34. Kapitel
Das dreiundsechzigste Stockwerk des BentleyCo-Towers ist ausschließlich für den Firmenchef Harland Bentley reserviert. Die gesamte Südseite der Etage wird von Harlands persönlichem Büro eingenommen, einer palastartigen Anlage mit Konferenzraum, privatem Bad und Spa. Nach Norden, Osten und Westen hin liegen weitere Konferenzräume, außerdem der luxuriöse Freizeitbereich, den Harland sich gönnt; ein Medienraum mit einer Hi-Fi-Anlage, einem riesigen Flachbildschirm und Ledersesseln; ein Fitnessraum mit Stepmaster, Laufband, Ergometer und Hantelbänken; und im Norden dann die Schlafgemächer, die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, und in denen vermutlich auch eher wenig geschlafen wird.
Heute Abend werde ich jedoch in den sogenannten »Grünen Raum« gebracht, wo mein Klient auf einen Golfball zielt und ihn weit am Loch vorbeischlägt. Anstatt zu fluchen, zieht er mit dem Schläger einen weiteren orangefarbenen Golfball heran und sagt: »Sie kommen zu spät.«
Typisch Harland. Wie vereinbart, treffen wir uns erst, nachdem ich mein Gespräch mit der Polizei im Krankenhaus beendet habe, trotzdem drängt er mich sofort in die Defensive. Der Assistent, der mich in den Raum geleitet hat – ein Bodyguard mit Headset und starkem britischem Akzent – lässt uns allein.
Harland schlägt auch diesen Ball viel zu weit nach links, er knallt gegen die Holztäfelung, und diesmal stößt Harland einen Fluch aus. »Ich hasse es, zweimal den gleichen Fehler zu machen, Paul. Wissen Sie, was ich meine?«
Nein, ich habe keinen blassen Schimmer, und ich bin auch nicht in der Stimmung für Spielchen. Bereits das zweite Mal in dieser Woche bin ich um ein Haar ermordet worden, und die Cops kleben mir an den Fersen.
»Sie wollten mir etwas mitteilen?«, sage ich.
Harland, der gerade dabei ist, einen weiteren Putt zu berechnen, erstarrt. Das ist seine Art, Ärger zu zeigen. Er bestimmt, was wann besprochen wird. Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Ball zu und schlägt ihn direkt ins Loch, aus dem er allerdings gleich wieder herausspringt und nach rechts wegrollt. »Da, sehen Sie«, sagt er. »Ich halte mein Handgelenk nicht gerade.« Er unterbricht sein Spiel für einen Moment und schaut mich zum ersten Mal an, als wende er sich notgedrungen einem quengelnden Kind zu.
Er trägt ein strahlend blaues Hemd mit offenem Kragen, frisch gebügelte Hosen und auf Hochglanz polierte karamellfarbene Slipper. Das farblich auf die Schuhe abgestimmte Sakko hängt an der Tür.
»Während Sie mich hier warten ließen«, sagt er, »hatte ich die Gelegenheit, ein paar der jüngsten Zahlungsaufforderungen zu studieren. Ich habe daraus entnommen, dass ich Ihrer Firma im Monat April 1,2 Millionen Dollar an Honoraren überwiesen habe.«
Das könnte hinkommen.
»Ich gehe davon aus«, sagt er, »dass Sie gerne mein Anwalt sind.«
Ich schweige.
»Und ich gehe weiterhin davon aus, dass Sie es bleiben wollen.«
Ich breite die Hände aus. »Harland.«
»Ich möchte nur wissen, mit wem ich es zu tun habe, Herr Anwalt.« Er stellt den Schläger in einen Ständer und schlüpft in sein Sakko. »Spreche ich mit jemand, der für die Polizei arbeitet, oder mit meinem Anwalt?«
Ich denke einen Moment darüber nach. Ein Mensch mit so viel Geld ist jederzeit in der Lage, einen unter Druck zu setzen. Bisher hat er es nur noch nie so deutlich ausgesprochen.
»Ich wusste nicht, dass ich da wählen muss«, sage ich.
»Und wenn Sie es müssten?«
»Ich bin Anwalt, kein Cop.« Ich bin zu stolz, um vollständig zu kapitulieren, aber er hat bekommen, was er wollte.
Sein überlegener Gesichtsausdruck kehrt zurück. »Dann können wir reden.« Er schiebt sich dicht an mir vorbei, und ich folge ihm in sein Büro am Ende des Flurs.
 
Ein Arzt tritt aus Brandon Mitchums Zimmer und teilt McDermott und Stoletti mit, dass der Patient bereit für ein kurzes Gespräch ist. McDermott telefoniert gerade, ein Anruf von der Spurentechnik.
