11.
Kapitel
»Haltung, Hector«, erinnere ich ihn, als die
Fahrstuhltür aufgleitet. Die Reporter lauern in der Lobby des
Gerichtsgebäudes und springen sofort auf, als ich aus dem Aufzug
trete, in Begleitung von Senator Hector Almundo, der sich gerade in
elf Fällen von Betrug, Erpressung, Bestechung und Unterschlagung
für nicht schuldig erklärt hat. Der Senator, dezent in einen grauen
Anzug mit schwarzer Krawatte gekleidet, befolgt meinen Rat und
drängt sich mit stoischer Miene durch die Reporter, die ihn mit
ihren Fragen wie mit Schlägen in den Magen bombardieren. Nicht
einfach, das zu ertragen.
Kurz vor der Drehtür bleiben wir stehen und drehen
uns um. Die Reporter umzingeln uns und schieben dem Senator ihre
Mikrofone ins Gesicht, bis ihnen klar wird, dass ich hier das Wort
führe. Ich gebe den üblichen Kommentar ab – sämtliche
Anschuldigungen seien völlig haltlos, und wir könnten es kaum
erwarten, unsere Unschuld vor Gericht zu beweisen. Wobei ich
unerwähnt lasse, dass Senator Almundo nur eine Stunde zuvor
schluchzend in meinem Büro saß und sich verzweifelt fragte, wie
viele Leute er bestechen müsste, um eine Gefängnisstrafe
abzuwenden.
Nach dieser überflüssigen Zeremonie schieben wir
uns nach draußen, und ich verfrachte Hector in den wartenden Wagen.
Während er mit seiner Frau und seinem Bruder davonrast, wimmle ich
eine Handvoll Reporter ab. Dutch Reynolds und Andy Karras wollen
Informationen für eine Hintergrundstory, aber ich bin nicht in
Stimmung dafür. »Danke allerseits. Das war’s für heute«, sage ich
bestimmt.
Eine der Journalistinnen weckt mein Interesse. Ich
habe sie hier noch nie gesehen, und im Gegensatz zu ihren Kollegen
ist sie eine wahre Augenweide. Sie sieht aus, als gehöre sie
eigentlich vor eine Kamera, groß, mit hellem Teint, auf telegene
Art schlank, mit einem ovalen Gesicht, einer perfekten Nase und
ausdrucksvollen blauen Augen. Außerdem trägt sie ein verdammt
hübsches himmelblaues Kostüm. Ich ergreife galant die Hand, die sie
mir entgegenstreckt, doch wie immer bei attraktiven Frauen
verknotet sich meine Zunge. Wenn es so was wie den Krieg der
Geschlechter tatsächlich gibt, dann ist es der aussichtsloseste, in
dem ich je gefochten habe.
»Paul Riley? Evelyn Pendry von der
Watch.«
Wie schon vermutet, ist sie von der schreibenden
Zunft. Aber der Name lässt es in meinem Hinterkopf klingeln.
»Kein Kommentar, Evelyn.«
»Ich möchte Ihnen nur zum Jahrestag gratulieren«,
lächelt sie und studiert meine Reaktion. »Sechzehn Jahre.«
»Sechzehn – so lange ist das schon her? Stimmt.«
Ich habe es ganz vergessen. Heute vor sechzehn Jahren haben wir die
Leichen gefunden. Ich schüttle immer noch ihre Hand und muss mir
innerlich befehlen, sie loszulassen. Wenigstens für die nächsten
paar Sekunden unterdrücke ich meine männlichen Instinkte – immerhin
sie ist Journalistin, und da sollte man immer auf der Hut sein.
»Ich muss dringend weg«, erkläre ich.
»Um Hectors Verteidigung auf die Beine zu
stellen?«, fragt sie ironisch. »In spätestens drei Monaten wird er
ohnehin auspacken.«
Wenn sie weniger attraktiv wäre und ihre Prognose
nicht dermaßen ins Schwarze träfe, wäre ich sicher wesentlich
ungehaltener. So deute ich bloß entschuldigend auf meine Uhr.
»Ich wollte nur wissen, ob Sie vielleicht ein wenig
Zeit für mich haben«, sagt sie.
