48.
Kapitel
Ich sitze auf dem obersten Treppenabsatz meines
Hauses, den Kopf gegen das Geländer gelehnt, und starre auf das
Bedienfeld der Alarmanlage. Der Alarm ist nicht aktiviert. Es
besteht auch keine Verbindung zum nahe gelegenen Polizeirevier.
Aber selbst in ausgeschaltetem Zustand kann ich fünf potentielle
Einbruchszonen im Haus überwachen und habe dazu noch die
Bewegungssensoren im Eingangsbereich und entlang der obersten
Treppenstufen. Sollte jemand versuchen, an einer dieser Stellen
einzudringen, blinkt die entsprechende Nummer am Bedienfeld auf.
Zwar wird dann weiter nichts geschehen – kein schriller Alarm, kein
Anruf bei der Polizei -, aber zumindest weiß ich Bescheid.
Zone eins ist der Vordereingang. Zwei die
Glasschiebetür. Drei die Kellertür. Vier und fünf die Fenster im
Erdgeschoss.
Mir fallen die Augen zu. Mein Magen revoltiert,
mein Schädel dröhnt, mein ganzer Körper ist jenseits der
Erschöpfungsgrenze. Gleich darauf öffnen sich meine Augen wieder,
so scheint es mir zumindest, und ich versuche, rasch die
Orientierung zurückzugewinnen.
Ich starre auf die Lämpchen am Bedienfeld, doch sie
sind immer noch dunkel.
Nachts um fünf nach eins trifft Harland Bentley
mit seinem Anwalt ein. Er war für Punkt ein Uhr bestellt, also ist
er zu spät, und McDermott überlegt, ob er das ansprechen soll. Das
Ganze könnte zwar auf eine gewisse Abweichung ihrer Uhren
zurückzuführen sein, aber McDermott vermutet, dass Bentley sich
bewusst verspätet hat. Er trägt einen blauen maßgeschneiderten
Anzug, der weit mehr als das Monatsgehalt eines Cops kostet, und
auch das scheint ihm eine kalkulierte Geste zu sein.
McDermott wird bis auf weiteres nur noch als
Zuschauer dabei sein. Nachdem man ihn aus dem Büro des Lieutenants
geschickt hat, haben der Commander, der Gouverneur und der State
Police Superintendent Edgar Trotter den überraschend unsinnigen
Beschluss gefasst, dass Letzterer die Vernehmung von Harland
Bentley durchführen wird, unterstützt von einem seiner Leute.
McDermott betritt den zentralen Observationsraum
mit erhobenem Kinn – er wird vor diesen Idioten nicht den Schwanz
einkneifen, er hat sich nichts zuschulden kommen lassen – und
postiert sich schweigend neben dem Commander. Im Vernehmungsraum
Eins zupft Harland Bentley sein Jackett zurecht und flüstert seinem
Anwalt etwas zu. McDermott kennt den Anwalt von irgendwoher. Ein
großer, gut aussehender Schwarzer in einem eleganten dreiteiligen
Nadelstreifenanzug. Die beiden wirken wie aus dem Ei gepellt,
überraschend frisch und gut frisiert für eine eilig einberufene
Vernehmung mitten in der Nacht. Sie überlassen nichts dem Zufall.
Auf ihren Auftritt sind sie gut vorbereitet.
Sie blicken auf, als Edgar Trotter den Raum
betritt, flankiert von seinem Lieutenant. Rasch erheben sie sich
aus ihren Stühlen.
»Harland«, sagt Trotter. Er nickt Bentleys Anwalt
zu. »Mason.«
Mason. Richtig, so lautet sein Name. Mason Tremont,
der Mann, der bis vor kurzem als US-Staatsanwalt für den
übergreifenden Gerichtsbezirk zuständig war, in dem auch die Stadt
liegt. Es überrascht McDermott nicht, dass Bentley so schwere
Geschütze auffährt.
Sie beginnen mit Beileidsbekundungen. Wie werden
Sie mit der ganzen Sache fertig? Wie geht’s dem Gouverneur? Wie
Ihrer Mutter? Oh Gott, das muss Abby hart getroffen haben.
McDermott mustert den Commander mit hochgezogenen
Augenbrauen. Was für ein Start in eine Vernehmung. Diese Kerle sind
alte Freunde. Harland Bentley hat Hunderttausende von Dollar in
Gouverneur Trotters Wahlkampagnen investiert, und Mason Tremont
wurde auf Fürsprache des Gouverneurs hin vom republikanischen
Präsidenten zum obersten Bundesstaatsanwalt befördert, denn auch
Tremont hat fleißig Wahlkampfspenden gesammelt.
