8.
Kapitel
Strafanstalt Marymount, eine halbe Stunde vor
Mitternacht. Das Zuchthaus steht isoliert inmitten der Landschaft.
Ein fünf Hektar großes Gelände, umgeben von acht Meter hohen
Stahlzäunen, oben bepackt mit Rollen von rasiermesserscharfem
Stacheldraht. Vollzugsbeamte observieren die Strafanstalt rund um
die Uhr von einer Zufahrtsstraße aus. Die gepflegten Rasenflächen
sind mit gewichtsempfindlichen Bewegungssensoren gespickt und
werden von Wachtürmen aus mit Scheinwerfern abgeschwenkt; es
befindet sich je ein Turm auf jeder Seite des achteckigen
Zellentrakts im Zentrum der Anlage. Letztes Jahr hat jemand einen
Fluchtversuch gewagt, schaffte es aber nicht mal bis zum Zaun,
bevor ihm ein Scharfschütze aus hundert Meter Entfernung das Knie
zerschoss.
Einen Kilometer vor dem eigentlichen
Anstaltsgebäude bremse ich vor dem mittelalterlich wirkenden Tor.
Eine gewaltige Stahltür, in die mit gotischen Lettern der Name des
Gefängnisses eingeätzt ist. Ich lasse das Fenster herunter und
lasse die stickige, feuchte Luft herein, höre in der Ferne die Rufe
der Demonstranten.
»In Ordnung, Mr. Riley.« Der Wachposten händigt mir
die beiden Ausweise für Trakt J aus. Einen, um ihn an den
Rückspiegel zu hängen, den anderen hefte ich mir ans Hemd. »Fahren
Sie langsam«, fügt er hinzu, und zeigt auf die lange gepflasterte
Straße vor mir. »Einer hat sich mal vor ein Auto geworfen.«
Ich befolge seinen Hinweis und folge gemächlich der
schmalen Straße, die durch die vielen am Rand parkenden
Medienfahrzeuge noch enger geworden ist. Weiter vorne, bei der
gewaltigen Einfahrt des Gebäudes, liegen zwei Camps, durch die
Straße und zwei Dutzend Bezirkssheriffs in Kampfmontur voneinander
getrennt. Das östliche Areal bietet Raum für die
Todesstrafengegner, etwa einhundert Menschen, die sich bei
Kerzenlicht zu Kreisen formiert haben. Man sieht betende Priester
unter ihnen, während andere im Kreis marschieren und Schilder über
den Köpfen tragen wie Streikposten. Ein junger Mann mit
Pferdeschwanz auf einem provisorischen Podium aus Holzkisten brüllt
in ein Megaphon. »Warum töten wir Menschen, um zu zeigen, dass es
Unrecht ist, Menschen zu töten?«, verkündet er unter dem
begeisterten Applaus seiner Anhänger.
Ihnen gegenüber tummelt sich eine andere Gruppe:
Die Befürworter der Todesstrafe – besonders im Fall von Terry
Burgos. Auf einem zwischen zwei Stangen aufgespannten Transparent
sind die Namen der sechs Opfer von Burgos’ Blutorgie zu lesen. Die
Befürwortergruppe ist wesentlich kleiner, was daran liegt, dass sie
in der öffentlichen Diskussion ohnehin die Nase vorn haben – in der
gesamten Nation und besonders hier. Wir exekutieren gerne Menschen
in diesem Staat.
Ein Beamter wirft einen Blick auf den Ausweis
hinter der Windschutzscheibe, dann lässt er mich das Fenster ganz
herunterfahren und erneut meine Papiere vorzeigen. Jetzt ist der
Demonstrationslärm ohrenbetäubend, ein Duell zwischen Megaphonen
und Sprechchören. Der Wachmann sucht meinen Namen auf seiner Liste.
»Okay, Mr. Riley«, sagt er. »Fahren Sie durch dieses Tor, dort wird
man Sie dann weiterleiten.« Der Posten macht jemand ein Zeichen,
und langsam gleiten die Torflügel auseinander.