Die suggestive Art ihrer Fragestellung hat was.
Aber vielleicht spielen auch nur meine Hormone verrückt. Vermutlich
fände ich es genauso charmant, wenn sie mich nach einer
Hämorridencreme fragen würde.
»Für Sie oder für Ihr Blatt?«, will ich
wissen.
Ein reizendes Lächeln malt sich auf ihr Gesicht.
Sie lässt mich nicht aus den Augen. »Das überlasse ich
Ihnen.«
Fast habe ich das Gefühl, diese umwerfende Frau
flirtet mit mir. Ein Zyniker würde vielleicht das Wort
manipulieren verwenden, aber wer will schon ewig als Zyniker
durchs Leben gehen?
»Stört Sie das?« Sie hält mir ein kleines
Aufnahmegerät vor die Brust. Ohne mein Einverständnis abzuwarten –
das tun Reporter nie – schaltet sie es ein und beginnt die Fakten
zu nennen, Name und Datum.
»Sie sind jetzt fünfzehn Jahre selbstständiger
Anwalt«, sagt sie zu mir. »Kurz nach der Verurteilung von Terry
Burgos haben Sie Ihre eigene Anwaltsfirma gegründet?«
Ich erwidere nichts, lasse aber das berühmte
Riley-Lächeln aufblitzen, das schon Frauen rund um den Globus
schwach gemacht hat.
»Und wann hat Harland Bentley Sie als Anwalt für
alle seine geschäftlichen Angelegenheiten eingesetzt?« Sie neigt
den Kopf ein wenig zur Seite und schiebt mir den Rekorder unters
Kinn. Als sie keine Antwort bekommt, fügt sie hinzu: »Nur ein paar
Hintergrundinfos, Paul. Wir bringen eine Story über die Anklage
gegen Almundo. Das ist kostenlose Werbung für Sie.«
Ich nicke freundlich und starre auf das
Aufnahmegerät. Und dann fällt es mir ein. »Sie sind Carolyn Pendrys
Tochter, richtig?«
Sie runzelt die Stirn angesichts dieser Bemerkung,
die ihr in jeder Hinsicht unpassend erscheinen muss. Ganz
offensichtlich ist sie eine Frau, die es allein schaffen will, ohne
die Protektion ihrer berühmten Mutter, der Nachrichtenmoderatorin.
Allerdings steht zu vermuten, dass überirdische Schönheit bei ihnen
in den Genen liegt, auch wenn ich mir das letzte Mal, als ich mich
in unmittelbarer Nähe einer Pendry befand, anschließend ihr
Mittagessen von den Schuhen wischen musste.
»Ich muss los«, sage ich und reiche ihr meine
Karte. Hartnäckig versperrt sie mir den Weg. »Nur ein paar kurze
Fragen, Paul. Ich lade Sie auch auf einen Drink ein. Seien Sie doch
nicht so, ein harmloser Drink nach Feierabend.«
Sie versucht, einen Fuß in die Tür zu kriegen und
verfällt prompt wieder aufs Flirten. Bei ihrem Äußeren hat sie
damit vermutlich in den meisten Fällen Erfolg. Warum auch nicht?
Würde ich so aussehen, würde ich auch mit meinen Pfunden wuchern.
Aber einem Kerl wie mir bleibt eben nur sein einnehmendes
Wesen.
»Ich könnte in meinem Artikel Burgos erwähnen«,
bietet sie an, während sie neben mir hertrabt. Solange ich sie
nicht mit dem Ellbogen wegstoße oder in ein Taxi springe und die
Tür hinter mir zuschlage, wird sie sich kaum abschütteln lassen.
»Kann nie schaden, die Öffentlichkeit mal wieder daran zu erinnern,
dass Sie für die Verurteilung des berühmtesten Serienkillers
unserer Stadt zuständig waren.«
Mag sein. Fast jeder meiner potentiellen Klienten
fragt mich irgendwann danach. Und jedes Mal ertappe ich mich dabei,
wie ich die Geschichte mit all ihren Details wieder hervorkrame,
den grausigen Tatort, das furiose Verteidigerteam und den Triumph,
als die Jury schließlich verkündete, die erschwerenden Umstände der
Tat überwögen die mildernden. Wobei ich jedoch regelmäßig versäume
zu erwähnen, dass dieser Fall, obwohl langwierig und vielbeachtet,
einer meiner einfacheren war.