»Sieht so aus, als hätten wir Abdrücke an der Tür, Mike«, informiert ihn das Labor.
McDermotts Herz macht einen Hüpfer. Der Durchbruch – unter Umständen. Jedenfalls das Beste, was sie bisher haben.
Genau wie Riley es vorausgesagt hat.
»Okay, keiner geht nach Hause, bevor wir sie nicht durch den Computer gejagt haben.« McDermott drückt auf die Austaste seines Handys, bevor das Stöhnen am anderen Ende zu ihm vordringen kann. Er verkündet Stoletti die Neuigkeiten. »Endlich mal eine gute Nachricht.«
Brandon Mitchum liegt in einem Krankenbett, wach, wenn auch unter Beruhigungsmitteln. Sein Gesicht ist dick bandagiert, aber seine müde glänzenden Augen lugen über den Rand des Verbands und richten sich dann auf das Foto des Mannes hinter Harland Bentley.
Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, dann saugt Mitchum scharf die Luft ein. Das reicht ihnen als Identifikation.
»Er hat behauptet, er wäre ein Cop«, sagt Brandon und gibt das Foto zurück. »Er hatte eine Dienstmarke. Er hat gesagt … er hat gesagt, er wollte über Evelyn sprechen …«
Das Beruhigungsmittel tut seine Wirkung. Gut für ihn, schlecht für McDermott. Er streckt den Arm aus und berührt Brandon an der Schulter. Er braucht den Jungen heute Nacht, nicht erst morgen.
»Ich wollte ihn nicht reinlassen«, fährt Mitchum stockend fort. »Er hat sich reingedrängt.«
Richtig. Hat die Hand gegen die Tür gestemmt. Daher die Fingerabdrücke.
Brandon fragt: »Ist Evelyn tot? Stimmt das?«
Stoletti antwortet. »Ja, sie wurde ermordet.«
»Oh.« Mitchum schließt die Augen. »Und war es der gleiche Kerl?«
»Davon gehen wir aus, ja.«
Die Augen immer noch geschlossen, schluckt Mitchum und nickt. »Ich war als Nächster an der Reihe. Das hab ich gespürt.«
»Wir müssen genau wissen, was passiert ist, Brandon. So schwer Ihnen das auch fallen mag.«
»Ich weiß.« Seine Augen öffnen sich, schweifen zum Fenster. »Der Typ war ein Freak.«
»Fangen Sie ganz vorne an«, fordert ihn McDermott auf. »Er behauptet, er sei ein Cop. Er kommt rauf. Sie lassen ihn rein …«
»Ja, und bevor ich kapiere, was los ist, drückt er mir die Klinge gegen die Kehle und schiebt sich in meine Wohnung. Er zwingt mich …«, kurz versagt Brandon die Stimme, »zu Boden. Er – o Gott, der Kerl war wie von Sinnen. Er brabbelte unverständliches Zeug. Und wiederholte pausenlos meinen Namen. Brandon, Brandon, Brandon. Und dann: Sag mir, was du zu ihr gesagt hast, sag mir, was du zu ihr gesagt hast. Er wusste, dass ich mit Evelyn gesprochen habe.«
Brandon schüttelt abwesend den Kopf. McDermott ist plötzlich froh über die Beruhigungsmittel. »Sie machen das großartig«, versichert er ihm.
»Dann fing er mit dem Messer an.« Seine Hand zeigt auf eine Stelle unter dem Krankenhausnachthemd, in der Gegend seines Brustkorbs. »Er hat ziemlich präzise geschnitten. Wissen Sie, es sollte mich nicht töten. Es tat einfach nur weh.«
»Richtig. Verstehe.«
»Ich hab ihm gesagt, dass Evelyn nach Cassie, Ellie und Gwendolyn gefragt hat.«
Gwendolyn. »Gwendolyn Lake? Cassies Cousine?« Brandon antwortet nicht, der Alptraum hat ihn wieder im Griff. »Er hat gebrabbelt, Gwendolyn, Gwendolyn, Gwendolyn, plötzlich war er ganz aufgeregt. Was ist mit Gwendolyn, was ist mit ihr? Dann kam wieder das Messer.« Brandon zieht die Finger quer über seine Brust. »Ich hab geschrien, aber seine Hand war schon über meinem Mund. Ich weiß gar nicht, wie. Er hat mit der Hand meine Kehle umklammert, aber vor dem Schnitt hat er sie ganz schnell auf meinen Mund gepresst.«
McDermott muss daran denken, was Riley über seinen Kampf mit dem Angreifer berichtet hat – der Kerl wusste, was er tat. Und er hatte Routine darin. Es war ihm gelungen, sowohl Fred Ciancio wie auch Evelyn Pendry über lange Zeit hinweg zu foltern, ohne dass irgendjemand etwas davon mitkriegte. Keine leichte Übung.
