16. Kapitel
»Warte, Shelly, warte kurz«, murmele ich und öffne die Augen. Ein kurzer Moment der Panik, der Verwirrung, dann hebe ich den Kopf und erkenne die Straße wieder. Dillard Street. Und ich erinnere mich dumpf daran, gestern eine junge Dame hierher begleitet zu haben, die sich Molly nannte. Ich spähe auf meine Uhr, vielmehr auf das, was von ihr zurückgeblieben ist, ein weißer Streifen Haut auf meinem Arm. Dann begehe ich den Fehler, meinen Hinterkopf zu betasten, der sich nass und schrecklich wund anfühlt. Irgendwie rappele ich mich schwankend auf und wische unwillkürlich über meinen Anzug, der feucht vom Liegen im regendurchweichten Müll ist. Aus dem, was ich da von meinem Smoking streife, könnte man einen halbwegs ordentlichen Salat zaubern.
Ich stehe in einer kleinen Seitengasse der Dillard Street, wo mir in den letzten Stunden ein paar Müllsäcke als Bett gedient haben. Zwar trage ich noch alle Kleider am Leib, aber das ist auch schon alles. Kein Geld, keine Schlüssel. Meine Brieftasche, die Kreditkarten und die Ausweise sind noch da, doch das Bargeld fehlt. Sie haben vermutlich befürchtet, nicht bis zum Limit gehen zu können, bevor ich die Karten sperren lasse. Sie: diese »Molly« und wer auch immer mir den Vorschlaghammer über den Schädel gezogen hat.
Mein Kopf dröhnt, aber ich werde es überleben. Ich atme tief durch, und der Müllgestank meiner Kleider dringt mir in die Nase.
Ich bin auf den ältesten Trick der Welt reingefallen. Jesus, wie kann man so dämlich sein? Ich lasse mich von dieser Frau in eine einsame Gasse locken, ein Mann mittleren Alters, abgefüllt bis zum Kragen. Ihr Partner hätte Clownsschuhe tragen können, und ich hätte ihn nicht kommen hören. Jedes zehnjährige Kind hätte mich ausrauben können.
Zumindest habe jetzt auch ich eine »Ich wurde in der City überfallen«-Story zum Besten zu geben.
Die gute Nachricht ist, ich bin nur knapp zwei Meilen von zu Hause entfernt. Normalerweise halte ich es nicht für sehr gefährlich, nachts hier herumzuspazieren; und wenn ich die Wahrscheinlichkeit bedenke, zweimal in der gleichen Nacht überfallen zu werden, fühle ich mich fast schon immun gegen jeden Angriff. Außerdem habe ich kein Bargeld und damit keine große Wahl.
Also mache ich mich zu Fuß auf den Weg, in der Hoffnung, dabei wieder nüchtern und etwas klarer im Kopf zu werden, doch die Schwerkraft zerrt bei jedem Schritt an mir. Eine Gehirnerschütterung oder ein Kater – oder beides. Die kühle Luft hilft gegen die Übelkeit, trotzdem ist es, als müsste ich gegen eine starke Strömung ankämpfen. Eigentlich möchte ich nach jeder hinter mich gebrachten Straße feiern, dass ich meinem Zuhause wieder ein Stück näher bin, doch ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, die Schmerzen, meine grenzenlose Dummheit und meinen gekränkten Stolz zu verdrängen – und dass ich beim Aufwachen von meiner Ex-Freundin geträumt habe.
Mir gehört ein Ziegelhaus an einer Straßenecke. Ein Einfamilienhaus, das ich vor sechs Monaten gekauft habe. Viel zu groß für mich allein – ein Zuhause für eine ganze Familie, hatte Shelly bei der Besichtigung argwöhnisch bemerkt. Aber mir hatte es gefallen, und es schien mir auch nicht unpassend, dass es vor der Jahrhundertwende einmal einem U.S.-Senator gehörte – vor der Wende zum 20. Jahrhundert, nicht zum 21., versteht sich.
Bevor ich dort einzog, residierte ich in einem Apartmenthochhaus in der Stadt, direkt am See. Von dort war es nicht weit bis zur Arbeit, und ich musste kaum Instandhaltungskosten zahlen, aber es fühlte sich für mich nie wie ein echtes Zuhause an. Es behagte mir nicht, dass der Türsteher jederzeit wusste, wann ich kam und ging. Nicht dass ich ein sonderlich aufregendes Leben geführt hätte. Aber mir fehlte einfach die Privatsphäre.
