27.
Kapitel
Stoletti und ich warten auf dem Campus des
Mansbury College vor dem sogenannten grünen Gebäude. Es steht
inmitten einer großen quadratischen Rasenfläche, auf der die
Studenten in kleinen Grüppchen herumhängen, Frisbee spielen und
vielleicht ein wenig Gras rauchen, wenn gerade niemand
hinschaut.
»Den Weg hier runter, zwischen den beiden Gebäuden
durch«, sage ich, »da liegt das Bramhall Auditorium.«
Die Sonne ist rausgekommen, sie wärmt mein Gesicht,
und ich schwitze in meinem Anzug. Es ist ein wunderschöner Tag,
aber womöglich sehen die Teilnehmer der Sommerkurse das anders.
Während meiner Highschool-Zeit habe ich nur einmal an so was
teilgenommen. In jenem Sommer absolvierte ich einen
Schreibmaschinenkurs. Damals durften wir keine Shorts tragen, denn
selbst im Hochsommer galt die an katholischen Schulen übliche
Kleiderordnung, und wir schmorten im durch die Fenster
hereinströmenden Sonnenlicht. Einmal bemerkte ich gegenüber einer
Nonne, dass sich nirgendwo in der Bibel ein Einwand gegen
Klimaanlagen finden ließe. Sie nahm es weniger humorvoll, als es
gemeint war.
»Keine Fingerabdrücke in Ciancios Haus?«, frage
ich.
»Nein.«
»Und in Evelyns Wohnung?«
»Nichts.« Stoletti schiebt sich einen Streifen
Kaugummi in den Mund. »Der Typ hat kein Fitzelchen für die
Spurensicherung hinterlassen. An keinem der Tatorte. Hey, ärgert es
Sie eigentlich, dass der Kerl sich die zweite Strophe
vorknöpft?«
»Um die erste hat sich Burgos ja bereits
gekümmert«, erwidere ich.
»Genau das meine ich. Sollte er tatsächlich ein
Nachahmungstäter sein, dann gibt er sich nicht mit simplem Kopieren
zufrieden.«
»Fragen wir doch einfach ihn«, sage ich und deute
auf das grüne Gebäude, das Professor Albany in diesem Moment
verlässt, eine Tasche über der Schulter und angeregt mit einer
Studentin plaudernd. Wir treten in sein Blickfeld und warten
darauf, dass er die Unterhaltung mit der ihn anhimmelnden Studentin
beendet.
Sein Blick streift uns kurz, während er sich mit
großen Schritten auf dem Gehweg entfernt. Dann stockt sein Schritt,
er sieht zu mir zurück, und in seinen Augen blitzt Wiedererkennen
auf.
»Vermeiden Sie es möglichst, auf den Fall Burgos zu
sprechen zu kommen, verstanden?«, murmelt Stoletti.
Ich nicke Albany zu, dann schlendern Stoletti und
ich auf den Professor zu, der nur mäßig erfreut über unseren
Anblick scheint. Zwar trägt Stoletti ihre Dienstmarke in der
Jackentasche verborgen, aber sie hat diesen typischen großspurigen
Gang. Vermutlich hat er sie längst als Cop identifiziert.
»Mr. Riley«, sagt er, als sei es ein Schimpfwort.
Selbst aus der Nähe betrachtet, hat ihm die Zeit nicht viel anhaben
können. Der gleiche wilde Blick, ein Kinnbart mit mehr Pfeffer als
Salz, passend zum langen wirren Haar. Er scheint seinen Job
ziemlich locker zu nehmen und sich nicht allzu viel Stress damit zu
machen. Ich frage mich, warum sie den Kerl hier immer noch
beschäftigen.