»Dann hab ich ihm gesagt, was ich Evelyn über Gwen erzählt habe. Und von dem Streit.«
»Dem Streit.«
»Ja, damals während der Abschlussprüfungen zum Ende des Semesters – Sie wissen schon, Ende Mai, Anfang Juni -, ein paar Wochen vor den Morden. Gwendolyn war in der Stadt. Das tat sie öfter. Sie kam aus Europa, aus der Karibik, von wo auch immer angejettet, um mit Cassie und Ellie einen draufzumachen. Jedenfalls, Cassie und Gwen kamen nicht sonderlich gut miteinander klar. Sie waren sehr verschieden. Gwen war eher aggressiv, schätze ich. Ziemlich ruppig, wissen Sie. Jedenfalls, Cassie und Gwen hatten einen Riesenstreit, ein paar Tage vor den Examen. Ich meine, wir waren – also wir hatten – wir waren nicht gerade nüchtern …«
»Das ist mir egal, Brandon. Ihr habt also damals was geraucht oder geschnupft?«
Er nickt. »Wir haben Koks geschnupft. Und wir waren alle im Haus, Cassie, Ellie, Gwen und ich. Es war vielleicht drei Uhr früh, wir waren bisschen rumgezogen, und dann waren wir wieder im Haus …«
»In welchem Haus?«
»Oh. Gwendolyns Haus. Das Haus ihrer Mutter, das inzwischen ihr gehörte. Sie wissen ja, ihre Mutter war ein paar Jahre zuvor bei einem Autounfall gestorben. Ich glaube, Mrs. Bentley ist nach ihrer Scheidung dort eingezogen. Aber diese Sache spielte sich natürlich noch vor ihrem Einzug ab.«
»Fahren Sie fort, Brandon.«
»Jedenfalls, Ellie und ich hingen ziemlich bedröhnt unten auf der Couch, und plötzlich hörte man von oben wüstes Geschrei und Lärm wie von einer Schlägerei. Also, wir hatten alle ziemlich was eingefahren. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Ellie aufgewacht ist. Aber egal, das war ein richtiger Kampf, und als ich mich endlich aufgerappelt habe und mitkriege, was da abläuft, stürmt Cassie schon die Treppe runter und aus dem Haus. Sie springt in ihr Auto und fährt davon.«
»Warum haben die beiden sich gestritten?«, fragt Stoletti. Er zuckt mit den Achseln. »Weiß nicht. Cassie wollte nie darüber reden. Und, ehrlich gesagt, für mich hieß es am nächsten Tag wieder büffeln fürs Studium. Ich musste gute Noten schreiben. Für Ellie und Cassie spielte das nicht so eine Rolle. Sie hatten ohnehin Geld. Aber ich nicht. Ich musste mich echt ins Zeug legen, um die Prüfungen zu schaffen.«
»Sie haben also«, versucht McDermott die Sache zu beschleunigen, »über den Anlass tatsächlich nie was erfahren.«
»Genau. Und den ganzen Rest der Woche war Cassie noch schlechter drauf als sonst. Normalerweise war ich ziemlich oft mit ihr zusammen, brachte sie dazu, sich ein bisschen zu öffnen. Aber in dieser Woche ging das nicht. Ich hatte Angst, in Soziologie durchzufallen.«
»Und das haben Sie dem Eindringling erzählt.«
»Ja.« Brandon räuspert sich mühsam, das Gesicht schmerzvoll verzerrt. »Nicht so entspannt wie jetzt Ihnen, aber ja, ich hab ihm davon erzählt – von dem Streit, und dass ich nicht wusste, um was es ging. Dann fuhr er wieder auf mich los – was weißt du noch über Gwendolyn, was weißt du über Gwendolyn, erzähl’s mir, erzähl’s mir -, also, der Kerl war komplett abgedreht. Zwischenrein schnippelt er mit dem Messer an mir herum und drückt mir den Mund zu. Dieser Typ war total außer Kontrolle, und gleichzeitig hatte er die totale Kontrolle, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jedenfalls über mich.«
McDermott signalisiert ihm, fortzufahren.
