9.
Kapitel
Die Qualität der Bilder auf dem Fernsehschirm ist
deutlich schlechter, immerhin sind sie auch schon acht Jahre alt.
Oben rechts ist das Datum eingeblendet: 1. Juni 1997.
Carolyn Pendry, in einem blauen Kostüm und mit
cremefarbener Seidenbluse, hat professionell die Beine
übereinandergeschlagen und einen Notizblock im Schoß. »Danke für
Ihre Bereitschaft, mit mir zu sprechen, Mr. Burgos«, beginnt
sie.
Schnitt auf ihn. Der verurteilte Mörder Terry
Burgos hockt zusammengesunken da, in einem orangefarbenen Overall.
Sein schütteres Haar ist ordentlich gescheitelt, sein Gesicht rund
und aufgedunsen, von der übermäßigen und ungesunden Gefängniskost.
Seine Augen liegen tief in den Höhlen und sind von durchdringendem
Schwarz; ansonsten ist seine Miene ausdruckslos.
»Mr. Burgos, in vier Tagen sollen Sie hingerichtet
werden. Das Büro des Revisionsanwalts hat gegen Ihren Willen erneut
Berufung beim Bundesgericht eingelegt. Was sagen Sie dazu?«
Burgos blinzelt und blickt beiseite. Er leckt sich
über die Lippen.
»Sind Sie bereit zu sterben, Mr. Burgos?«
Sein Körper reagiert, er zuckt ein wenig, und eine
Art Lächeln umspielt seine Lippen, als belustige ihn eine lange
zurückliegende Erinnerung. Seine Augen sind immer noch in die Ferne
gerichtet. »Woher wissen Sie, dass ich sterbe?«
»Wollen Sie damit sagen, Sie können nicht
sterben?«
Sein Ausdruck wird ernst, die Augen weiten sich.
Als träume er im Wachzustand.
»Mr. Burgos?«
»Einen Körper kann man töten. Aber nicht die
Wahrheit.«
Eine Pause. Vielleicht erwägt sie einen
Themenwechsel. Ihr Gegenüber macht ihr die Sache nicht gerade
leicht. Es ist, als spräche man mit einem Kind.
»Hatten diese Frauen den Tod verdient?«
Burgos lehnt sich im Stuhl zurück. Ein zufriedener
Ausdruck erscheint in seinem Gesicht. Als wäre die Reporterin gar
nicht anwesend. »Das hab ich nicht zu entscheiden.«
»Wer hat das zu entscheiden?«
»Na, wer schon.« Burgos fängt an, mit dem
Oberkörper zu schaukeln, der Stuhl bleibt dabei fest am Boden
verankert. Vor und zurück, das erste Anzeichen körperlicher
Aktivität.
»Gott entscheidet«, sagt Carolyn Pendry. »Hat Gott
Ihnen befohlen, diese Frauen zu töten?«
»Klar hat Er das.« Burgos unterstreicht seine
Antwort durch ein Rucken mit dem Kopf.
»Sie haben gesagt, Ellie Danzinger sei ein Geschenk
des Himmels, Mr. Burgos. Was …?«
»Gott hat sie mir gegeben.« Das Schaukeln seines
Körpers wird schneller.
»Wie hat Gott das getan?«
Burgos hebt die Arme, um seine Worte zu untermalen.
Seine Hände schneiden durch die Luft, die Kette tanzt zwischen den
Handgelenken. »Ihr denkt alle, ich bin verrückt, weil ich Dinge
sehe, die ihr nicht seht. Aber deswegen bin ich noch lange nicht
verrückt. Ihr glaubt an den Schöpfer und die Wiedergeburt Christi,
aber wenn Jesus wirklich wiederkäme, würdet Ihr Ihm nicht
glauben.«
Schnitt auf die Reporterin Pendry. Sie macht ein
nachdenkliches Gesicht.
»Ihr würdet Ihn für verrückt erklären.« Burgos
schaukelt unaufhörlich.
»Hat Tyler Skye Ihnen befohlen, diese Frauen zu
ermorden?« Jetzt zieht Burgos die Knie an die Brust und stellt die
Füße auf die Kante des Stuhls. Die Arme um die Beine geschlungen,
wippt er wie ein Ball vor und zurück.
»Hat …?«
»Gott hat das getan.« Er nickt emphatisch.
»Tyler Skyes Song hat Sie nicht dazu veranlasst,
diese Frauen zu töten?«
»Tyler war bloß ein Bote. Genau wie ich.«
»Mr. Burgos, dem Song nach hätten Sie sich am Ende
selbst töten müssen. Das hat Tyler Skye doch in der letzten
Zeile gefordert, oder?«
Burgos atmet tief ein. Blinzelt träge. Schaukelt
und schaukelt.
»Warum haben Sie sich nicht selbst getötet, Mr.
Burgos? Warum haben Sie stattdessen Cassie Bentley
umgebracht?«
Als wäre er von einem undurchdringlichen Nebel
umgeben, antwortet er nicht.
»Sie haben berichtet, Cassie Bentley hätte Sie
gerettet, Mr. Burgos. Was wollten Sie damit …?«
»Cassie hat mich gerettet. Gott hat mir gesagt,
dass ich noch nicht fertig bin. Und dann hat er mir Cassie
geschenkt.«
Den Blick an die Decke gerichtet, beginnt er, vor
sich hin zu summen.