Kleidungsmäßig ist er jedenfalls eine Klasse
aufgestiegen, wie mir auffällt. Er trägt ein karamellfarbenes
Sakko, dazu ein hellgelbes maßgeschneidertes Hemd und eine
Krawatte, die die Farben von Jackett und Hemd wieder aufgreift. Ich
habe ein Faible für gute Klamotten und schätze Qualität, aber man
sollte es nicht übertreiben. Elegant, aber unaufdringlich ist meine
Devise. Unser Mann hier wirkt ein bisschen herausgeputzt. Aber, Hut
ab, feinster Zwirn. Was zahlen die einem Professor
heutzutage?
Was mich erneut zu der Frage bringt, wie er es je
zu einer Anstellung auf Lebenszeit gebracht hat.
Ich stelle ihm Stoletti vor, und er führt uns
schweigend zu seinem Büro. Dabei passieren wir das Mahnmal, das
Harland Bentley für seine Tochter und Ellie Danzinger hat errichten
lassen. Wo sich früher ein kleiner Park befand, steht jetzt ein
Tempelchen mit vier Säulen, hinter dem sich weitläufige, gepflegte
Rasenflächen erstrecken, mit einem marmornen Brunnen und diversen
Betonwänden, auf denen Zitate von Gandhi, Bob Dylan, Mutter Teresa
und ähnlichen Leuten über Liebe, Friede und Verzeihen verewigt
sind.
Albanys Büro ist nicht übermäßig groß, kriegt aber
ordentlich Sonnenlicht ab. In puncto Ordnung allerdings erhält der
Mann die Note ungenügend. Überall fliegen Bücher herum, Papiere
sind wahllos zu Haufen gestapelt. Klassische Musik dringt aus der
Anlage im Regal hinter seinem Schreibtisch.
Das Genie bei der Arbeit, so in der Art.
»Heute Morgen habe ich den Artikel gelesen«, sagt
er und lässt sich hinter dem großen Eichenschreibtisch nieder.
»Bitte.« Er zeigt auf die beiden Ledersessel.
»Welchen Artikel meinen Sie?«, fragt Stoletti. Ich
bin kurz davor, genervt die Augen zu verdrehen, aber ich verkneife
es mir. Solche Routinefragen für Doofe sind ein schlechter
Einstieg. So was macht man, wenn man jemanden reinreiten will. Man
stellt sich ahnungslos und wartet darauf, dass derjenige sich
selbst eine Grube gräbt. Aber der Typ hier weiß genau, warum wir
hier sind. Ich bin mir sicher, dass Evelyn Pendry ihn aufgesucht
hat, und man muss nicht länger als eine Nanosekunde in die
Watch von heute Morgen gesehen haben, um zu wissen, dass
eine ihrer Reporterinnen gestern ermordet wurde.
»Haben Sie nach seiner Verurteilung noch mal mit
Terry gesprochen?«, frage ich.
»Nein.« Er verzieht das Gesicht, als hätte ich ihn
gefragt, ob er Läuse hat. »Nie wieder.«
»Professor«, sagt Stoletti, offensichtlich kurz
davor, mir ihren Ellbogen ins Gesicht zu rammen. »Kennen Sie eine
Frau namens Evelyn Pendry?«
»Das Mordopfer«, sagt er. »Die Reporterin. Ja, sie
hat mich kontaktiert.«
»Wann?«
»Letzten Freitag hat sie mich besucht.«
»Erzählen Sie mir davon.«
Er zupft an seinem Ohrläppchen. »Sie wollte
hauptsächlich Hintergrundinformationen. Welche Rolle ich damals
gespielt habe, solche Dinge.« Er nickt sachte mit dem Kopf und
spielt mit dem teuren Füllfederhalter auf seinem Tisch. Ich
studiere das Regal hinter ihm, kann aber kein Bild von einer
Ehegattin entdecken. Er trägt auch keinen Ring am Finger.
»Welche Rolle Sie gespielt haben«, wiederholt
Stoletti.