Jetzt habe ich ausreichend davon, mehr als ausreichend. Eintausendfünfhundert Quadratmeter, ganz für mich allein. Momentan bin ich zwar noch aus meinem eigenen Haus ausgesperrt, habe aber, in einem Moment seltener Hellsicht, beim Einzug einen Zweitschlüssel versteckt. Ich hatte panische Angst davor, meine Schlüssel zu verlieren, wenn auch nicht unbedingt auf diese Art.
Ich biege in die kleine Gasse neben meiner Garage ein, wo der Schlüssel unter der Regenrinne klemmt. Ich öffne das Gartentor und stolpere über mein Grundstück, das gemessen an Vorstadtgärten bescheiden, für innerstädtische Verhältnisse aber ganz ordentlich ist. Es ist überall von dichten Büschen umgeben, die glücklicherweise von allein wachsen, denn ich habe keine Ahnung von Gartenpflege. Auf der Rückseite der Garage hängt ein Basketballkorb, und ein kleiner gepflasterter Bereich dient als Mini-Spielfeld. Außerdem gibt es einen Kinderspielplatz mit Schaukel und Sandkasten, der Shelly vermutlich einen Riesenschrecken eingejagt hat. Ebenso gut hätte ich ihr auf der Stelle einen Heiratsantrag machen können.
Einfach nicht der richtige Zeitpunkt, so hat sie es formuliert.
Ein paar Stufen führen hinunter zu Kellertür. Und erst jetzt fällt mir siedendheiß ein, dass ich den Schlüssel nie ausprobiert habe. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob er überhaupt zu diesem Schloss passt. Tatsache ist, ich habe diese Tür überhaupt noch nie geöffnet, seit ich letzten Januar eingezogen bin. Ich hoffe wirklich dringend, dass es der richtige Schlüssel ist, ansonsten sehe ich ziemlich alt aus. Es gibt zwar Methoden, Schlösser zu knacken, aber das gehört nicht zu meinem Metier. Die einzigen Raubzüge, die ich begehe, sind die Rechnungen an meine Klienten.
Ich schiebe den Schlüssel ins Schloss und schicke ein leises Stoßgebet gen Himmel. Leider ohne Erfolg. Mrs. Riley, Ihr Sohn ist in praktischen Dingen immer noch so unbegabt wie eh und je. In Rechtsfragen mag er ein absolutes Ass sein, aber bitte, verschonen Sie ihn mit häuslichen Aufgaben. »Gottverdammt«, fluche ich leise.
Ich beschließe, dass es dieser Tür noch leidtun wird, dass sie mich aussperrt. Im Garten suche ich mir einen passenden Stein. Natürlich gäbe es zuverlässigere und viel effizientere Methoden, aber mein Kopf verlangt dringend nach einem weichen Kissen, also erinnere ich mich an meine bestenfalls durchschnittlichen Baseball-Künste und schmettere den Stein gegen die kleine Glasscheibe direkt neben dem Schloss.
»Verdammt«, schreie ich. »Mist.« Ich halte das rote Fleischstück, das mal meine Hand war, in die Höhe. Glassplitter stecken zwischen den Knöcheln, Blut rinnt in meinen Ärmel.
Tolle Nacht.
Ich greife durch das Loch und schiebe den Riegel zur Seite. Ich versuche mich auf das erleichternde Gefühl zu konzentrieren, endlich zu Hause zu sein, und nicht auf die neue lästige Aufgabe, die ich mir selbst geschaffen habe; ich werde eine neue Glasscheibe in die Tür einsetzen müssen. Es zählt immer als Verkaufsargument, wie stabil diese alten Häuser gebaut sind. Das ist auch wirklich prima, etwa wenn es darum geht, einen Hurrikan zu überstehen; aber versuchen Sie mal, in solchen Häusern eine verstopfte Toilette zu reparieren oder das ausgefallene Heizsystem wieder in Gang zu bringen oder mitten in der Nacht den Sicherungskasten zu finden. Außerdem habe ich nicht Jura studiert, um Handwerker zu werden. Ich habe studiert, damit ich einen bezahlen kann.
