8. Kapitel
Strafanstalt Marymount, eine halbe Stunde vor Mitternacht. Das Zuchthaus steht isoliert inmitten der Landschaft. Ein fünf Hektar großes Gelände, umgeben von acht Meter hohen Stahlzäunen, oben bepackt mit Rollen von rasiermesserscharfem Stacheldraht. Vollzugsbeamte observieren die Strafanstalt rund um die Uhr von einer Zufahrtsstraße aus. Die gepflegten Rasenflächen sind mit gewichtsempfindlichen Bewegungssensoren gespickt und werden von Wachtürmen aus mit Scheinwerfern abgeschwenkt; es befindet sich je ein Turm auf jeder Seite des achteckigen Zellentrakts im Zentrum der Anlage. Letztes Jahr hat jemand einen Fluchtversuch gewagt, schaffte es aber nicht mal bis zum Zaun, bevor ihm ein Scharfschütze aus hundert Meter Entfernung das Knie zerschoss.
Einen Kilometer vor dem eigentlichen Anstaltsgebäude bremse ich vor dem mittelalterlich wirkenden Tor. Eine gewaltige Stahltür, in die mit gotischen Lettern der Name des Gefängnisses eingeätzt ist. Ich lasse das Fenster herunter und lasse die stickige, feuchte Luft herein, höre in der Ferne die Rufe der Demonstranten.
»In Ordnung, Mr. Riley.« Der Wachposten händigt mir die beiden Ausweise für Trakt J aus. Einen, um ihn an den Rückspiegel zu hängen, den anderen hefte ich mir ans Hemd. »Fahren Sie langsam«, fügt er hinzu, und zeigt auf die lange gepflasterte Straße vor mir. »Einer hat sich mal vor ein Auto geworfen.«
Ich befolge seinen Hinweis und folge gemächlich der schmalen Straße, die durch die vielen am Rand parkenden Medienfahrzeuge noch enger geworden ist. Weiter vorne, bei der gewaltigen Einfahrt des Gebäudes, liegen zwei Camps, durch die Straße und zwei Dutzend Bezirkssheriffs in Kampfmontur voneinander getrennt. Das östliche Areal bietet Raum für die Todesstrafengegner, etwa einhundert Menschen, die sich bei Kerzenlicht zu Kreisen formiert haben. Man sieht betende Priester unter ihnen, während andere im Kreis marschieren und Schilder über den Köpfen tragen wie Streikposten. Ein junger Mann mit Pferdeschwanz auf einem provisorischen Podium aus Holzkisten brüllt in ein Megaphon. »Warum töten wir Menschen, um zu zeigen, dass es Unrecht ist, Menschen zu töten?«, verkündet er unter dem begeisterten Applaus seiner Anhänger.
Ihnen gegenüber tummelt sich eine andere Gruppe: Die Befürworter der Todesstrafe – besonders im Fall von Terry Burgos. Auf einem zwischen zwei Stangen aufgespannten Transparent sind die Namen der sechs Opfer von Burgos’ Blutorgie zu lesen. Die Befürwortergruppe ist wesentlich kleiner, was daran liegt, dass sie in der öffentlichen Diskussion ohnehin die Nase vorn haben – in der gesamten Nation und besonders hier. Wir exekutieren gerne Menschen in diesem Staat.
Ein Beamter wirft einen Blick auf den Ausweis hinter der Windschutzscheibe, dann lässt er mich das Fenster ganz herunterfahren und erneut meine Papiere vorzeigen. Jetzt ist der Demonstrationslärm ohrenbetäubend, ein Duell zwischen Megaphonen und Sprechchören. Der Wachmann sucht meinen Namen auf seiner Liste. »Okay, Mr. Riley«, sagt er. »Fahren Sie durch dieses Tor, dort wird man Sie dann weiterleiten.« Der Posten macht jemand ein Zeichen, und langsam gleiten die Torflügel auseinander.