»Ich war einer der Zeugen, Detective. Aber das
wissen Sie sicher bereits. Und Mr. Riley wird Sie wohl auch
ausführlich über seine brillanten Leistungen ins Bild gesetzt
haben. Jeder hat dem triumphierenden Ankläger zugejubelt! Und alle
verachteten den Professor, der das Pech hatte, einen Massenmörder
zu beschäftigen.«
Ja, das bestätigt meinen Eindruck von damals. So
muss er es wahrgenommen haben. Nach Burgos’ Verhaftung haben wir
ihn gründlich in die Zange genommen. Überprüften seine Alibis,
durchsuchten sogar mit seiner Zustimmung sein Haus. Am Ende erwies
er sich als wertvoller Zeuge der Anklage, auch wenn er nicht sehr
erfreut über die ihm unterstellte Mitschuld war und nicht gerade
zimperlich mit ihm umgesprungen wurde.
»Bleiben wir beim Thema, Professor«, fordert
Stoletti. »Ich will genau wissen, was Evelyn Sie gefragt hat, und
was Sie darauf erwidert haben.«
»Wie gesagt, ging es nur um Hintergrundgeschichten
von damals. Und die kennen Sie ja bereits.« Er winkt ab, hält den
Blick aber weiter auf den Schreibtisch gesenkt. »Sie wollte
bestimmte Daten wissen. Sie fragte mich nach Terry, was für ein
Mensch er war. Und sie ließ sich von mir bestätigen, dass Cassie
Bentley und Ellie Danzinger beide an meinem Seminar über Gewalt
gegen Frauen teilgenommen hatten. Es ging eigentlich nur um die
genaue Abfolge der Ereignisse und die Verifizierung von
Fakten.«
»Sonst nichts.« Stoletti wippt mit dem Fuß, wirkt
aber davon abgesehen absolut ruhig.
»Das Ganze hat nicht lange gedauert.« Er seufzt und
blickt dann zu Stoletti auf. »Oh, und sie hat mich nach diesem Mann
gefragt. Sein Name war Fred, an den Nachnamen kann ich mich nicht
mehr erinnern.«
»Ciancio.«
»Ja, genau.« Er scheint überrascht, dass ihr der
Name etwas sagt. »Sie hat mich gefragt, ob ich ihn kenne oder
seinen Namen schon mal gehört hätte. Ich habe ihr erklärt, er sei
mir völlig unbekannt.«
»Und entsprach das der Wahrheit?«
Er schweigt kurz, dann schmunzelt er. »Natürlich.
Ich hatte den Namen des Mannes vorher noch nie gehört.«
Stoletti nickt und seufzt.
»Wie wurde sie ermordet?«, fragt Albany.
Stoletti lässt sich das einen Augenblick durch den
Kopf gehen. Ich beschließe, mich nicht einzumischen. Vielleicht hat
Stoletti ja eine weitere clevere Antwort parat. »Wir sind uns noch
nicht ganz sicher. Haben Sie eine Vermutung?«
»Ich bin nur neugierig.«
»Warum?«
Albany blinzelt mir zu, was Stoletti nicht
verborgen bleibt. »Ich denke, es könnte ein Eispickel gewesen
sein«, sagt er.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragt Stoletti. »Ein
Eispickel?« Albany lächelt sie an wie eine Studentin, die im
Unterricht nicht mitkommt. »Sollen wir es im Chor sagen, Mr.
Riley?« Er schließt die Augen und zitiert aus dem Gedächtnis. »An
ice pick, a nice trick, praying that he dies quick.«
Er öffnet die Augen und mustert sie mit zufriedener
Miene.
Ich hebe die Hände und deute einen stummen Applaus
an. Albany kann nicht wissen, dass Ciancio der Erste war und daher
den Eispickel abgekriegt hat. Evelyn war das Schnappmesser
vorbehalten.
»Sie glauben, der Mord steht in Verbindung mit dem
Song?«, fragt Stoletti.