Eine Hand hämmert gegen die Wagentür. Ein paar
Reporter versuchen, in meinen Wagen zu spähen und einen Blick auf
einen der geladenen Zeugen zu erhaschen. Ich lasse den Cadillac
sanft anrollen, während die Reporter neben mir herlaufen und mir
Fragen zurufen. Ich verstehe nur Bruchstücke. Einer von ihnen fragt
mich, was ich hier will, was mir zunächst albern erscheint, denn
schließlich war ich der Staatsanwalt, der die Jury dazu bewogen
hat, die Todesstrafe zu verhängen. Aber als ich mir die Frage noch
einmal gründlicher durch den Kopf gehen lasse, weiß ich selbst
keine rechte Antwort darauf.
Ich fahre durch die Toröffnung, und die Reporter
bleiben zurück. Ein paar Gebäude weiter winkt man mich auf den
Besucherparkplatz. Ich laufe durch die drückende Hitze auf eine von
Wachposten flankierte Tür zu. Ein untersetzter Vollzugsbeamter hält
sie für mich auf, und ich betrete den frostig klimatisierten
Empfangsbereich. Eine Gruppe Uniformierter hängt in der Lobby
herum, raucht und unterhält sich. Einer von ihnen erkennt mich und
grüßt. Ich antworte mit dem üblichen Schön, Sie zu sehen,
das für Leute reserviert ist, deren Namen ich vergessen habe. Ich
tu das nicht gern, denn natürlich durchschauen sie mich ohne
Ausnahme. Ich weiß das, weil früher die Leute das Gleiche mit mir
gemacht haben.
Ich fahre runter ins Tiefgeschoss und treffe wie
üblich als Letzter ein. Alle anderen bestellten Zeugen sind schon
anwesend, und alle tragen sie ihre Namensschildchen. Unter ihnen
sind auch drei oder vier Elternteile der von zu Hause abgehauenen
Mädchen oder Prostituierten in steifen, schlecht sitzenden Anzügen
und Kleidern. Ich habe mich ihnen gegenüber immer respektvoll
verhalten, schließlich haben sie ihre Töchter verloren, aber in
Wahrheit hatten sich die meisten von ihnen schon lange vorher von
ihren Kindern verabschiedet. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihnen
zu sagen, was ich schon damals gerne losgeworden wäre: Hätten Sie
sich ein wenig mehr Zeit für Ihre heranwachsenden Töchter genommen,
wären sie womöglich nicht auf der Straße geendet, als willkommene
Beute eines Serienkillers. In ihren Gesichtern spiegelt sich ein
gewisser Ernst, aber auch ein Gefühl von Wichtigkeit, das ihnen
hier durch die allgemeinen Respektsbekundungen kurzzeitig zuteil
wird. Immerhin sind sie amtlich bestellte Zeugen der Hinrichtung
des berühmtesten Verbrechers der jüngeren Geschichte dieses
Staates. Wie aufregend für sie.
Ich entdecke Maureen und David Danzinger, und mir
wird flau. Nie werde ich ihre Gesichter vergessen, kurz nachdem sie
ihre Tochter Ellie identifiziert hatten, die gerade ihr zweites
Studienjahr in Mansbury absolvierte. Sie waren sofort aus Südafrika
zurückgekehrt, als sie es erfuhren, konnten es aber nicht glauben,
bis sie ihre Tochter tot auf der Bahre liegen sahen, mit einem
riesigen klaffenden Loch dort, wo früher ihr Herz gewesen war. Sie
hatten das ganze Jahr in der Stadt verbracht, auf den Prozess
gewartet und dann keinen Tag der Verhandlungen versäumt.
Maureen Danzinger tritt auf mich zu und legt mir
die Hand auf den Arm. Es ist jetzt mehr als sieben Jahre her.
Sieben lange Jahre Warten auf diesen Tag, in der Hoffnung, dass er
eine Art Abschluss bringt, obwohl sie in ihrem Herzen nie wirklich
daran geglaubt hat. Ihr Haar ist ergraut, ihre Augen liegen tief in
den Höhlen, und sie hat deutlich an Umfang zugelegt – aber
vielleicht tröstet sie der Gedanke, dass der Mörder ihrer Tochter
verurteilt wurde und in weniger als einer Stunde hingerichtet wird.
