ins Nichts.
»Harland Bentley hat seine Tochter beseitigen
lassen, Paul. Und Ellie. Er hat einen Helfer für die Schmutzarbeit
aufgetrieben, einen psychisch gestörten und gewalttätigen Mann. Das
konnte zwar seine Ehe nicht mehr retten, aber seine Frau war zu
kaputt, um mit ihm zu streiten, also warf sie ihm zwanzig Millionen
in den Rachen, damit er verschwand, und er sackte sie eiskalt ein.
Alles in allem kein schlechter Deal.«
Riley bewegt sich nicht. McDermott führt im Grunde
ein Selbstgespräch.
»Ich weiß noch nicht, wie Albany ins Bild passt.
Ich schätze, er hat ihm mit den anderen Morden geholfen. Vielleicht
hat er die Schlüssel für das Auditorium organisiert, um die Leichen
dort zu entsorgen. Womöglich hat er sich auch Burgos’ Schlüssel
geschnappt, in dessen Suburban die Frauen verschleppt und in
Burgos’ Haus geschafft. Es war ganz sicher seine Idee, den Songtext
zu verwenden. Ich meine, wer kannte diesen Text besser als
Albany?«
Riley stützt eine Hand gegen die Wand. »Die anderen
Morde sollten die an Ellie und Cassie bloß vertuschen. Sie wollten
das Werk eines Serienkillers imitieren, der durch den Song
inspiriert war. Alles passt zusammen, Riley. Nur hilft uns das
nicht, Leo Koslenko zu finden. Der Kerl ist vermutlich längst über
alle Berge. Wer immer ihn kontrolliert hat – Bentley, Albany -, hat
keinen Einfluss mehr auf ihn.«
McDermott atmet tief durch. Er lädt hier eine Menge
auf diesem Mann ab, der heute Abend seine Freundin in tausend
Stücke zersägt vorgefunden hat. Aber er hat jetzt keine Zeit,
diplomatisch vorzugehen. Er spürt, dass Riley alles tun wird, um
Koslenko zu stoppen, und er braucht jetzt seine Hilfe.
»Riley«, sagt er leise. »Alle, die in dieser Woche
ermordet wurden – Ciancio, Evelyn Pendry, Amalia Calderone und
Shelly -, hatten einen kleinen Einschnitt zwischen der vierten und
fünften Zeh ihres linken Fußes. Er wurde ihnen nach Eintritt des
Todes beigebracht. Lässt das was bei Ihnen klingeln?«
Riley steht da wie erstarrt. Seine Lippen bewegen
sich lautlos, als wiederhole er das soeben Gehörte.
»Ich muss weg«, sagt er.
Kurz vor Mitternacht verlasse ich den Einsatzraum
der Detectives, übermüdet und mit überfrachtetem Hirn. Der
Gouverneur ist immer noch auf dem Revier. Seine Presseleute haben
bereits eine Erklärung herausgegeben, aber die Medien draußen
lauern immer noch auf die Protagonisten aus Fleisch und Blut.
Neben mir ein Polizist, der mich nach Hause fahren
soll. Die Pressemeute drängt sich hinter den Barrikaden, die den
Parkplatz und den Haupteingang des Reviers abriegeln, und ich höre,
wie sie meinen Namen rufen.
»Paul, hat Leo Koslenko Shelly ermordet?«
»Gibt es einen Zusammenhang mit dem Fall
Burgos?«
»War Terry Burgos unschuldig?«
»Hat Leo Koslenko auch das Mansbury-Massaker
verübt?«
»Einen Moment bitte.« Ich spüre einen
Adrenalinschub, obwohl ich dachte, ich wäre völlig am Ende.
Vielleicht ist es die Wut. Ich lasse den Cop hinter mir und steuere
auf die Reporter zu. Einige von ihnen, die Veteranen, haben mich
schon interviewt, als ich noch im Fall Burgos ermittelte. Wie
aufregend muss das hier für sie sein. Wie rasch Journalisten doch
in einen Erregungszustand geraten, wenn Köpfe zu rollen
drohen.
»Haben Sie den falschen Mann verurteilt?«
»Was haben Sie Gouverneur Trotter gesagt?«
»Wurde ein Unschuldiger hingerichtet?«
Die Kameras, die Scheinwerfer, die Mikros, alles
schwenkt in meine Richtung. Sie bombardieren mich weiter mit ihren
Fragen, bis sie kapieren, dass es so nicht laufen wird. Schließlich
verstummen die Rufe, und sie sind bereit, mir einen Moment
zuzuhören.
»Leo Koslenko hat die Mansbury-Morde nicht verübt«,
sage ich so ruhig wie möglich. »Terry Burgos ist der Täter. Was im
Moment geschieht, steht möglicherweise in Zusammenhang mit den
Mansbury-Morden. Die Polizei hat mich um Mithilfe gebeten, und ich
werde den Fall lösen. Geben Sie mir maximal ein oder zwei Tage. Ich
verspreche Ihnen, ich werde alles regeln. Aber eines steht fest –
niemand anders als Terry Burgos hat diese Mädchen getötet.«
Ich mache auf dem Absatz kehrt und marschiere
zurück zu dem Cop, während die Reporter mir alle möglichen
Folgefragen hinterherbrüllen. Wir laufen mit großen Schritten zu
dem Streifenwagen, und ich springe in den Fond. Ich lehne meinen
Kopf gegen die Nackenstütze, schließe die Augen und schiebe all die
Fragen beiseite, die sie mir über die Barrikaden hinweg
nachgeworfen haben.