Und jetzt wird der Sohn des Gouverneurs zwei der
engsten Verbündeten seines Vaters vernehmen.
Nachdem sich alle gesetzt haben, legt Mason Tremont
los. »Edgar, es versteht sich von selbst, dass wir alles in unserer
Macht Stehende tun werden, um zu helfen. Aber es gibt …«, er nickt
Richtung Harland und stößt dabei so etwas wie ein ungläubiges
Lachen aus, »es gibt einen Unterschied, ob man als Freund gebeten
wird, zu helfen, oder ob man Harland wie einen Verdächtigen
behandelt. Der Beamte – ich glaube, sein Name war McDermott – hat
bei uns den Eindruck erweckt, als habe man einen Verdacht gegen
…«
»McDermott wurde von dem Fall abgezogen«, sagt
Edgar Trotter. »Sie sprechen jetzt mit mir.«
McDermott strafft sich. Er kämpft gegen das
Verlangen an, Edgar Trotter scheitern und hilflos im Dunkel tappen
zu sehen, bis ihm keine andere Wahl mehr bleibt, als McDermott
hereinzubitten, um die Sache wieder hinzubiegen. Das wäre
unzweifelhaft eine große Genugtuung, aber mehr noch drängt es ihn,
einfach nur zu erfahren, was zum Teufel Bentley zu sagen hat.
Trotter beginnt mit den Fakten. Allerdings
formuliert er es so, als seien es bloße Verdachtsmomente, keine
Tatsachen: dass Harland mit Ellie Danzinger schlief; dass Harland
der Vater von Gwendolyn Lake ist; dass Cassie kurz vor ihrem Tod
schwanger wurde und eine Abtreibung hatte; und dass Leo Koslenko in
dem Haus von Mia Lake und ihrer Tochter Gwendolyn gearbeitet hat.
»Alles Informationen, die man uns zugetragen hat«, wie er es
nennt.
»Wissen Sie, wo Leo Koslenko sich aufhält,
Harland?«
»Nein. Ich kann mich kaum noch erinnern, wer dieser
Mann überhaupt ist, Edgar. Und ich habe ganz sicher nicht mit ihm
gesprochen, zumindest nicht soweit ich mich zurückerinnere.«
Trotter schiebt das Foto über den Tisch, das sie in
Fred Ciancios Schrank in einer Schuhschachtel gefunden haben –
Harland und die Reporter, Koslenko im Hintergrund.
»Es dreht sich um diesen Mann da, nehme ich an?«,
fragt Harland Bentley. »Und Sie sagen, er hat in Mias Haus
gearbeitet, nicht in unserem?«
Damit schafft er Distanz zu Koslenko.
Trotter neigt den Kopf zur Seite. »Haben Sie ihm
nicht geholfen, in diesem Land als Asylbewerber anerkannt zu
werden?«
Das verringert die Distanz wieder ein bisschen.
Eine gute Erwiderung, richtig platziert und gekonnt vorgetragen,
ohne jede Drohung, so, als sei er bloß neugierig.
»Wenn ich das getan habe, kann ich mich zumindest
nicht daran erinnern. Ich glaube, so was fiel mehr in Natalias
Zuständigkeitsbereich.«
Trotter lässt das einen Moment auf sich wirken.
Nickt langsam, sagt aber nichts. Eine gute Verhörtechnik. Schweigen
während eines Gesprächs erzeugt Unbehagen. Verdächtige haben die
Tendenz, die Stille zu füllen. Sie versuchen, sich zu rechtfertigen
und reiten sich dadurch immer tiefer hinein.
Aber Harland Bentley ist kein gewöhnlicher
Verdächtiger.
»Shelly war eine wundervolle junge Frau«, bemerkt
er. »Ich habe sie erst kürzlich getroffen.«
Trotter hört ihm zu, hält seinem Blick stand und
sagt: »Hatten Sie eine Affäre mit Ellie Danzinger kurz vor ihrem
Tod?«
Mason Tremont hebt die Hand. »Edgar, ich frage
mich, ob das wirklich nötig ist. Wir wollen gerne helfen, wichtige
Spuren zu verfolgen, aber wir reden hier über etwas, das bereits
Jahrzehnte zurückliegt.«
»Ich weiß das aufrichtig zu schätzen, Mason.«
Trotter nickt nachdrücklich, ohne Mason dabei anzusehen. »Aber Leo
Koslenko hat meine Schwester sicher nicht deshalb getötet, weil die
Vergangenheit irrelevant ist. Daher hätte ich gerne eine Antwort,
bitte.«
Der Anwalt legt eine Hand auf Bentleys Unterarm.
