51.
Kapitel
Da kommt er. Er kommt. Jetzt ist er auf unserer
Seite. Wieder auf unserer Seite. Er hat mit Mrs. Lake gesprochen.
Sie hat alles geregelt. Und jetzt wird er alles in Ordnung bringen.
So wie er es schon einmal getan hat.
Leo hebt die Zeitung vors Gesicht, als Rileys Wagen
vorbeifährt und in die Browning Street einbiegt.
Was hat sie ihm erzählt?
Weiß er alles?
Was wird er jetzt tun?
Folge ihm. Aber nicht zu dicht. Du musst abwarten
und beobachten.
Was soll ich als Nächstes tun? Ich fahre die
Browning Street hinunter, ohne einen Schimmer, wie ich weitermachen
soll. Ich habe darauf gesetzt, dass Koslenko mir folgt. Wenn mein
Verdacht bezüglich Natalia Lake zutrifft – dass sie die Fäden
zieht, an deren Ende Koslenko zappelt – und er mich bei meinem
Besuch überwacht hat, dann muss er denken, ich bin wieder auf
seiner Seite. Das – und meine Statements vor der Presse gestern
Nacht, Terry Burgos hätte definitiv die sechs Mansbury-Morde
begangen – muss ausgereicht haben, um ihn davon zu überzeugen, dass
ich wieder sein Verbündeter bin, sein Genosse, bei diesem
Vertuschungsmanöver.
Wo ist Shelly? Allein schon die Frage, die bloße
Möglichkeit, ich könnte in Bezug auf sie recht haben, versetzt
meinen Magen in heillosen Aufruhr.
Also, was soll ich tun? Dafür sorgen, dass Koslenko
persönlich Kontakt mit mir aufnimmt? Wie soll ich das anstellen?
Ich habe alles getan, um ihn anzulocken, von meinen öffentlichen
Kommentaren bis hin zum Besuch bei Natalia Lake. Gibt es noch
etwas, das ich tun kann?
Shelly könnte überall und nirgends versteckt sein.
Koslenko kennt eine Million Plätze, an denen er sie verbergen
könnte. Ich muss ihm Auge in Auge gegenübertreten. Ich muss ihn
irgendwie zum Sprechen bringen …
Ein Football hüpft direkt vor meinem Wagen über die
Straße, unmittelbar gefolgt von einem hinterherjagenden Jungen,
einem Teenager. Ich steige auf die Bremse und kriege den Wagen
knapp zwei Meter vor ihm zum Stehen. Er blickt zu mir auf, als sei
das Ganze mein Fehler.
Jesus, Bursche, denke ich, während sich mein
Adrenalinspiegel langsam wieder normalisiert. Solltest du nicht
in der Schule sein oder so was?
Aber dann, als der Junge auf der Straße mir gerade
den Mittelfinger zeigt, fällt mir die Antwort auf meine Frage
ein.
Gott. Natürlich. Er hat keine Schule. Es sind
Sommerferien.
Rileys Wagen kommt mit kreischenden Bremsen zum
Stehen. Leo verlangsamt das Tempo des Camry, er ist drei Fahrzeuge
hinter ihm. Aber kurz darauf, der Junge ist wieder zurück auf dem
Gehsteig, schießt Rileys Auto plötzlich wie eine Rakete nach vorn,
überholt einen Wagen und prescht über eine rote Ampel, während es
aus allen Richtungen wütend hupt.
Nein. Nein. Nein. Leo umkurvt die anderen Wagen und
hat Glück, es wird Grün. Er will Abstand halten, aber nicht zu
viel. Und wenn Riley weiter so rast, wird Leo ihn bald aus den
Augen verlieren. Nein, er darf ihn nicht verlieren.
Er biegt ab. Vor ihm, zwei Blocks weiter, schwenkt
Rileys Wagen gerade scharf nach rechts. Leo versucht, sich die
Straße zu merken, und tritt das Gaspedal ganz durch. Dann begreift
er. Riley will auf den Highway, in Richtung Süden.
Sie können sich nichts Abstoßenderes, nicht
Ekelhafteres vorstellen …
Ich jage über das Gelände des Mansbury Campus, die
Bilder wirken surreal, alles schaut ganz ähnlich aus wie damals und
ist doch ganz anders. Der Campus ist verlassen, genau wie vor
sechzehn Jahren. Nächste Woche werden die Sommerkurse beginnen. Die
einzig relevante Frage ist, werden sie eine weitere Leiche
finden?
Das Bramhall Auditorium erstreckt sich über den
halben Häuserblock, ein überkuppeltes Gebäude, zu dem eine breite
Betontreppe hinaufführt, der Eingang flankiert von Granitsäulen,
links und recht gepflegte Rasenflächen. Ich fahre an den
Straßenrand und schalte den Motor aus. Dann lange ich unter den
Sitz, lüfte die Matte und ziehe das Küchenmesser hervor, mit dem
Terry Burgos Ellie Danzinger das Herz herausgeschnitten und Angie
Mornakowski die Kehle aufgeschlitzt hat.