»Wer weiß?« Er nickt in meine Richtung. »Aber ich
nehme an, das ist der Grund für Mr. Rileys Anwesenheit. Soweit ich
gehört habe, ist er in letzter Zeit eher im privatrechtlichen
Sektor erfolgreich. Evelyn Pendry sucht mich auf, erkundigt sich
nach Terry Burgos, kurz darauf wird sie ermordet, und kurz darauf
sitzt Mr. Riley persönlich vor meinem Schreibtisch.«
»Haben Sie eine bestimmte Vermutung in dieser
Angelegenheit?«, will sie wissen.
»Nein, ich bin nur Lehrer«, antwortet er. »Terry
studierte die Worte eines verwirrten Highschool-Schülers und
entdeckte darin göttliche Handlungsanweisungen. Wiederholt sich
jetzt was Ähnliches? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Terry
eine ganze Menge Websites gewidmet sind.«
»Die durchkämmen wir bereits«, sagt sie. »Und Sie?
Werfen Sie ab und zu einen Blick darauf? Auf die Websites, meine
ich?«
»Ich habe sie mir tatsächlich angeschaut. Wenn dort
Terrys Morde an Frauen glorifiziert werden, gehört das in meinen
Unterricht.«
»Sie setzen den Kurs immer noch fort?«, frage
ich.
Er lächelt mich an. »Und er ist populärer und
wichtiger als je zuvor. Haben Sie kürzlich mal in Hip-Hop-Texte
reingehört? Dort wird mehr denn je das Prügeln und Vergewaltigen
von Frauen gefeiert. Teilweise ist davon die Rede, so brutalen
Verkehr mit Frauen zu haben, dass das Innere ihrer Vagina zerstört
wird.«
Stoletti nickt ihm zu. »Und was halten Sie
persönlich davon?«
»Ich finde es abstoßend. Aber als Kulturphänomen
zugegebenermaßen auch faszinierend. Wir beschränken uns in meinem
Unterricht übrigens immer auf die erste Strophe des Songs«, fügt er
hinzu. »Sie benennt die Opfer – natürlich nicht mit Namen, aber was
sie Tyler Skye angeblich angetan haben. Mädchen, die ihn
zurückwiesen, die sich über ihn lustig gemacht haben. In der
zweiten Strophe ist das anders – dort richtet sich die Zeile mit
dem Eispickel auch gegen einen Mann. Einige zielen speziell auf
Frauen. Wieder andere auf kein bestimmtes Geschlecht. Und an keiner
einzigen Stelle wird erklärt, warum er sie tötet. Nichts darüber,
dass er zurückgestoßen oder verraten oder beleidigt worden wäre.
Die zweite Strophe beschreibt nur, wie die Morde ausgeführt
werden.«
Eine zutreffende Beobachtung. Die zweite Strophe
ist weniger persönlich.
»Wir brauchen Kopien von den Arbeitsunterlagen
Ihres Kurses.« Stoletti überlegt einen Moment. »Und eine Liste der
Studenten, die ihn in den letzten Jahren besucht haben.«
»Die Kursunterlagen sind kein Problem.« Der
Professor zuckt mit den Achseln. »Aber das mit den Namen der
Studenten könnte schwierig werden. Da müssen Sie mit der Verwaltung
reden. Es gibt schließlich Datenschutzgesetze, oder?«
Keiner von uns antwortet. Albany dreht sich auf
seinem Stuhl, greift in einen Schrank hinter sich und zieht drei
Aktenordner mit Kursmaterialien heraus. Stoletti mustert mich mit
hochgezogenen Augenbrauen. Albany schiebt ihr das Paket über den
Tisch zu und fragt: »Brauchen Sie sonst noch etwas?«
Ich kann sehen, dass sich seine anfängliche
Nervosität gelegt hat und er jetzt wieder das alte arrogante
Arschloch ist. Gut. Dann wollen wir mal.