»Ich erzähle dem Kerl also, dass ich Gwendolyn danach nie wieder begegnet bin. Ein paar Wochen drauf waren ja schon die Morde, und ich nehme an, es gab keinen Grund, sich noch mal zu treffen. Sie war Cassies Cousine und Ellies Freundin. Ich habe gar nicht erwartet, dass sie sich noch mal bei mir meldet.«
»Verstehe.«
»Und dann macht er mit Cassie weiter, der gleiche Scheiß. Erzähl’s mir, erzähl’s mir, erzähl’s mir. Mann, ich hatte echt keine Ahnung, was er eigentlich von mir wollte. Aber dann brabbelt er, Scheißvater, Scheißvater, Scheißvater, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.«
McDermott wippt auf den Zehenballen.
»Er steigert sich wieder in seinen Sermon rein. Erst sagt er, Scheißvater, sicher achtmal, dann sagt er, Evelyn, Evelyn, Evelyn, Evelyn, und dann, was hat sie gesagt, was hast du gesagt – also echt, so ein Irrer. Ich dachte, jetzt ist es gleich so weit, und er stößt mir die Klinge ins Auge oder schlitzt mir die Kehle auf. Dann hat mir noch mal in die Brust geschnitten.«
»Was haben Sie ihm über diese Sache mit dem Scheißvater erzählt?«
»Die Wahrheit. In der Woche nach dem Streit war Cassie, wie gesagt, völlig durch den Wind. Schlimmer noch als sonst, und Cassie war sowieso ein schwieriges Mädchen. Süß und liebenswert, aber zutiefst unglücklich. Jedenfalls hab ich zufällig mitgekriegt, wie sie in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim telefoniert hat. Ich kam zufällig vorbei und sie schreit ins Telefon: Du bist der Scheißvater! Ich geh zu ihr und frage: Was ist los? Aber sie wollte nicht darüber reden.«
Du bist der Scheißvater. »Und der Eindringling wusste davon, Brandon?«
»Ja, er wusste es. Sehr wahrscheinlich von Evelyn. Denn ich hab es ihr erzählt.«
Das klang plausibel. Brandon erzählt es Evelyn, und Evelyn erzählt es ihrem Angreifer, vermutlich unter der Folter. Und jetzt hatte der Angreifer die vollständige Version von Brandon hören wollen.
»Okay«, schaltet sich Stoletti ein. »Sie haben also dem Eindringling die Geschichte mit dem Scheißvater erzählt. Was dann?«
»Der Kerl sagt zu mir: Wer ist der Vater? Wer ist der Vater? Aber dann erstarrt er, hält mir den Mund zu und schaut zur Tür. Ich konnte es auch hören. Schritte. Dann hämmerte Mr. Riley an die Tür, und ich glaube, er rief Polizei, was ziemlich clever von ihm war.«
»Und was dann?«
»Ich witterte meine Chance. Er holte mit dem Rasiermesser aus, und ich glaube, er wollte mich umbringen, aber ich drehte mich zur Seite. So erwischte er bloß mein Gesicht. Dann rannte er weg, und Mr. Riley stürmte rein und rannte hinter ihm her, und dann – ja, das war’s wohl.«
McDermott nickt. »Was hat sich zwischen Riley und dem Eindringling abgespielt?«
Brandon schüttelt den Kopf. »Ich war so in Panik, ich habe echt keine Ahnung. Ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, als Mr. Riley wieder reinkam und die Polizei verständigt hat. Er hat mir ein feuchtes Handtuch aufs Gesicht gelegt und mit mir gesprochen.« Er stößt einen nervösen Seufzer aus. »Gott sei Dank war er da. Er hat mir das Leben gerettet.«
Die Tür schwingt auf, und ein Arzt tritt herein. Er bittet sie um eine Pause, damit er den Patienten untersuchen kann. McDermott nickt Stoletti zu. Sie sind noch nicht durch, aber es ist ein günstiger Moment für eine Unterbrechung.
Draußen auf dem Flur wandert Stoletti im Kreis, was sie immer tut, wenn sie intensiv nachdenkt. Normalerweise dreht sie zwei, drei Runden und produziert dann eine gute Idee.
»Vielleicht stimmt das mit Cassies Schwangerschaft doch«, sagt McDermott. »Hört sich ganz so an, als hätte sie sich am Telefon mit dem Vater des Kindes gestritten.«
Stoletti hält inne. »Der Täter hat Mitchum dasselbe angetan wie Ciancio und Evelyn Pendry. Die vielen kleinen Verletzungen. Aber dafür gibt es jetzt eine völlig neue Erklärung.«
McDermott stimmt zu. »Wir haben gedacht, er foltert sie zu seinem Vergnügen. Aber wir lagen falsch.«
Sie nickt. »Er hat sie befragt. Er wollte rausfinden, was sie wissen.«
»Das ist kein Nachahmungstäter, Ricki.« McDermott starrt hinauf zur Decke. »Diese Morde sollen etwas vertuschen.«
In Gottes Namen
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