Zumindest nahm ich das bisher an. Als ich heute
Morgen das Messer aus seinem Fach in der Burgos-Vitrine unten in
meinem Keller geholt habe, war ich mir zugegebenermaßen nicht mehr
ganz so sicher.
Vor sechzehn Jahren stieg ich an fast der gleichen
Stelle aus meinem Wagen. Und mein Leben hat sich für immer
verändert.
Damals war der Ort geprägt von Polizisten und
Technikern, von Neugierigen, die sich gegen die Absperrung
pressten, und sechs toten Frauen, die im Inneren des Gebäudes
lagen. Falls ich recht habe, gibt es da unten diesmal nur ein
Opfer, und es ist vielleicht noch am Leben. Und keine Polizisten
weit und breit. Das würde Koslenko sicher so wollen. Ich durfte es
nicht riskieren, McDermott oder sonst jemanden mitzubringen.
Wenn du mitspielst, wird sie ebenfalls
leben.
Ich verstaue das Messer in der Innentasche meines
Sakkos. Ich besitze keine Feuerwaffe und bekam so kurzfristig auch
keine bewilligt. Ich hätte jede Menge Küchenmesser mitbringen
können, aber vielleicht, und nur vielleicht, kann mir dieses hier
nützlich sein.
Ich bete leise zu Gott, den ich schon so lange
sträflich vernachlässigt habe, und steige aus dem Wagen. Das
Gebäude wirkt verlassen. Diese Woche ist eine der wenigen im ganzen
Jahr, in der das Mansbury College wie ausgestorben ist.
Ich drehe mich um, als wollte ich noch einen
prüfenden Blick auf mein Auto werfen, und versuche dabei, die
Umgebung zu sondieren. Ist Koslenko schon hier? Beobachtet er mich?
Ich habe nur einen einzigen Versuch. Ich kann mir keinen Fehler
leisten.
Also ignoriere ich das Chaos in meinem Inneren und
steige langsam und mit selbstbewusster Haltung die Treppen
hinauf.
Es gibt drei Eingänge. Den Haupteingang vorne, den
Personaleingang im Osten, und die große Tür für Lieferanten auf der
Rückseite im Norden. Ich versuche es an der massiven
Haupteingangstür. Vergeblich. Sie ist verschlossen, was mich nicht
weiter überrascht.
Ich eile um das Gebäude herum zur Ostseite.
Leo fährt zur Nordseite des Hörsaalgebäudes – der
Rückseite – und lässt seinen Wagen auf dem angrenzenden Parkplatz
stehen. Er spurtet die Rampe hinauf und macht sich mit seinem
Spanner und dem kurzen Haken an der Eingangstür zu schaffen. Der
Riegel schnappt auf, er drückt die Klinke hinunter und schlüpft in
die Dunkelheit.
Die Tür an der Ostseite ist von innen verriegelt.
Keine Klinke, nur eine glatte, verrostete Stahltür. Selbst mit
einer Kanone könnte ich hier nichts ausrichten.
Ich laufe über das unebene, abschüssige Gelände zur
Rückseite des Gebäudes, und als ich um die Ecke biege, erstarre
ich.
Auf dem Parkplatz steht ein einzelner Wagen, ein
Toyota Camry.
Mit letzter Kraft und alle Bedenken in den Wind
schlagend, stürze ich auf die einzige Tür zu, am Ende einer
schmalen Rampe. Ich umklammere die Klinke, formuliere erneut ein
stummes Gebet, drücke sie nieder – und bin drinnen.
Rasch gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit
und suchen den weitläufigen Raum ab, eine Lagerhalle mit großen
Kühlschränken und Regalen voller Kartons bis unter die Decke. Ich
haste quer durch den Raum zu einer großen Küche mit Spülbecken,
Herden und weiteren Kühlschränken. Links von mir entdecke ich ein
Treppenhaus und einen Lift.
Im Dunkeln stürme ich das Treppenhaus hinauf und
stoße die Tür auf. Ein großer Salon, in Rot und Gold tapeziert, mit
antiken Möbeln, Tageslicht strömt durch die großen Fenster. Mein
Herz stockt. Ich kenne den Raum. Es ist das Vestibül, der
Empfangsraum des Auditoriums. Meine Rolle als beherrschte,
selbstbewusste Autoritätsfigur über Bord werfend, breche ich durch
eine weitere Tür, und auch diesen Ort erkenne ich wieder – ich
befinde mich direkt neben der großen Bühne des Auditoriums;
natürliches Licht strömt von oben in den Hörsaal. Ich jage durch
den Mittelgang, an den Stühlen vorbei, auf denen damals Detective
Joel Lightner und Chief Harry Clark saßen und mir die schrecklichen
Details der sechs Morde schilderten. Im Foyer wende ich mich nach
links zu der Tür, die in den Keller und zu den Vorratsräumen des
Hausmeisters führt.
Ich erreiche die Tür, eine Sicherheitstür, die
normalerweise immer verschlossen ist, und öffne sie leise.
Er erwartet mich schon.