»Ja, da ist noch eine Sache«, sage ich. »Sie dürfen
uns alles erzählen, was Sie und Evelyn Pendry besprochen
haben.«
Er blickt mich an, als hätte er das bereits
getan.
Ich starre ihm direkt in die Augen. Er ist zwar
nicht gerade ein Fan von mir, aber ich kriege ihn schon noch dazu,
dass er sich mir anvertraut. »Professor, wir besitzen Notizen von
Evelyn über das Gespräch mit Ihnen. Wir wissen genau, worüber Sie
mit ihr gesprochen haben. Also schießen Sie los.«
Albany blinzelt in die Ferne, lehnt sich in seinem
Sessel zurück und schlägt die Beine übereinander. Dann verschränkt
er die Arme vor der Brust. Eine typische Abwehrhaltung. »Wenn Sie
ihre Notizen haben, was wollen Sie dann noch von mir?«
»Sie sind am Zug, Professor. Entweder Sie sagen uns
jetzt die Wahrheit oder Sie fahren fort, uns zu belügen.«
Aus Albanys Gesicht weicht alle Farbe. Er hat schon
einmal meine Verhöre und Anschuldigungen über sich ergehen lassen
müssen. Und es hat ihm gar nicht geschmeckt.
»Möglicherweise …« Albanys Kehle ist offenbar
plötzlich wie zugeschnürt, was jeden Versuch, Gelassenheit
auszustrahlen, zunichte macht. Sein smartes Grinsen hat sich längst
verflüchtigt. »Möglicherweise sollte ich einen Anwalt
hinzubitten?«
»Ich bin Anwalt«, sage ich.
»Hey, Professor«, schaltet sich Stoletti ein. »Das
ist Ihr Büro. Sie können uns jederzeit rausschmeißen. Dann kommen
wir eben später wieder. Platzen vielleicht mitten in Ihren
Unterricht. Und ich werde meine Handschellen mitbringen.«
»Hören Sie zu«, sage ich. »Sie haben gegenüber
einem Polizeibeamten falsch ausgesagt. Das ist eine Straftat. Aber
wenn Sie jetzt mit uns zusammenarbeiten – und ich meine jetzt
gleich auf der Stelle -, dann haben Sie damit Ihre Aussagen
berichtigt. Also keine Straftat. Sollten Sie uns allerdings bitten,
jetzt zu gehen, bleibt Ihre Aussage so bestehen. Und ist damit
falsch.«
Der Professor lächelt bitter und stößt ein
trockenes Lachen aus, bevor er sich erhebt und hinter seinem
Schreibtisch auf und ab zu tigern beginnt. »Sie machen mir zum
Vorwurf, was mit diesen Mädchen passiert ist.« Er schaut mich an.
»Ich weiß es. Das tun alle. Ich habe Studenten darüber aufgeklärt,
wie erniedrigend Frauen heutzutage in den Medien dargestellt
werden, und plötzlich bin ich der Sündenbock für alle Gewalttaten
gegen Frauen. Der Einzige, der sich bemüht hat, dagegen etwas zu
unternehmen, ist jetzt im ganzen Land, in sämtlichen akademischen
Kreisen dafür berüchtigt, es befördert zu haben.«
Er winkt wütend ab. Seine Augen werden feucht. »Und
jetzt schlägt erneut jemand zu, und wieder gibt man mir die Schuld
dafür.«
Da ich schon einige Zeit als Verteidiger arbeite,
bringe ich mehr Verständnis für seine Argumente auf als damals als
Staatsanwalt. Er hat recht. In gewisser Weise habe ich ihm die
Schuld gegeben. Wie alle. Er hat diesen Wahnsinnigen mit Material
gefüttert, das ihn dazu brachte, sechs Frauen zu töten.
»Wir warten«, sage ich.