Eine Hand hämmert gegen die Wagentür. Ein paar Reporter versuchen, in meinen Wagen zu spähen und einen Blick auf einen der geladenen Zeugen zu erhaschen. Ich lasse den Cadillac sanft anrollen, während die Reporter neben mir herlaufen und mir Fragen zurufen. Ich verstehe nur Bruchstücke. Einer von ihnen fragt mich, was ich hier will, was mir zunächst albern erscheint, denn schließlich war ich der Staatsanwalt, der die Jury dazu bewogen hat, die Todesstrafe zu verhängen. Aber als ich mir die Frage noch einmal gründlicher durch den Kopf gehen lasse, weiß ich selbst keine rechte Antwort darauf.
Ich fahre durch die Toröffnung, und die Reporter bleiben zurück. Ein paar Gebäude weiter winkt man mich auf den Besucherparkplatz. Ich laufe durch die drückende Hitze auf eine von Wachposten flankierte Tür zu. Ein untersetzter Vollzugsbeamter hält sie für mich auf, und ich betrete den frostig klimatisierten Empfangsbereich. Eine Gruppe Uniformierter hängt in der Lobby herum, raucht und unterhält sich. Einer von ihnen erkennt mich und grüßt. Ich antworte mit dem üblichen Schön, Sie zu sehen, das für Leute reserviert ist, deren Namen ich vergessen habe. Ich tu das nicht gern, denn natürlich durchschauen sie mich ohne Ausnahme. Ich weiß das, weil früher die Leute das Gleiche mit mir gemacht haben.
Ich fahre runter ins Tiefgeschoss und treffe wie üblich als Letzter ein. Alle anderen bestellten Zeugen sind schon anwesend, und alle tragen sie ihre Namensschildchen. Unter ihnen sind auch drei oder vier Elternteile der von zu Hause abgehauenen Mädchen oder Prostituierten in steifen, schlecht sitzenden Anzügen und Kleidern. Ich habe mich ihnen gegenüber immer respektvoll verhalten, schließlich haben sie ihre Töchter verloren, aber in Wahrheit hatten sich die meisten von ihnen schon lange vorher von ihren Kindern verabschiedet. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihnen zu sagen, was ich schon damals gerne losgeworden wäre: Hätten Sie sich ein wenig mehr Zeit für Ihre heranwachsenden Töchter genommen, wären sie womöglich nicht auf der Straße geendet, als willkommene Beute eines Serienkillers. In ihren Gesichtern spiegelt sich ein gewisser Ernst, aber auch ein Gefühl von Wichtigkeit, das ihnen hier durch die allgemeinen Respektsbekundungen kurzzeitig zuteil wird. Immerhin sind sie amtlich bestellte Zeugen der Hinrichtung des berühmtesten Verbrechers der jüngeren Geschichte dieses Staates. Wie aufregend für sie.
Ich entdecke Maureen und David Danzinger, und mir wird flau. Nie werde ich ihre Gesichter vergessen, kurz nachdem sie ihre Tochter Ellie identifiziert hatten, die gerade ihr zweites Studienjahr in Mansbury absolvierte. Sie waren sofort aus Südafrika zurückgekehrt, als sie es erfuhren, konnten es aber nicht glauben, bis sie ihre Tochter tot auf der Bahre liegen sahen, mit einem riesigen klaffenden Loch dort, wo früher ihr Herz gewesen war. Sie hatten das ganze Jahr in der Stadt verbracht, auf den Prozess gewartet und dann keinen Tag der Verhandlungen versäumt.
Maureen Danzinger tritt auf mich zu und legt mir die Hand auf den Arm. Es ist jetzt mehr als sieben Jahre her. Sieben lange Jahre Warten auf diesen Tag, in der Hoffnung, dass er eine Art Abschluss bringt, obwohl sie in ihrem Herzen nie wirklich daran geglaubt hat. Ihr Haar ist ergraut, ihre Augen liegen tief in den Höhlen, und sie hat deutlich an Umfang zugelegt – aber vielleicht tröstet sie der Gedanke, dass der Mörder ihrer Tochter verurteilt wurde und in weniger als einer Stunde hingerichtet wird. Menschen denken so, wenn sie ein nicht enden wollender Schmerz peinigt. Sie brauchen Hoffnung. Niemand kann ihnen ihre Tochter zurückgeben, also konzentrieren sie sich auf erreichbare Ziele – wie die gerechte Strafe für den Mörder. Das wird den Knoten nicht lösen, aber vielleicht ein wenig lockern.