»Da wir gerade davon sprechen – haben Sie Kontakt
zur Bentley-Familie?«, fragt sie mich. »Haben Sie je mit Natalia
gesprochen? Oder mit Gwendolyn Lake?«
Sie muss noch an ihren Überleitungen feilen. Warum
gibt sie vor, etwas über Hector Almundo schreiben zu wollen, wenn
sie in Wahrheit über Burgos und die Bentleys sprechen will?
»Würden Sie Cassie Bentley als ein schwieriges
Mädchen beschreiben? Mit emotionalen Problemen?«
Wir haben das Ende der Plaza vor dem
Gerichtsgebäude erreicht. Ich bleibe abrupt stehen und sehe Evelyn
direkt ins Gesicht. Das weckt sofort neue Hoffnungen bei ihr, der
Kassettenrekorder landet wieder unter meiner Nase, und sie beißt
sich vor Aufregung auf die Unterlippe.
Offensichtlich heckt sie bereits die nächste Frage
aus, während mich eigentlich viel mehr interessiert, was sie da mit
ihrem Mund anstellt. Tja, Freud hatte wohl doch nicht so
unrecht.
Harland Bentley hatte Natalia Lake geheiratet, die
Erbin des Vermögens der Lake’schen Minengesellschaft. Natalias
Schwester Mia Lake hatte mit ihrer Tochter Gwendolyn in Natalias
und Harlands Nähe gelebt, auf der anderen Seite von Highland Woods
– zwei riesige Villen, die den wohlhabenden Vorort flankierten,
eine für jede Lake-Schwester. Mia war schon vor langer Zeit
gestorben, irgendwann in den frühen Achtzigern, und Natalia hatte
sich ihrer Nichte Gwendolyn Lake angenommen. Da die Familie grob
geschätzt mehrere Milliarden besaß, hatte trotzdem niemand wirklich
darben müssen.
Als sich Natalia und Harland kurz nach der
Ermordung ihrer Tochter Cassie scheiden ließen, zog Natalia hinüber
in die Villa, in der früher ihre Schwester gelebt hatte, und in der
ihre Nichte vermutlich immer noch wohnte. Ich hatte nie das
Vergnügen gehabt, Gwendolyn persönlich kennenzulernen. Und es war
wohl auch kein echtes Vergnügen, nach allem, was so
durchsickerte.
Ich habe keinen Schimmer, warum Evelyn mich danach
fragt. Aber ich spiele nicht gerne Katz und Maus, es sei denn, ich
bin die Katze. (Oder war es doch die Maus?) »Cassie Bentley war ein
vielversprechendes junges Mädchen, und ihr Tod ist eine echte
Tragödie«, sage ich. »Natalia Lake hat diesen Schicksalsschlag mit
unglaublicher Haltung und Würde gemeistert. Ich wünsche ihr und
ihrer Nichte Gwendolyn alles Gute.«
Evelyn schweigt. Das war definitiv nicht das, was
sie hören wollte. Aber was hat sie sich erwartet? Schließlich bin
ich Anwalt. Ich bin den ganzen Tag mit verbalen Manipulationen
beschäftigt.
Ich schenke Evelyn ein breites Lächeln. »Und
Senator Almundo ist unschuldig«, füge ich hinzu.
