39. Kapitel
Probier erst die Tür.
Das hat er aus seinem Debakel bei Brandon Mitchum gelernt. Aber wie zu erwarten, ist die Eingangstür verschlossen, also zieht er den Spanner und den kurzen Haken heraus und knackt das Schloss, dann schiebt er die Tür vorsichtig auf und ebenso leise wieder hinter sich zu. Jetzt, hinter der Eingangstür, schlüpft er aus seinen Schuhen und schleicht die Treppen hinauf.
Er zählt ein Apartment pro Stockwerk, während er langsam nach oben steigt. Er erreicht die oberste Etage und inspiziert die Tür – Standardschloss, vielleicht innen zusätzlich durch einen Riegel gesichert -, dann begibt er sich wieder hinunter zum Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock, damit Shelly Trotter nichts von ihm sieht, falls sie zufällig aus ihrem Guckloch spähen sollte, ätsch, ich sehe was, das du nicht siehst.
Er schaut auf die Uhr, es ist kurz nach vier, sie schläft und wird vermutlich weitere zwei, drei Stunden schlafen, also hockt er sich auf den Treppenabsatz und wartet.
Das Warten fällt ihm nicht schwer. Er ist gut darin. Er hat sechzehn Jahre lang gewartet.
 
Ich hieve mich aus dem Bett, obwohl ich keine Sekunde geschlafen habe. Gegen sieben sitze ich in meinem Wagen. Der Verkehr wird bereits zähflüssig. Ich überlege mir gerade ein fantasievolles Schimpfwort, um den Fahrstil der Frau im Auto vor mir zu beschreiben, da klingelt mein Handy. Die Anruferkennung verrät mir, dass Pete Storino von der Zoll- und Immigrationsbehörde dran ist, den ich um einen Gefallen gebeten habe.
»Pete, du bist früh auf für einen Staatsbeamten.«
»Allerdings. Also sag mir bitte nie, ich hätte mich nicht mächtig für dich ins Zeug gelegt, Riley.«
»Werd ich nicht tun, Pete. Versprochen »
Er kichert. »Und du hast das nicht von mir, verstanden?«
»Geht in Ordnung. Ich schweige wie ein Grab.«
»Okay. Also Gwendolyn Lake, ja? Du wolltest wissen, wann sie die Staaten verlassen hat?«
»Richtig.«
»Gwendolyn ist am Mittwoch, den 21. Juni 1989, außer Landes geflogen.«
21. Juni. Das war die Woche der Morde. Mittwoch. Zu diesem Zeitpunkt waren drei Frauen tot. Cassie wurde am darauf folgenden Sonntag getötet.
Gestern am See hat Gwendolyn gesagt, es hätten ebenso gut drei Monate wie drei Tage gewesen sein können.
»Wo flog sie hin?«, frage ich.
»Direktflug, Flughafen De Gaulle«, erklärt er.
Paris. Das ergibt Sinn. Als ich Gwendolyn gefragt habe, wo sie sich damals herumgetrieben hat, tippte sie zuerst auf die Riviera. Reich wie sie war, hatte sie dort womöglich ein Haus.
»Weißt du, wie lange sie dort geblieben ist?«, frage ich ins Blaue hinein.
»Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen, mein Freund. Bei Flügen von hier aus kann ich alte Quellen anzapfen. Aber wenn ich bei den Franzosen anrufe, läuft das über zu viele Ecken.«
»Klar, schon gut.«
»Vermutlich hat sie dort bei ihrer Familie gewohnt«, fügt er hinzu.
»Familie? In Frankreich?«
»Gwendolyn Lake ist französische Staatsbürgerin«, sagt er. »Wusstest du das nicht?«
Nein, das ist mir neu. Gwendolyn Lake ist in Frankreich geboren? Eigentlich nicht weiter verwunderlich. Diese Superreichen jetten um den Globus, besitzen Villen auf jedem Kontinent und können sich überall die beste medizinische Versorgung leisten.
Storino fährt fort. »Hier steht, geboren in – ich spreche das sicher falsch aus – Saint Jean Cap Ferrat. Am 8. September 1969. Jedenfalls könnte das die Länge ihres Aufenthalts erklären.«
»Wieso?«, frage ich. »Wann ist sie in die Staaten zurückgekehrt?«
»Lass mich nachschauen – 20. August 1992.«
»1992? Sie war drei Jahre weg?«
»Sieht so aus, oui.«
Ich bedanke mich bei Pete, schalte das Handy aus und versuche diese Information zu verdauen, während ich einen Typen abwimmle, der mir an der Kreuzung eine Zeitung andrehen will.