Ich begrüße ihren Ehemann David. Er trägt einen eleganten schwarzen Anzug, wie man ihn zu einer Beerdigung tragen würde, was ich interessant finde, da wohl niemand dem Hingerichteten wirklich nachtrauern wird, zumindest niemand in diesem Raum.
Joel Lightner nähert sich. Er grinst. Der Ex-Detective, der den Fall gelöst hat. Oder besser, dem der Fall samt Lösung in den Schoß gefallen ist, wie er selbst nach ein paar Drinks zu viel zugegeben hat.
»Bentley kommt nicht?«, fragt er eine Spur enttäuscht.
Er meint die Familie der zweiten Studentin, die ermordet wurde. Cassandra Bentley, Tochter von Harland und Natalia Lake Bentley. Ich schüttle den Kopf. Harland ist inzwischen Klient meiner privaten Anwaltskanzlei, wir sprechen mindestens einmal in der Woche miteinander, streifen dabei die Hinrichtung von Terry Burgos aber nur am Rande.
»Die Aasgeier hocken einen Raum weiter«, zischt mir Joel verächtlich zu. Das gilt den Reportern, die das große Los gezogen haben und sich hier auf dem Gelände befinden. Gleichzeitig ist es für ihn eine willkommene Gelegenheit, die Werbetrommel für sein neues Geschäft als exklusiver Privatermittler zu rühren. Bestimmt wird er den Medienleuten ein paar saftige Brocken hinwerfen.
Ich schiele nach rechts durch das Plexiglasfenster, hinter dem die Reporter an ihren Drinks nippen und Kekse kauen. Die Bestimmungen des Gefängnisdirektors sind eindeutig: Reporter haben Zutritt, dürfen aber nur mit Zeugen sprechen, die sich freiwillig dazu bereit erklären. Er hat sie bis zum Beginn der Vorstellung sogar in einen eigenen Raum verbannt. Im Moment halten sich keine Zeugen bei ihnen auf, was aber auch daran liegen kann, dass ich spät dran bin. Wahrscheinlich haben sie schon alles, was sie brauchen.
Joel knufft mich leicht in die Seite. »Weißt du, was seine Henkersmahlzeit war?«
Ich schüttle den Kopf, obwohl ich es weiß.
»Tacos«, verkündet er strahlend.
Um 11.45 Uhr werden wir in den Raum für bestellte Zeugen geführt. Er ist kaum größer als ein Wohnzimmer, ohne jeden Schmuck; grau gestrichene Wände, zwei Sitzreihen, die hintere Reihe eine Stufe erhöht. Erst weiß niemand so genau, wo er sich hinsetzen soll, dann stürzen sich alle auf die hintere Reihe, als könnte sie eine gewisse Distanz zum Geschehen gewährleisten. Ich lasse den Angehörigen der Opfer den Vortritt und erwische am Ende einen Platz in der ersten Reihe zwischen Joel und Carolyn Pendry, einer Fernsehreporterin von Newscenter 4. Von meinem Platz aus habe ich freie Sicht auf das vom Boden bis zur Decke reichende Fenster zum Nachbarraum, das im Moment noch von einem grünen Vorhang verhüllt ist.
Mich beschleicht das merkwürdige Gefühl, im Kino zu sitzen; als hätte ich mich gerade auf meinem Platz gemütlich eingerichtet und würde jetzt darauf warten, dass sich der Vorhang öffnet. Es gibt einen Tisch mit Wasserkrügen und Kaffee – wer braucht in dieser Situation noch Koffein? -, aber sonst keine Erfrischungen. Joel Lightner hat mich gestern tatsächlich gefragt, ob er Popcorn mitbringen soll.
»Haben Sie nachher schon was vor?«, flüstert mir Carolyn Pendry, die Reporterin, mit bebender Stimme ins Ohr. Sie ist eine der vielen hübschen Journalistinnen der Stadt, groß und blond, mit hohen Wangenknochen. Sie ist komplett geschminkt und frisiert, genau wie die anderen Reporter, die später ihren Kommentar in die Kamera sprechen werden. Sie will einen Witz machen, versucht cool zu wirken. Tatsächlich werden Joel und ich hinterher zusammen ein Steak essen gehen, aber das werde ich ihr nicht auf die Nase binden.