Menschen denken so, wenn sie ein nicht enden wollender Schmerz
peinigt. Sie brauchen Hoffnung. Niemand kann ihnen ihre Tochter
zurückgeben, also konzentrieren sie sich auf erreichbare Ziele –
wie die gerechte Strafe für den Mörder. Das wird den Knoten nicht
lösen, aber vielleicht ein wenig lockern.
Ich begrüße ihren Ehemann David. Er trägt einen
eleganten schwarzen Anzug, wie man ihn zu einer Beerdigung tragen
würde, was ich interessant finde, da wohl niemand dem
Hingerichteten wirklich nachtrauern wird, zumindest niemand in
diesem Raum.
Joel Lightner nähert sich. Er grinst. Der
Ex-Detective, der den Fall gelöst hat. Oder besser, dem der Fall
samt Lösung in den Schoß gefallen ist, wie er selbst nach ein paar
Drinks zu viel zugegeben hat.
»Bentley kommt nicht?«, fragt er eine Spur
enttäuscht.
Er meint die Familie der zweiten Studentin, die
ermordet wurde. Cassandra Bentley, Tochter von Harland und Natalia
Lake Bentley. Ich schüttle den Kopf. Harland ist inzwischen Klient
meiner privaten Anwaltskanzlei, wir sprechen mindestens einmal in
der Woche miteinander, streifen dabei die Hinrichtung von Terry
Burgos aber nur am Rande.
»Die Aasgeier hocken einen Raum weiter«, zischt mir
Joel verächtlich zu. Das gilt den Reportern, die das große Los
gezogen haben und sich hier auf dem Gelände befinden. Gleichzeitig
ist es für ihn eine willkommene Gelegenheit, die Werbetrommel für
sein neues Geschäft als exklusiver Privatermittler zu rühren.
Bestimmt wird er den Medienleuten ein paar saftige Brocken
hinwerfen.
Ich schiele nach rechts durch das Plexiglasfenster,
hinter dem die Reporter an ihren Drinks nippen und Kekse kauen. Die
Bestimmungen des Gefängnisdirektors sind eindeutig: Reporter haben
Zutritt, dürfen aber nur mit Zeugen sprechen, die sich freiwillig
dazu bereit erklären. Er hat sie bis zum Beginn der Vorstellung
sogar in einen eigenen Raum verbannt. Im Moment halten sich keine
Zeugen bei ihnen auf, was aber auch daran liegen kann, dass ich
spät dran bin. Wahrscheinlich haben sie schon alles, was sie
brauchen.
Joel knufft mich leicht in die Seite. »Weißt du,
was seine Henkersmahlzeit war?«
Ich schüttle den Kopf, obwohl ich es weiß.
»Tacos«, verkündet er strahlend.
Um 11.45 Uhr werden wir in den Raum für bestellte
Zeugen geführt. Er ist kaum größer als ein Wohnzimmer, ohne jeden
Schmuck; grau gestrichene Wände, zwei Sitzreihen, die hintere Reihe
eine Stufe erhöht. Erst weiß niemand so genau, wo er sich hinsetzen
soll, dann stürzen sich alle auf die hintere Reihe, als könnte sie
eine gewisse Distanz zum Geschehen gewährleisten. Ich lasse den
Angehörigen der Opfer den Vortritt und erwische am Ende einen Platz
in der ersten Reihe zwischen Joel und Carolyn Pendry, einer
Fernsehreporterin von Newscenter 4. Von meinem Platz aus habe ich
freie Sicht auf das vom Boden bis zur Decke reichende Fenster zum
Nachbarraum, das im Moment noch von einem grünen Vorhang verhüllt
ist.
Mich beschleicht das merkwürdige Gefühl, im Kino zu
sitzen; als hätte ich mich gerade auf meinem Platz gemütlich
eingerichtet und würde jetzt darauf warten, dass sich der Vorhang
öffnet. Es gibt einen Tisch mit Wasserkrügen und Kaffee – wer
braucht in dieser Situation noch Koffein? -, aber sonst keine
Erfrischungen. Joel Lightner hat mich gestern tatsächlich gefragt,
ob er Popcorn mitbringen soll.