Mit einem lauten Seufzen atmet sie aus. Sanft packe
ich ihren Rekorder und drücke die Stopptaste. »Evelyn«, sage ich,
»wenn ich einen Zeugen ins Kreuzverhör nehme, stelle ich ihm gern
scheinbar unzusammenhängende Fragen, damit er meine Absicht nicht
durchschaut. An einem bestimmten Punkt bündle ich dann sämtliche
Informationen und lege sie in meinem Sinne aus, bevor er die Chance
hat, den Schaden zu reparieren. Aber wir sind hier nicht vor
Gericht, ich stehe nicht unter Eid und muss Ihre Spielchen nicht
mitspielen. Also tun Sie mir einen Gefallen: Grüßen Sie Ihre Mutter
von mir und machen Sie sich noch einen schönen Tag. Falls Sie
irgendwann offen und ehrlich mit mir reden wollen, dann haben Sie
ja meine Nummer.«
Ich verabschiede mich und lasse sie an der Ecke der
Plaza stehen. Sie ruft mir hinterher: »Okay, dann reden wir
meinetwegen offen und ehrlich.« Aber jetzt kassiert sie Strafpunkte
wegen Unhöflichkeit. Irgendwann in den nächsten Tagen werde ich
einen ihrer Anrufe beantworten, aber sicher nicht diese
Woche.
Kurz vor drei bin ich zurück im Büro. Ich nehme
mir einen Moment Zeit, um unten am Lift den eingravierten
Schriftzug SHAKER,RILEY & PARTNER auf mich wirken zu lassen,
und genieße den Anblick gleich noch mal – in Goldbuchstaben auf
Marmor über dem Kopf der Empfangsdame -, als ich aus dem Aufzug in
unsere Etage trete. Der Empfangsbereich ist gepflegt, mit
gemütlichen Sofas und dem Wandbild eines Gerichtssaals, das die
Klienten immer daran erinnert, dass wir in erster Linie
Strafverteidiger sind. Dieses Bild war eine clevere Idee, als wir
hier einzogen. Die Klienten stehen drauf. Heutzutage endet zwar
fast alles mit einer außergerichtlichen Einigung, aber für den Fall
der Fälle wissen die Mandanten gerne einen echten Krieger an ihrer
Seite.
Ich begrüße die Empfangsdame, deren Namen ich
vergessen habe. Früher war das anders, als Richter Shaker und ich
die Firma gerade frisch gegründet hatten, mit nur einem festen
Klienten, Harland Bentley, und sechs hungrigen jungen Anwälten, auf
der Jagd nach jedem Fall, den wir kriegen konnten. Jeden Mittwoch
aßen wir gemeinsam Pizza, während wir unsere Bilanzen
durchsprachen, über neue Klienten und anstehende Prozesse
diskutierten und darüber, an welchem Wochenende wir alle gemeinsam
der Kanzlei einen neuen Farbanstrich verpassen würden. Freitags
tranken wir immer Scotch bevor wir heimgingen. Wir hatten sogar ein
eigenes Basketball-Team, mit dem wir gegen andere Mannschaften aus
der Anwaltskammer antraten.
Inzwischen arbeiten über hundert Anwälte in diesen
wundervollen Räumlichkeiten, wir ködern die Abgänger der besten
Jura-Unis mit stattlichen Gehältern als Juniorpartner und betrauen
die talentiertesten darunter mit unseren Fällen. Erst gestern bin
ich an einem der Konferenzräume vorbeimarschiert, und mir wurde
bewusst, dass ich nicht einen der jungen Anwälte darin mit Namen
kannte.
Ich grüße zwei Juniorpartner, beide weiblich, jung
und attraktiv. Sie erkundigen sich, wie es mir geht, und ich
antworte, harmlos genug: »Unermüdlich im Einsatz für die
Gerechtigkeit.« Beide lachen, und ich schlendere weiter. Kurze
Quizfrage: Attraktive junge Frauen lachen über deine Witze, weil
sie dich (a) ebenfalls attraktiv finden, (b) für scharfsinnig und
brillant halten, oder weil du (c) ihre Gehaltschecks
unterschreibst?
»Sie haben die Personalversammlung versäumt. Schon
wieder.«
Das ist es, was ich an meiner Assistentin Betty so
schätze. Sie nimmt mir gegenüber nie ein Blatt vor den Mund, und
sie blickt nie auf, wenn ich an ihrem Schreibtisch vorbeirausche.
Entweder erkennt sich mich schon am Gang, oder sie hat irgendwo
eine geheime Kamera installiert – jedenfalls weiß sie immer, wann
ich mich nähere.
»Ich war bei einer Anhörung«, erkläre ich.
»Um vier haben Sie einen Termin mit Mr.