Carolyn beugt sich zu mir herüber. »Was hat er Ihnen gestern gesagt?«
»Kein Kommentar.« Als gute Journalistin weiß Carolyn, dass Burgos mich gestern zu sich gebeten hat. In diesem Staat wird der zum Tode Verurteilte in den letzten drei Tagen vor der Hinrichtung in einen Bereich verlegt, den sie »Deathwatch« nennen – vier direkt an die Todeskammer angrenzende Zellen, wo er rund um die Uhr unter der Beobachtung von Vollzugsbeamten steht, die in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten. Dort können die Verurteilten zwei Besucher pro Tag empfangen. Ich war sein einziger Besucher. Mein Aufenthalt dauerte nicht länger als fünf Minuten.
Die nächsten Augenblicke hier im Zuschauerraum sind etwas befremdend. Die Strafvollzugsbehörde hat zwar ein strenges Reglement für den Ablauf der Hinrichtungen aufgestellt – vom letzten Gespräch mit dem Geistlichen, der letzten Mahlzeit, dem »Todesmarsch« aus der »Deathwatch«-Zelle in den Trakt J bis zum offiziellen Anruf des Commissioners, wegen möglicher Gründe für einen Aufschub -, aber eine Handhabe dafür, wie man einem Mann beim Sterben zusieht, gibt es nicht. Wir rutschen unruhig auf unseren Stühlen herum. Besonders die Reporter, die über das Ganze berichten müssen, fühlen sich unwohl in ihrer Haut. Freilich springt bei der Sache garantierte Sendezeit für sie heraus und anschließend vielleicht noch eine Sondersendung über die verübten Verbrechen oder allgemein zum Thema Todesstrafe, aber dennoch bereitet ihnen das Ganze kein sonderliches Vergnügen.
Um zehn vor zwölf teilt sich der Vorhang vor dem Fenster, ein Vollzugsbeamter zieht ihn per Hand auf. Neben mir zuckt Carolyn zusammen. Die Zeugen schnappen nach Luft, stöhnen, sogar ein kurzes Aufschluchzen ist zu vernehmen. Die Menschen in der hinteren Reihe blicken auf den Mann, der ihre Töchter ermordet hat.
Es ist ein großer Raum, in dessen Mitte eine kleine Kammer steht. Eine blassgrün gestrichene achteckige Box, etwa ein Meter achtzig breit und zwei Meter fünfzig hoch. Der Eingang besteht aus einer Stahltür mit Gummidichtungen, die mit einem großen Sperrrad verriegelt ist. An den übrigen sieben Seiten befinden sich Fenster, so dass alle im Beobachtungsraum den Verurteilten gut sehen können.
Terry Burgos trägt nichts außer weißen Boxershorts. Er sitzt auf einem Metallstuhl, mit Lederriemen über Ober- und Unterschenkeln, Armen, Hüften, Brust und Stirn. Ein Stethoskop mit einer Verlängerung nach draußen ist an seiner behaarten Brust befestigt, damit ein Arzt Burgos’ Tod bestätigen kann, ohne die Gaskammer betreten zu müssen.
Das mit dem Stirnriemen ist neu. Sie haben ihn eingeführt, nachdem sich ein Typ während der Erstickungskrämpfe den Kopf an einer Stahlstange hinter dem Stuhl blutig geschlagen hat. Unser Staat trägt gewissenhaft Sorge dafür, dass ein Verurteilter sich nicht selbst bewusstlos schlägt, und wir ihn ordnungsgemäß exekutieren können.
Burgos, ein dicklicher Mann in Unterhosen, an einen Stuhl geschnallt, den Blicken der Zuschauer ausgesetzt, gibt ein klägliches Bild ab, doch offensichtlich scheint ihm das nichts auszumachen. Er zeigt so gut wie keine Regung. Lässt seinen Blick langsam von Zuschauer zu Zuschauer wandern, mit großen erstaunten Kinderaugen. Die letzten sieben Jahre hat er in vollständiger Isolation verbracht, und vielleicht hat dieser Moment sogar etwas Stimulierendes für ihn.