Gwendolyn Lake hat das Land in der gleichen Woche verlassen, in der Cassie und Ellie ermordet wurden, und ist drei Jahre nicht zurückgekehrt?
Haben wir unser Augenmerk auf die falsche schwierige junge Erbin gerichtet?
 
McDermott ruft zu Hause an, spricht mit seiner Mutter und mit Grace, erklärt ihnen die Lage. Nachdem er das hinter sich hat, streckt er die Arme und schüttelt die Spinnweben aus seinem müden Hirn. Techniker der Spurensicherung sind dabei, die Wände des Kellers zu fotografieren.
»Verdammt«, flucht er leise, nicht zum ersten Mal an diesem Morgen. Kaum haben sie den Täter, geht er ihnen prompt durch die Lappen. Und er ist sicher nicht nur eben mal kurz raus, irgendwelche Einkäufe erledigen. Sie haben das Haus schließlich mitten in der Nacht umstellt.
Er ist ausgeflogen.
Der Staub im Keller ist Gift für McDermotts Allergie. Er wischt sich pausenlos die Nase und fährt sich mit der Zunge über den Gaumen. Inzwischen hat er jedes Dokument an Koslenkos Kellerwand flüchtig studiert. Die Informationen sind säuberlich in Kategorien unterteilt. Die meisten Dokumente betreffen den Fall Terry Burgos oder Personen, die darin verwickelt waren. Harland Bentley. Seine Ex-Frau Natalia. Ihre Tochter Cassie. Terry Burgos. Paul Riley. Es gibt sogar ein paar Klatschspaltenfotos, die Riley mit seiner Freundin Shelly zeigen, der Tochter des Gouverneurs.
Eine weitere Abteilung an der Wand ist für Fotos von Frauen reserviert, die in ihrer aufreizenden Aufmachung wie Prostituierte wirken. Unter viele Fotos hat Koslenko Namen gekritzelt – oder zumindest die Namen, die sich diese Frauen während der Ausübung ihres Gewerbes gegeben haben. Roxy. Honey. Candy. Delilah.
»Jesus, das müssen über hundert Fotos sein«, murmelt er.
»Knapp daneben. Achtundneunzig«, sagt Stoletti. »Der Kerl steht auf Nutten.«
»Mike.« Powers, einer der Detectives, die zu ihrer Verstärkung eingetroffen sind, springt die Treppen herunter. In der Hand hält er einen Zettel. »Hab ich im Schlafzimmer gefunden.«
McDermott, der wie Powers Latex-Handschuhe trägt, nimmt ihn entgegen. Es ist die Fotokopie einer kleineren, getippten Notiz:
Ich weiß, dass Sie von meiner Beziehung zu Ellie wis sen. Und ich weiß von Ihrer Beziehung zu meiner Toch ter. Wenn Sie etwas ausplaudern, werde ich das auch tun. Aber wenn Sie schweigen, richte ich auf Ihren Na men einen Lehrstuhl am Mansbury College ein. Ich be nötige Ihre Antwort sofort.
McDermott liest die Notiz erneut, dann holt er tief Luft. Er kann förmlich spüren, wie sich eine Reihe krakeliger Linien in seinem Kopf zu glatten Kreisen fügen.
»Bentley hat Albany tatsächlich gekauft«, sagt Stoletti. »Und er hat mit Ellie geschlafen.«
»Und Albany hatte tatsächlich ein Verhältnis mit Cassie«, fügt er hinzu. »Jesus im Himmel.«
»Koslenko war Bentleys Kurier.« Auch Stoletti atmet tief durch. »Er hat für Bentley die Schmutzarbeit erledigt.«
McDermott denkt nach. Irgendwas daran wirkt nicht ganz schlüssig. Das Handy an seinem Gürtel klingelt. Ein Anruf vom Revier. »McDermott«, meldet er sich, aber der Empfang ist schwach, die Stimme des Detectives am anderen Ende ertrinkt im Rauschen. »Ich ruf dich zurück«, brüllt er. Er trabt die Stufen hinauf und verlässt das Haus.
 
Im Reden war er nicht gut. Aber er konnte gut zuhören. Zum Beispiel Gwendolyn und Mrs. Bentley in der Küche.
Das ist mein verdammtes Haus, sagte Gwendolyn.