»Mr. Burgos, hatte Ihr Anwalt unrecht, als er Sie
als psychisch gestört bezeichnete?«
»Psychisch gestört. Psychisch gestört.« Burgos
bricht in ein Kichern aus.
»Mister …«
»Was soll das sein? Psychisch gestört?« Plötzlich
runzelt er die Stirn, fixiert einen Punkt, konzentriert sich. »Was
ist das?«
»Psychisch gestört«, erklärt die Reporterin ruhig,
»bedeutet, dass Sie nicht in der Lage sind, die Vorgänge in Ihrem
Kopf zu steuern.«
»Das ist doch bei jedem so.«
»Es bedeutet, Sie können nicht zwischen Recht und
Unrecht unterscheiden.«
»Ist bei jedem so.«
»Mr. Burgos, würden Sie die Morde an den Mädchen
noch einmal begehen, wenn Sie die Gelegenheit dazu hätten?«
»Sie noch mal töten.« Mitten in der Bewegung hält
er inne. Die Augen bilden schmale Schlitze, starren ins Leere, die
Schultern hat er schützend hochgezogen. Die Kamera zoomt nah auf
sein Gesicht.
»Ich werd jetzt schlafen gehen.«
»Wollen Sie meine Frage nicht beantworten?«
Burgos erwidert nichts, und schließlich friert sein
abwesendes Starren auf dem Bildschirm ein.
Das Bild schrumpft und wandert an den Rand der
Mattscheibe. Die Moderatorin Carolyn Pendry, acht Jahre älter,
blickt mit kritischem, professionellem Blick in die Kamera.
»Auf den Tag genau vor fünfzehn Jahren wurde
Terrance Demetrius Burgos zum Tode verurteilt. Die Jury wies einen
Antrag seines Anwalts, ihn nur für bedingt schuldfähig zu erklären,
zurück und verhängte in fünf Fällen die Höchststrafe. Mein kurzes
Gespräch mit Mr. Burgos vor acht Jahren war das einzige und letzte
Interview, das er je gab.«
Der Kamerawinkel wechselt, und Carolyn Pendry nimmt
eine neue Position ein. »Hat Terry Burgos die gewalttätigen Zeilen
von Tyler Skyes Song wirklich als Gottes Auftrag verstanden? Hat er
den Tod für seine Taten verdient? Die Debatte dauert bis heute an.
Meine Meinung in diesem Punkt jedoch ist eindeutig. Ein Mensch, der
provozierende, spätpubertäre Gedichte als Botschaft des
Allmächtigen auffasst, lebt nicht in unserer Welt. Terry Burgos
wollte töten, der gleichgültigen Gesellschaft eins auswischen, und
sein Gehirn hat nach einer Rechtfertigung dafür gesucht.«
Eine dramatische Pause. Die Kameraperspektive
wechselt erneut. »Die gängige juristische Definition von
Schuldunfähigkeit passte nicht auf Terry Burgos, denn ihm war
bewusst, dass er mit seinen Taten gegen das Gesetz verstieß. Das
bedeutet aber noch lange nicht, dass er wirklich schuldfähig war.
Terry Burgos litt unter einer massiven paranoid-schizophrenen
Störung und hat deswegen getötet. Sein Wissen, dass diese
Handlungen gegen das Gesetz verstießen, ändert nichts an dieser
Tatsache.
Terry Burgos hatte es verdient, eingesperrt und
therapiert zu werden. Den Tod hat er nicht verdient.« Sie nickt.
»Das war das Sunday Night Spotlight mit Carolyn …«
In dem düsteren Raum, zusammengekauert in einer
Ecke, die vom einzigen Fenster aus uneinsehbar ist, legt Leo die
Fernbedienung beiseite und starrt auf das verglimmende Fernsehbild,
das einem schwarz-weißen Flimmern weicht. Verglimmen und Flimmern,
Flimmern und Verglimmen. Er zieht die Beine an die Brust und hält
den Atem an. Mit zusammengepressten Augenlidern lauscht er auf
jedes noch so leise Geräusch, lauscht und lauscht.
Die Stille des Hauses dröhnt in seinen Ohren.
Ich bin nicht wie er.
Er springt auf, als das Telefon klingelt. Sein
Blick zuckt durch den Raum, während das Klingen sich wiederholt.
Der Anrufbeantworter springt an. Leo hört seine eigene monotone
Stimme, die den Anrufer bittet, eine Nachricht zu hinterlassen,
gefolgt von einem langen, quälenden Piepton.
»Leo, hier ist Dr. Pollard. Sie haben jetzt schon
zwei Sitzungen versäumt und unsere Anrufe nicht beantwortet. Nehmen
Sie regelmäßig Ihre Medikamente, Leo? Wir haben doch darüber
gesprochen, wie wichtig das ist.«
Ich vertrau dir nicht. Ich vertrau dir nicht mehr.
»Ich werde Ihnen meine Privatnummer geben, Leo. Es ist wirklich
unerlässlich, dass Sie mich anrufen.«
Leo vergräbt den Kopf zwischen den Beinen. Er
wartet darauf, dass der Arzt endlich zu reden aufhört und die
Maschine sich abschaltet. Als endlich wieder Stille einkehrt, hebt
er den Kopf.
Ich bin nicht wie er.
Er holt tief Luft. Denkt darüber nach.
Ich bin besser.