Unter Burgos’ Stuhl befindet sich eine Schüssel, die eine Mischung aus Schwefelsäure und destilliertem Wasser enthält. Darüber hängt in einem Gazesäckchen ein Pfund Zyankalikapseln. Sobald der Direktor das Signal gibt, betätigt der Vollzugsbeamte neben der Gaskammer einen Hebel, das Zyanid fällt in die Flüssigkeit, und eine chemische Reaktion setzt Zyanwasserstoffgas frei.
Tatsächlich sind es drei Hebel, die simultan von drei Wärtern betätigt werden. Zwei der Hebel bewirken überhaupt nichts, während der dritte die Kügelchen in die Säure senkt. Keiner der drei Wärter muss heute Nacht in dem Bewusstsein zu Bett gehen, derjenige gewesen zu sein, der den Mann getötet hat. Dem Staat mangelt es vielleicht an Mitleid mit seinen Mördern, aber nicht mit seinen Exekutionskommandos.
»Ich bete zu Gott, dass er nicht die Luft anhält«, murmelt Carolyn. Offenbar hat sie ihre Hausaufgaben gemacht. Wenn Burgos gleich einen tiefen Atemzug von dem Gas nimmt, wird er innerhalb von Sekunden ohnmächtig und kann friedlich sterben. Hält er dagegen die Luft an und wehrt sich, befallen ihn höchstwahrscheinlich Krämpfe, und das Ganze kann sich bis zu zwanzig Minuten hinziehen.
»Terrance Demetrius Burgos«, beginnt der Beamte, der sich das Clipbord in einem gewissen Abstand vors Gesicht hält. »Sie wurden von einem Gericht dieses Staates wegen fünf separater Verstöße gegen Artikel 4, Absatz 6-10(a) des Criminal Code verurteilt, als da sind: die Morde an Elisha Danzinger, Angela Mornakowiski, Jaqueline Davis …«
Carolyn Pendry gibt einen unterdrückten Laut von sich, beugt sich vor und erbricht sich mit einem kehligen Grunzen auf meine Schuhe. Ich ignoriere die gallige Flüssigkeit auf meinen Füßen, biete ihr ein Taschentuch an und nehme ihre Hand, so dass sich unsere Finger verschränken. Sie will sich entschuldigen, aber dazu besteht kein Anlass. Sie wird nicht die Einzige sein, die so reagiert. Es steht sogar ein eigener Arzt für die Zeugen bereit.
»… Sarah Romanski und Maureen Hollis.«
Terry Burgos hat seit seiner Verhaftung gut zwanzig Pfund zugelegt, sein Doppelkinn drückt ihm auf die Brust und seine Augen sind nur noch Schlitze. Sein Schädel ist fast kahl; nur ein paar wirre Strähnen ragen über das Lederband um seine Stirn. Ich schaue ihm in die Augen, auf der Suche nach einem Zeichen von Reue oder Mitgefühl. Oder Angst. Ich gebe zu, ich will ihn leiden sehen.
»… kam die Jury zu dem einstimmigen Beschluss, dass diese Morde vorsätzlich geschahen und unter Umständen, welche die Todesstrafe als angemessen …«
Die allgemeine Anspannung hinter mir ist deutlich zu spüren. All die gemischten Gefühle der wütenden und zutiefst verletzten Menschen, die in den letzten Wochen diese Tragödie immer wieder neu durchleben mussten und denen nun endlich die Gerechtigkeit widerfährt, um die sie die Jury gebeten, ja, angefleht haben.
»Sie haben eine Erklärung unterzeichnet, die vom Notar beglaubigt und vom Gericht bestätigt wurde, der zufolge Sie tödliches Gas als Todesart wählen.«
Das, oder den elektrischen Stuhl. Ich hätte mich anders entschieden. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als qualvoll zu ersticken.
Ich mustere die zwei Telefone an der Wand, eines schwarz, das andere rot; Letzteres der heiße Draht zum Amtssitz des Gouverneurs. Ich spähe auf die Uhr. Punkt zwölf.