»Edgar …«
»Entweder er ist bereit, zu antworten, oder er ist
es nicht.« Trotter wirft seinen Stift auf den Tisch und lehnt sich
im Stuhl zurück. »Ich warte.«
Die Temperatur im Raum ist schlagartig
abgekühlt.
Tremont rückt seine Goldrandbrille zurecht. »Ich
habe meinem Mandanten empfohlen, nur relevante Fragen zum Fall zu
beantworten. Fragen, die ihn persönlich in den Schmutz ziehen
sollen, sind nicht relevant.«
»Wie schaut es mit Gwendolyn Lake aus, Harland?
Sind Sie ihr Vater?«
Tremont neigt leicht den Kopf. Das scheint ein
verabredetes Zeichen für seinen Klienten zu sein.
»Ja, das trifft zu«, sagt Harland.
McDermott nickt. Keine große Überraschung. Und auch
nicht weiter ungewöhnlich, dass er es eingesteht. Gwendolyn lebt
noch. Ein simpler Vaterschaftstest könnte die Frage klären. Er
wirft ihnen etwas hin, das sie auch ohne ihn in Erfahrung hätten
bringen können, und erweckt dadurch den Eindruck von
Entgegenkommen.
Edgar Trotter zieht ein Dokument aus seiner
Aktenmappe. McDermott stellt sich auf die Zehenballen, um einen
besseren Blick zu haben. Es ist der Brief, den sie in Koslenkos
Schlafzimmer gefunden haben. McDermott besitzt auch eine Kopie
davon.
Ich weiß, dass Sie von meiner Beziehung
zu Ellie wis sen. Und ich weiß von Ihrer Beziehung zu meiner Toch
ter. Wenn Sie was ausplaudern, werde ich das auch tun. Aber wenn
Sie schweigen, richte ich auf Ihren Namen einen Lehrstuhl am
Mansbury College ein. Ich benötige Ihre Antwort sofort.
Bentley lässt den Brief auf dem Tisch liegen, so
dass sein Anwalt mitlesen kann. Er mustert einen Moment schweigend
das Blatt, dann schnappt er es sich vom Tisch und studiert es
genauer. Tremont, der nicht länger mitlesen kann, lehnt sich
zurück.
McDermott beobachtet, wie Bentleys Augen sich über
das Blatt bewegen. Sein Mund steht offen, seine Augenbrauen
zittern. Als er den Brief erneut liest, beginnt er mit dem Mund die
gelesenen Worte zu formen, und sein Gesicht verzerrt sich in
wachsendem Entsetzen.
Irgendwas stimmt hier nicht. McDermotts Instinkt
schlägt an wie ein Bluthund.
»Mein Gott«, stöhnt Bentley.
»Dieser Brief wurde an Professor Albany geschickt«,
erläutert Trotter ohne jede Gefühlsregung. »Er hat bereits
zugegeben, ihn bekommen zu haben. Außerdem hat er gestanden, die
Anfrage mit einem Ja beantwortet zu haben.«
Tremont legt seinem Mandanten die Hand auf den
Arm.
Bentley springt aus seinem Stuhl auf und läuft in
eine Ecke des Raums, eine Hand über dem Gesicht.
»Vielleicht ist das der richtige Zeitpunkt für eine
kurze Unterbrechung«, schlägt Tremont vor.
Bentley wirbelt herum und starrt Trotter an.
»Wollen Sie damit sagen – dieser Lehrer – und meine Tochter?«
Trotter beantwortet seine Frage nicht. Stattdessen
sagt er: »Wir wissen, dass Sie sich an Ihren Teil der Vereinbarung
gehalten haben. Sie haben einen Lehrstuhl für Professor Albany
eingerichtet.«
»Natürlich, ja, ich …« Harland Bentley erstarrt
mitten im Satz. Sein Gesicht wendet sich langsam zur Decke, seine
Augen zucken, die Lippen bewegen sich kaum merklich, formen kaum
verständliche Worte.
»Ich möchte mich kurz mit meinem Mandanten
besprechen«, sagt Tremont.
Ja, irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht.
»O mein Gott, ich fasse es nicht«, murmelt Bentley.
»Ich fass es einfach nicht.«