»Haben Sie nachher schon was vor?«, flüstert mir
Carolyn Pendry, die Reporterin, mit bebender Stimme ins Ohr. Sie
ist eine der vielen hübschen Journalistinnen der Stadt, groß und
blond, mit hohen Wangenknochen. Sie ist komplett geschminkt und
frisiert, genau wie die anderen Reporter, die später ihren
Kommentar in die Kamera sprechen werden. Sie will einen Witz
machen, versucht cool zu wirken. Tatsächlich werden Joel und ich
hinterher zusammen ein Steak essen gehen, aber das werde ich ihr
nicht auf die Nase binden.
Carolyn beugt sich zu mir herüber. »Was hat er
Ihnen gestern gesagt?«
»Kein Kommentar.« Als gute Journalistin weiß
Carolyn, dass Burgos mich gestern zu sich gebeten hat. In diesem
Staat wird der zum Tode Verurteilte in den letzten drei Tagen vor
der Hinrichtung in einen Bereich verlegt, den sie »Deathwatch«
nennen – vier direkt an die Todeskammer angrenzende Zellen, wo er
rund um die Uhr unter der Beobachtung von Vollzugsbeamten steht,
die in Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten. Dort können die
Verurteilten zwei Besucher pro Tag empfangen. Ich war sein einziger
Besucher. Mein Aufenthalt dauerte nicht länger als fünf
Minuten.
Die nächsten Augenblicke hier im Zuschauerraum sind
etwas befremdend. Die Strafvollzugsbehörde hat zwar ein strenges
Reglement für den Ablauf der Hinrichtungen aufgestellt – vom
letzten Gespräch mit dem Geistlichen, der letzten Mahlzeit, dem
»Todesmarsch« aus der »Deathwatch«-Zelle in den Trakt J bis zum
offiziellen Anruf des Commissioners, wegen möglicher Gründe für
einen Aufschub -, aber eine Handhabe dafür, wie man einem Mann beim
Sterben zusieht, gibt es nicht. Wir rutschen unruhig auf unseren
Stühlen herum. Besonders die Reporter, die über das Ganze berichten
müssen, fühlen sich unwohl in ihrer Haut. Freilich springt bei der
Sache garantierte Sendezeit für sie heraus und anschließend
vielleicht noch eine Sondersendung über die verübten Verbrechen
oder allgemein zum Thema Todesstrafe, aber dennoch bereitet ihnen
das Ganze kein sonderliches Vergnügen.
Um zehn vor zwölf teilt sich der Vorhang vor dem
Fenster, ein Vollzugsbeamter zieht ihn per Hand auf. Neben mir
zuckt Carolyn zusammen. Die Zeugen schnappen nach Luft, stöhnen,
sogar ein kurzes Aufschluchzen ist zu vernehmen. Die Menschen in
der hinteren Reihe blicken auf den Mann, der ihre Töchter ermordet
hat.
Es ist ein großer Raum, in dessen Mitte eine kleine
Kammer steht. Eine blassgrün gestrichene achteckige Box, etwa ein
Meter achtzig breit und zwei Meter fünfzig hoch. Der Eingang
besteht aus einer Stahltür mit Gummidichtungen, die mit einem
großen Sperrrad verriegelt ist. An den übrigen sieben Seiten
befinden sich Fenster, so dass alle im Beobachtungsraum den
Verurteilten gut sehen können.
Terry Burgos trägt nichts außer weißen Boxershorts.
Er sitzt auf einem Metallstuhl, mit Lederriemen über Ober- und
Unterschenkeln, Armen, Hüften, Brust und Stirn. Ein Stethoskop mit
einer Verlängerung nach draußen ist an seiner behaarten Brust
befestigt, damit ein Arzt Burgos’ Tod bestätigen kann, ohne die
Gaskammer betreten zu müssen.
Das mit dem Stirnriemen ist neu. Sie haben ihn
eingeführt, nachdem sich ein Typ während der Erstickungskrämpfe den
Kopf an einer Stahlstange hinter dem Stuhl blutig geschlagen hat.
Unser Staat trägt gewissenhaft Sorge dafür, dass ein Verurteilter
sich nicht selbst bewusstlos schlägt, und wir ihn ordnungsgemäß
exekutieren können.