Als ich wieder Burgos betrachte, bemerke ich, dass sein Blick auf mir ruht. Jetzt, da wir Augenkontakt haben, wird er mich ohne Zweifel so lange ansehen wie möglich. Ich frage mich, ob ich mich abwenden und ihm damit meine Verachtung demonstrieren soll, die er wahrscheinlich verdient hat; aber ich starre unverwandt zurück. Vielleicht schulde ich ihm das. Möglicherweise sollte jeder Strafverfolger dem Menschen in die Augen schauen müssen, den er verurteilt hat. Vielleicht bin ich ja deshalb hier und vielleicht habe ich deshalb gestern auch eingewilligt, ihn zu besuchen. Seine Zunge quillt zwischen den dünnen Lippen hervor. Er blinzelt, wohl unfreiwillig. Kein menschliches Wesen, wie psychotisch auch immer, kann angesichts einer solchen Strafe ungerührt bleiben. Seine Finger trommeln auf die Armlehnen. Seine Zehen zucken. Seine Brust hebt und senkt sich. Er schwitzt heftig, was bei einem halb nackten Mann kein schöner Anblick ist.
»… und Sie haben nun das Recht, Ihre letzten Worte zu sprechen.«
Absolute Stille. Terry Burgos hat sich nie entschuldigt, kein Wort der Reue ist je über seine Lippen gekommen. Doch genau darauf warten die Familien, nehme ich an. Irgendetwas, irgendein Zeichen, das ihren Schmerz lindern könnte.
Seine Lippen öffnen sich, aber er bleibt stumm. Unverwandt starren wir einander in die Augen. Es scheint, als bekämen die Familien nicht das, worauf sie warten. Was immer er zu sagen hat, er wird es nur mir sagen.
Der Vollzugsbeamte ist unsicher, wie er weiter verfahren soll. Er will Burgos zumindest das noch zugestehen, eine letzte Gelegenheit, etwas gutzumachen oder seinen Frieden zu finden. Vielleicht mag er den Kerl sogar, auf irgendeine verquere Art. Immerhin hat er hier im Todestrakt die letzten sieben Jahre mit ihm verbracht. Die meisten Typen in Isolationshaft wenden sich irgendwann Gott zu, oder sie verlieren einfach den Kampfgeist, so dass sie recht umgängliche Gefangene abgeben.
Der Beamte späht schließlich zum Gefängnisdirektor hinüber, der einen Finger reckt, und alle warten gespannt.
Terry Burgos räuspert sich mühsam. Irgendwo drüben im Westen soll ein Kerl bei seinen letzten Worten fast zwanzig Minuten lang herumgestottert haben.
Eine weitere lähmende Minute verstreicht, in der Burgos und ich uns anstieren. Ich suche in seinen Augen nach einem hämischen Triumphieren, nach Hass, nach Angst. Stattdessen entdecke ich nichts als kindliches Erstaunen, einen fast hypnotischen Ausdruck.
Der Wachmann tritt näher an die Glaszelle. »Terry, haben Sie noch irgendwas zu sagen?«
Burgos schüttelt langsam den Kopf, so gut er das in seinen Fesseln vermag. Die Augen immer noch auf mich geheftet, öffnet er erneut den Mund. Stumm spricht er zu mir, seine Lippen bewegen sich, ebenso wie seine Zunge und die Zähne. Ich bin nicht gut im Lippenlesen, aber ich weiß, was er sagt.
Der Direktor, der Burgos von seinem Platz aus nicht sehen kann, versteht sein Schweigen als Nein, und er gibt dem Vollzugsbeamten das Zeichen, der wiederum den Wärtern signalisieren wird, mit der Exekution zu beginnen.
»Der Gefangene verzichtet darauf, letzte Worte zu sprechen«, verkündet der Vollzugsbeamte.
Hinter mir ein Aufschluchzen. Einige Angehörige hätten gerne noch Worte der Reue gehört. Andere dagegen hatten offenbar eine Art Selbstrechtfertigung befürchtet und sind über deren Ausbleiben erleichtert. Auf jeden Fall täuscht sich der Vollzugsbeamte. Terry Burgos hat nicht auf eine letzte Äußerung verzichtet. Er hat sie lautlos in meine Richtung gemurmelt, an die Adresse des Mannes, der ihn auf diesen Stuhl gebracht hat.
Dieselben Worte, die er mir gestern in seiner Zelle anvertraut hat.
Ich bin nicht der Einzige.
In Gottes Namen
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