Nein, es ist mein Haus. Alles gehört mir, bis ich es dir übereigne. Willst du den Vormundschaftsvertrag sehen?
Das ist nicht fair. Gwendolyn schlug auf den Küchentisch. Ich bin nicht mehr minderjährig. Ich will, was mir zusteht.
Mrs. Bentley sagte: Du bekommst es, wenn du mir bewiesen hast, dass du damit umgehen kannst.
Ihr verfluchten Bentleys. Ihr haltet euch immer für was Besseres. Aber weißt du eigentlich, Tante Nat, wo dein geliebter Gatte sich gerade rumtreibt? Und deine Tochter? Die entzückende kleine Cassie, dieses Wrack? Gwendolyn stieß ein hämisches Lachen aus.
Jetzt stolperten sie in sein Blickfeld, Mrs. Bentley hatte Gwendolyn am Arm gepackt. Gwendolyn versuchte sich loszureißen, aber Mrs. Bentley packte auch noch den anderen Arm.
Meine Familie geht dich überhaupt nichts an. Dann wandte sie sich plötzlich um und sah ihn da stehen. Sie ließ Gwendolyn los und trat auf ihn zu. Sie schwieg einen Moment. Leo wusste nicht, was er tun sollte.
Gefällt es dir hier, Leo?
Er nickte, ja.
Willst du ausgewiesen werden? Willst du zurück in die Sowjetunion? Zurück in dieses Heim?
Zurück in … War das eine Frage, oder hatte sie es schon beschlossen? Was meinte sie?
Dann kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Mach dich wieder an deine Arbeit.
Leo senkte den Blick. Er hatte Mrs. Bentley enttäuscht. Er drehte sich um und trottete zurück in den Hof, Scham brannte in seiner Brust.
Leo zuckt zusammen, als er Schritte aus dem Apartment im dritten Stock hört. Es ist halb acht. Sein Zeitplan geht auf. Er erhebt sich, streckt Arme und Beine, immer noch auf dem Treppenabsatz zwischen zweiter und dritter Etage.
Aus dem Apartment dringen vier schnelle Piepser, der Einbrecheralarm ist ausgeschaltet worden. Okay. Vermutlich ist im Flur ein Bewegungsmelder installiert, und man kann nicht mit seinem Kaffee oder einem Glas Orangensaft herumspazieren, ohne ihn auszulösen. Warum soll man ihn auch am Morgen anlassen? Man hat ja die Nacht heil überstanden.
So denkt ihr alle. Sobald die Sonne aufgeht, fühlt ihr euch sicher.
Leo, immer noch in Socken, stiehlt sich die Stufen hinauf. Er legt ein Ohr an Shelly Trotters Apartmenttür und lauscht. Irgendwo wird Wasser aufgedreht, dann ein leises Rauschen.
Sie nimmt eine Dusche.
Er schlüpft wieder in seine Schuhe. Dann holt er den Spanner aus seiner Tasche und macht sich an die Arbeit. Ein zusätzlicher Riegel ist an der Tür angebracht, einer mit Zylinderschloss. Er ist selbst erstaunt, wie gekonnt er mit dem Haken die winzigen Stifte des Schlosses auf Linie bringt und die Tür öffnet.
Das Wasser rauscht noch immer. Sie ist also noch unter der Dusche. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, solange sie nackt ist und auf rutschigem Boden steht, unfähig, sich zu verteidigen. Er stellt die Tasche mit der schweren Motorsäge neben der Couch ab, wo sie von den anderen Räumen aus nicht zu entdecken ist. Nur für den Fall.
Er weiß, wie er vorgehen muss – sich rasch in Richtung Bad bewegen, auf das Geräusch des strömenden Wassers zu, an der Tür lauschen, auf die verschiedenen Geräusche.
Das Wasser prasselt dumpf gegen irendetwas, vermutlich Plastik, die Tür einer Duschkabine oder ein Vorhang, keine Glastür …
Duck dich, wirf einen schnellen Blick rein, um ganz sicher zu sein, ein roter Vorhang, man kann nicht durchsehen, du kannst mich nicht sehen, Shelly, ich komme, Shelly, ich komme …
Schlüpf ins Bad, direkt zum Vorhang, reiß ihn auf, ihre Hände sind in ihrem seifigen Haar begraben, sie will reagieren, rutscht aus.
Sie gibt keinen Laut von sich.
In Gottes Namen
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