38.
Kapitel
Leonid Koslenko bewohnt einen kleinen Bungalow im
Nordwesten der Stadt, das vierte Haus in der Straße, von Süden her
gesehen. Detective McDermott, der auf der gegenüberliegenden
Straßenseite positioniert ist, wirft einen letzten Blick durch sein
Fernglas auf das Haus. Dann späht er auf die Uhr. Es ist genau 2
Uhr 30, Dienstagmorgen.
McDermott schnappt sich das Funkgerät. »Code Gelb.
An alle Gruppenführer, ich wiederhole, Gelb.«
Aus nördlicher und südlicher Richtung beginnen
Beamte der Spezialeinheit RAID zu dem zweistöckigen Haus
vorzurücken, tief geduckt im Schatten der Nachbarhäuser, unsichtbar
von Koslenkos Haus aus. Zwei Teams zu je acht Männern umstellen
langsam den Bungalow, in dunkelblaue, feuerfeste Uniformen
gekleidet, ausgerüstet mit Kevlar-Helmen, kugelsicheren Westen,
Nachtsichtgeräten und hochmodernen automatischen Gewehren.
Die Hälfte jedes Teams schleicht sich zur Rückseite
des Hauses. Die Übrigen pirschen sich geduckt bis auf wenige
Schritte an die Vorderseite heran, immer unterhalb der
Fensterlinie.
McDermott hört das leise Knacken der in die Westen
eingebauten Mikros und dann ihre Stimmen.
»Team A in Position.«
»Team B in Position.«
McDermott atmet tief durch, dann gibt er über Funk
bekannt: »Code Grün. Ich wiederhole, Grün.«
Die Teams vereinen sich wieder vor der Eingangstür,
wo sie einen Rammbock einsetzen, um ins Haus einzudringen.
Einsatzwagen jagen von beiden Richtungen heran, stoppen mit
quietschenden Reifen, richten ihre Scheinwerfer auf das Haus und
tauchen das gesamte Grundstück in gleißendes Licht. Polizisten
strömen aus den Mannschaftswagen und riegeln die Umgebung ab.
Jetzt springt McDermott mit gezogener Waffe aus dem
Gebüsch. Im Inneren des Hauses leuchtet ein Licht nach dem anderen
auf. McDermott verharrt auf dem Gehsteig, die Pistole in der einen
Hand, das Funkgerät in der anderen. Er hebt eine Hand, um Stoletti
zurückzuhalten, die neben ihm steht.
»Erstes Schlafzimmer – klar.«
»Erstes Badezimmer – klar.«
»Küche ist klar.«
»Wohnzimmer – klar.«
McDermott vergisst zu atmen, wappnet sich für den
plötzlichen Lärm von Schüssen.
»Zweites Schlafzimmer – klar.«
»Zweites Bad – klar.«
»Drittes Schlafzimmer – klar.«
Er hat das Gefühl, die Luft schon seit Ewigkeiten
anzuhalten, sein Puls hämmert.
»Keller ist klar.«
»Alle Räume sind klar. Alles klar hier.«
McDermott rennt die Einfahrt hoch ins Haus. Ein
fauliger Gestank verpestet die Luft im Erdgeschoss, eine Mischung
aus Schweiß und dreckigen Socken. Die Wohnung ist komplett
verrottet. Farbe blättert von den Wänden. Die Küche wirkt, als wäre
sie zuletzt in den Siebzigern renoviert worden. Im Wohnzimmer
stehen nur wenige Möbel, wenn man die unzähligen Pizzakartons nicht
dazuzählt, die überall herumliegen, die vielen öldurchtränkten
Essenstüten und die mit Ketchup und Speiseresten überkrusteten
Teller, an denen sich Fliegen und andere Insekten gütlich
tun.
»Verdammt«, sagt er, als Stoletti neben ihn tritt.
»Er ist ausgeflogen. Und zwar schon eine ganze Weile.«
McDermott nimmt die Treppe nach unten. Der
Kellerraum ist leer bis auf eine Hantelbank, ein paar Gewichte und
ein paar verschlossene Kartons.
Nicht so die Wände. Sie sind vom Boden bis zur
Decke rundherum mit Korkplatten beklebt. Unzählige Dokumente und
Fotos hängen daran.
Stoletti ist hinter ihm die Stufen
hinuntergestiegen. »Was, zum Teufel, ist das?«
McDermott betrachtet die Objekte an der Wand. Ein
Zeitungsartikel aus der Watch, ein Bericht über die
Scheidung von Harland und Natalia Bentley. Eine Mahnung der
Finanzbehörde wegen nicht gezahlter Steuern. Ein Artikel über Paul
Riley, der den Dienst im Büro des Bezirksstaatsanwalts quittiert,
um eine Anwaltsfirma zu gründen. Der Ausdruck einer Internetseite
mit dem Titel »Russische Massenmörder«, die detailliert über die
Taten von Nikolai Kruschenko berichtet, der über zwei Dutzend
Prostituierte ermordete, bevor man ihn 1988 in Leningrad fasste.
Ein Magazinartikel von Anfang des Jahres über Paul Rileys Kauf
einer Villa, die früher Senator Roche gehörte. Unzählige aus dem
Internet heruntergeladene Webseiten über Terry Burgos, seine Morde
und seine Opfer. Das Schwarzweiß-Foto eines Mädchens, das neben
einem Baum steht.
Und so weiter und so weiter. Es sind hunderte von
Dokumenten.
»Das«, sagt McDermott, »ist sein Büro.«