Er lässt sich Zeit, seufzt einige Male tief auf,
fährt sich mit der Hand übers Gesicht und schüttelt dann ausgiebig
den Kopf. »Ich habe der Reporterin gesagt, dass ich keine Ahnung
von dem habe, was sie wissen will«, sagt er ruhig. »Cassie hat
gegen eine ganze Reihe innerer Dämonen gekämpft. Welche, weiß ich
nicht genau. Von außen betrachtet, hatte sie alles. Aber da gab es
irgendein Problem, mit dem sie nicht fertig wurde. Sie hätte das
beliebteste Mädchen auf dem Campus sein können, aber Ellie war ihre
einzige Freundin. Ja, ich kannte sie etwas näher. Und, ja, ich traf
mich gelegentlich auch privat mit Studenten. Aber solche Details
waren mir nicht bekannt.«
Stoletti ist klug genug, ihn nicht zu unterbrechen,
und wir schweigen, bis uns klar wird, dass er fertig ist. Zumindest
für den Moment. Denn ich bin mir sicher, da ist noch mehr, auch
wenn ich keine Ahnung habe, was. Natürlich habe ich vorhin
geblufft. Wir besitzen weder Notizen von Evelyns Gespräch mit
Albany noch mit sonst irgendjemand. Wir tappen völlig im Dunklen.
Mir fiel nur ein bestimmter Ausdruck in seinen Augen auf, und
darauf habe ich reagiert.
»Sprechen wir über die Details«, versuche ich
es.
»Aber ich habe doch gerade gesagt, ich weiß nichts
über die Details.« Er hebt flehend die Hände. »Weder weiß ich, ob
sie schwanger war, und noch viel weniger, ob sie eine Abtreibung
hatte.«
»Fahren Sie fort«, sage ich instinktiv. In meinem
Job lernt man, seine Gefühle zu kontrollieren. Ich will, dass
er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, nicht Stoletti
oder ich. Stoletti hat ihren Notizblock gezückt und kritzelt
beiläufig etwas hinein.
Schwangerschaft? Abtreibung?
Cassie Bentley?
Ich spüre ein Brennen in meiner Brust. All das ist
absolut neu für mich.
Der Professor, völlig in sich zusammengesunken,
schüttelt nur den Kopf. Er hat uns nichts mehr zu sagen. Und
diesmal glaube ich ihm.
»Wer hat Evelyn von diesen Dingen erzählt?«, will
ich wissen. »Wie kam sie darauf, Ihnen diese Fragen zu
stellen?«
»Keine Ahnung. Sie ist Reporterin. Wahrscheinlich
hätte sie es mir selbst dann nicht gesagt, wenn ich danach gefragt
hätte.«
Damit hat er vermutlich recht. Jesus, Evelyn hat
mir gegenüber nichts von diesen Dingen erwähnt. Andererseits – habe
ich sie auch nie wirklich zu Wort kommen lassen.
»Hatte Cassie je einen Freund?«, frage ich, und mir
wird dabei leicht flau im Magen. Von allen Anwesenden müsste ich
diese Frage eigentlich am besten beantworten können.
Damals kursierte das Gerücht, sie wäre lesbisch.
Außerdem spielten die näheren Umstände ihres Privatlebens ohnehin
keine große Rolle, da wir in ihrem Fall keine Anklage
erhoben.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwidert
Albany.
Stoletti wirft mir einen Blick zu, und ich zucke
mit den Achseln. Sie holt tief Luft, dann schnippt sie dem
Professor ihre Karte hin und sagt das Standardsprüchlein auf:
Falls Ihnen noch was einfallen sollte, rufen Sie mich bitte
an. Ich verlasse den Raum als Erster, laufe den Gang entlang,
eine Treppe hinunter und aus der Tür, ohne genau zu wissen, wo ich
bin.
Allerdings habe ich eine ziemlich klare Vorstellung
davon, wo ich als Nächstes hinmuss. Auf meinem Handy wähle ich
Shellys Nummer.
»Hast du heute Nachmittag schon was vor?«, frage
ich sie.