Immer, wenn sie ins Haus kam, empfand er
eine Art Hochstimmung. Sie legte immer Wert darauf, ihm guten Tag
zu sagen, vielleicht auch ein paar Worte in Russisch.
Nicht so an diesem Tag. Sie rauschte einfach
an ihm vorbei. Er folgte ihr. Als sie die Stufen hinauflief, trat
ihr Gwendolyn entgegen. Leo bleibt im Hintergrund. Denn Mrs.
Bentley war sehr wütend geworden, als er einmal ein Gespräch
zwischen ihr und Gwendolyn belauscht hatte.
Was hast du meiner Mutter erzählt?
Nichts, was sie nicht ohnehin schon weiß.
Du weißt gar nichts über meinen Vater.
Nein, Cassie, ich glaube, du bist hier diejenige,
die nicht durchblickt. Cassie umklammerte das Geländer. Sie ließ
den Kopf sinken. Sie versuchte, ihre Wut zu zügeln.
Wenn du mir nicht glaubst, liebe Cousine, dann
musst du ihm nur folgen. Schau selbst, mit wem er sich trifft.
Vielleicht ist es sogar jemand, den du sehr gut kennst.
Cassie blickt wieder zu Gwendolyn auf. Sie
will etwas sagen, aber sie bringt es nicht fertig. Schließlich
dreht sie sich um und stürmt die Treppen hinunter.
Ich kann es kaum erwarten, Onkel Harlands Ausreden
zu hören, ruft Gwendolyn ihr hinterher. Er wird sich in den
Arsch beißen, dass er diesen Ehevertrag unterzeichnet hat!
Leo erwacht aus seinem Dämmerzustand. Der
Werbeblock ist vorüber. Der Nachrichtensender berichtet live. Er
springt von seinem Bett auf, als er Paul Riley erkennt, der zu den
Reportern vor der Polizeistation spricht. Er dreht die Lautstärke
auf und hält den Atem an.
»Leo Koslenko hat die Mansbury-Morde nicht verübt.
Terry Burgos ist der Täter.«
Er schließt die Augen und lauscht den Worten Paul
Rileys.
»Die Polizei hat mich um Mithilfe gebeten, und ich
werde den Fall lösen. Geben Sie mir maximal ein oder zwei Tage. Ich
verspreche Ihnen, ich werde alles regeln. Aber eines steht fest –
niemand anderes als Terry Burgos hat diese Mädchen getötet.«
Leos Mundwinkel wandern nach oben und bilden fast
so etwas wie ein Lächeln.
McDermott verfolgt die Nachrichten in der
Cafeteria, wo er sich gerade einen frischen Kaffee besorgen wollte.
Auf der Mattscheibe ist Paul Riley zu sehen, wie er vor dem Revier
sein Statement abgibt.
»Was erzählt der da für einen Blödsinn?«, fragt
Stoletti.
Sie war nie ein großer Fan von Riley, und heute
haben die beiden Detectives einen besonders beschissenen Tag.
Stoletti musste nicht so viel einstecken wie ihr Partner, trotzdem
hat auch sie ihren Teil abbekommen. »Burgos hat die Mädchen
getötet? Die Polizei hat mich um Hilfe gebeten? Geben Sie mir
maximal ein oder zwei Tage? Weiß er was, das wir nicht
wissen?«
McDermott nickt abwesend und verfolgt, wie die
Nachrichten das Statement noch einmal wiederholen.
Die Polizei hat mich um Mithilfe gebeten, und
ich werde den Fall lösen. Geben Sie mir maximal ein oder zwei
Tage.
Stoletti seufzt. »Ich verzieh mich, Mike. Hier
gibt’s nichts mehr für uns zu tun. Ich hab mir heute schon genug
Scheiße anhören müssen.«
Ich verspreche Ihnen, ich werde alles
regeln.
»Bleibst du bis zu Bentleys Vernehmung? Er wird in
etwa einer Stunde eintreffen.«
Er zuckt mit den Achseln.
Aber eines steht fest – niemand anderes als
Terry Burgos hat diese Mädchen getötet.
Stoletti stellt sich neben ihn und deutet auf das
wütende, verstörte Gesicht Rileys. »Verdammt, ich kann schon
verstehen, wenn der Kerl mal Dampf ablassen will. Das war für ihn
auch nicht gerade ein Glanztag heute. Aber damit macht er sich doch
komplett lächerlich.« Sie klopft McDermott abschließend auf den Arm
und verschwindet.
»Vielleicht«, murmelt McDermott. Vielleicht macht
er sich lächerlich.
Vielleicht spielt er aber auch einfach bloß
mit.