Der Keller ist riesig. In Kürze wird hier ein Freizeitparadies entstehen – mit Billardtisch, Dartscheibe, Saunalandschaft und einem großen Plasma-TV -, sobald ich die Zeit dazu finde; also schätzungsweise dann, wenn im Nahen Osten endgültig Frieden einkehrt. Über ein Dutzend ungeöffneter Kartons stapeln sich hier. Das Einzige, was ich bisher im Keller aufgebaut habe, ist mein sogenannter »Burgos-Schrein«. Eine Vitrine mit Trophäen, nur dass darin keine Pokale und Plaketten ausgestellt sind, sondern Tatwaffen, gekritzelte Notizen, grausige Fotos und Skizzen aus dem Gerichtssaal.
Das City-Magazin hat vor zwei Monaten eine Story über meinen Kauf dieses Hauses gebracht, in der der Burgos-Vitrine mehr Raum gewidmet war als dem gesamten Rest des Hauses. Ursprünglich sollte es eigentlich bloß ein bisschen Klatsch und Tratsch über jemanden werden, der das alte Anwesen von Senator Roche erworben hat, aber letztendlich geriet der Artikel zu einer Reportage über den Mann, der Terry Burgos zur Strecke gebracht hatte.
Nach Burgos Hinrichtung teilten die maßgeblichen Ermittler die Beweisstücke untereinander auf. In der Asservatenkammer lagerten noch alle möglichen Fotos und Erinnerungstücke, und wir stürzten uns darauf wie die Geier. Jeder der etwa ein Dutzend Mitglieder des Teams erhielt zumindest ein Beweisstück. Ich glaube, ein paar sind inzwischen sogar schon auf eBay zu ersteigern.
Die meisten davon habe allerdings ich eingesackt, vermutlich weil ich so was wie der Chef des Burgos-Teams war. Zu meiner Sammlung gehört der gekritzelte Originalzettel mit dem albernen Songtext, der Burgos als Vorlage für seine Taten diente. Dann gibt es da zwei Fotos, auf denen er in den Gerichtssaal hinein- und wieder hinausgeführt wird. Einen Artikel des Time Magazine, mit einem großen Foto von mir. Eine Aufnahme der Badewanne, in der Burgos Maureen Hollis ertränkt hat. Ein Protokoll der Befragung durch Detective Lightner, in der Burgos die Taten eingestanden hatte. Und, als Prunkstücke der Kollektion, zwei Waffen aus Terry Burgos’ Arsenal: das Messer, mit dem er Ellie Danzinger das Herz herausgeschnitten und die Kehle von Angie Mornakowski durchtrennt hat – ein gewöhnliches Küchenmesser mit einer etwa zwanzig Zentimeter langen Klinge. Und dann eine Machete, die Burgos nie zum Einsatz gebracht hat. Sie ist mein persönliches Lieblingsstück. Eine stabile, sechzig Zentimeter lange Machete mit einer Klinge aus gehärtetem Karbonstahl.
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. Das waren noch Zeiten. Verbrecher jagen, lauter kleine Puzzlelteilchen zusammenfügen, um den Täter zu überführen, und anschließend mit den Cops ein Bierchen trinken gehen. Jetzt bin ich so reich, wie ich es mir nie hätte träumen lassen, der Gouverneur will mich unbedingt zum Bundesrichter ernennen, und was tue ich – ich sitze hier und trauere der Vergangenheit nach. Manchmal starrt man so angestrengt auf das große Ziel, dass man ganz übersieht, wie viel Spaß man unterwegs eigentlich haben könnte.
Ich reiße ein Stück Karton von einer der ungeöffneten Kisten ab, finde eine Rolle Klebeband und versuche, das Loch in der Kellertür so gut wie möglich abzudichten. Es löst das Problem zwar nicht, verschafft mir aber das Gefühl einer zumindest provisorischen Versorgung. Dasselbe benötigen jetzt auch dringend mein Kopf und meine Hand. Ich entscheide mich für ein belebendes Schmerzmittel in einer konischen Flasche, ungeachtet dessen, dass es schon drei Uhr morgens ist, und mache mich auf den Weg nach oben.
In Gottes Namen
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