Otis.«
Richtig. Er ist Finanzmanager eines
Top-500-Unternehmens, das Steuerbehörden und
U.S.-Staatsanwaltschaft im Visier haben, weil Bücher frisiert und
falsche Umsatzzahlen für 2003 veröffentlicht wurden. Das Treffen
ist eine heikle Angelegenheit wegen des sogenannten
Sarbanne-Oxley-Gesetzes, das einen Anwalt von der Schweigepflicht
entbindet, sobald er einen wichtigen Wirtschaftsführer vertritt.
Lässt ein Manager oder ein Vorstandsmitglied eines Konzerns
gegenüber einem Anwalt was von gefälschten Bilanzen verlauten, ist
dieser dazu verpflichtet, den Vorgang beim FBI anzuzeigen,
andernfalls macht er sich selbst strafbar. Und diese Kommunisten –
ich meine, die amerikanische Anwaltskammer – befürworten diese Idee
auch noch, weswegen ich die Mitgliedschaft gekündigt habe.
Vor dem Meeting muss ich noch einigen Papierkram
erledigen. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Akten, unter
anderem Unterlagen, die morgen an eine von Harland Bentleys Firmen
rausmüssen. Ein blinkendes Licht an meinem Telefon signalisiert
mehrere eingegangene Nachrichten. Fest entschlossen, sie vorläufig
zu ignorieren, nehme ich mir zunächst die Post vor. Das meiste sind
Rechnungen oder Bitten um Geld verschiedenster Herkunft. Nur eines
der Schreiben, in einem schlichten weißen Umschlag, per Hand
adressiert, scheint ein persönlicher Brief zu sein. Als ich ihn
schüttle, fällt ein gefaltetes Stück Papier heraus, auf dem in
großen, handgeschriebenen Druckbuchstaben steht:
Böses ersteht neu. Öffentliche
Teilnahme ist gewiss. Er kennt Euer Rätseln Nähe einstiger
unvergessener Taten? Ihr Heiden, reuevoll erwartet bald Erhellung.
Inzwi schen Herr, ingrimmig lasst Fackelträger erscheinen.
»Offenbar ein weiterer zufriedener Kunde«, seufze
ich. Ich falte das Blatt zusammen und lasse es in der
Schreibtischschublade verschwinden. Als ehemaliger Strafverfolger –
erst im Staatsdienst und dann bei einer lokalen Behörde – erhalte
ich regelmäßig Fanpost von Inhaftierten, die sich bei mir für ihren
Umzug in die neue Umgebung bedanken. Normalerweise drohen sie mir
damit, ein ganz bestimmtes Teil meiner Anatomie zu entfernen.
Gelegentlich – und das betrifft vor allem Mitglieder von Gangs, die
ich als Bundesanwalt hinter Gitter schickte – haben sie auch zurück
zu Gott gefunden und wollen wissen, ob es mir genauso geht. Einmal
hab ich sogar geantwortet und geschrieben, ich hätte ihn gar nicht
erst verloren.
Ich hole den Umschlag wieder aus dem Papierkorb.
Lokaler Poststempel. Irgendwo in der City abgeschickt. Das Ganze
erinnert mich an die Post, die wir während des Burgos-Prozesses
bekamen – lauter verdrehtes Zeug, in dem mit sämtlichen
Höllenstrafen gedroht wurde, und das uns zum Lachen brachte, uns
gelegentlich aber auch kalte Schauer den Rücken runterjagte.
Meine Sekretärin Betty kommt herein. »Führen Sie
etwa Selbstgespräche?«
»Sind Sie das Böse, das neu ersteht?«, frage ich
zurück.
Sie mustert mich, eher missbilligend als
fragend.
»Erwarten Sie bald Erhellung«, teile ich ihr mit.
Sie nimmt meine Kaffeetasse, schnüffelt misstrauisch daran,
verdreht die Augen und verlässt das Büro.
Leo steht vor dem Gebäude von Paul Rileys Kanzlei.
Er benutzt ein Erfrischungstuch, das er aus einem
Fried-Chicken-Lokal mitgenommen hat, um den Umschlag ein letztes
Mal gründlich abzuwischen. Dann lässt er ihn in den Briefkasten
gleiten und entfernt sich.