Burgos, ein dicklicher Mann in Unterhosen, an einen
Stuhl geschnallt, den Blicken der Zuschauer ausgesetzt, gibt ein
klägliches Bild ab, doch offensichtlich scheint ihm das nichts
auszumachen. Er zeigt so gut wie keine Regung. Lässt seinen Blick
langsam von Zuschauer zu Zuschauer wandern, mit großen erstaunten
Kinderaugen. Die letzten sieben Jahre hat er in vollständiger
Isolation verbracht, und vielleicht hat dieser Moment sogar etwas
Stimulierendes für ihn.
Unter Burgos’ Stuhl befindet sich eine Schüssel,
die eine Mischung aus Schwefelsäure und destilliertem Wasser
enthält. Darüber hängt in einem Gazesäckchen ein Pfund
Zyankalikapseln. Sobald der Direktor das Signal gibt, betätigt der
Vollzugsbeamte neben der Gaskammer einen Hebel, das Zyanid fällt in
die Flüssigkeit, und eine chemische Reaktion setzt
Zyanwasserstoffgas frei.
Tatsächlich sind es drei Hebel, die simultan von
drei Wärtern betätigt werden. Zwei der Hebel bewirken überhaupt
nichts, während der dritte die Kügelchen in die Säure senkt. Keiner
der drei Wärter muss heute Nacht in dem Bewusstsein zu Bett gehen,
derjenige gewesen zu sein, der den Mann getötet hat. Dem Staat
mangelt es vielleicht an Mitleid mit seinen Mördern, aber nicht mit
seinen Exekutionskommandos.
»Ich bete zu Gott, dass er nicht die Luft anhält«,
murmelt Carolyn. Offenbar hat sie ihre Hausaufgaben gemacht. Wenn
Burgos gleich einen tiefen Atemzug von dem Gas nimmt, wird er
innerhalb von Sekunden ohnmächtig und kann friedlich sterben. Hält
er dagegen die Luft an und wehrt sich, befallen ihn
höchstwahrscheinlich Krämpfe, und das Ganze kann sich bis zu
zwanzig Minuten hinziehen.
»Terrance Demetrius Burgos«, beginnt der Beamte,
der sich das Clipbord in einem gewissen Abstand vors Gesicht hält.
»Sie wurden von einem Gericht dieses Staates wegen fünf separater
Verstöße gegen Artikel 4, Absatz 6-10(a) des Criminal Code
verurteilt, als da sind: die Morde an Elisha Danzinger, Angela
Mornakowiski, Jaqueline Davis …«
Carolyn Pendry gibt einen unterdrückten Laut von
sich, beugt sich vor und erbricht sich mit einem kehligen Grunzen
auf meine Schuhe. Ich ignoriere die gallige Flüssigkeit auf meinen
Füßen, biete ihr ein Taschentuch an und nehme ihre Hand, so dass
sich unsere Finger verschränken. Sie will sich entschuldigen, aber
dazu besteht kein Anlass. Sie wird nicht die Einzige sein, die so
reagiert. Es steht sogar ein eigener Arzt für die Zeugen
bereit.
»… Sarah Romanski und Maureen Hollis.«
Terry Burgos hat seit seiner Verhaftung gut zwanzig
Pfund zugelegt, sein Doppelkinn drückt ihm auf die Brust und seine
Augen sind nur noch Schlitze. Sein Schädel ist fast kahl; nur ein
paar wirre Strähnen ragen über das Lederband um seine Stirn. Ich
schaue ihm in die Augen, auf der Suche nach einem Zeichen von Reue
oder Mitgefühl. Oder Angst. Ich gebe zu, ich will ihn leiden
sehen.
»… kam die Jury zu dem einstimmigen Beschluss, dass
diese Morde vorsätzlich geschahen und unter Umständen, welche die
Todesstrafe als angemessen …«
Die allgemeine Anspannung hinter mir ist deutlich
zu spüren. All die gemischten Gefühle der wütenden und zutiefst
verletzten Menschen, die in den letzten Wochen diese Tragödie immer
wieder neu durchleben mussten und denen nun endlich die
Gerechtigkeit widerfährt, um die sie die Jury gebeten, ja,
angefleht haben.
»Sie haben eine Erklärung unterzeichnet, die vom
Notar beglaubigt und vom Gericht bestätigt wurde, der zufolge Sie
tödliches Gas als Todesart wählen.«
Das, oder den elektrischen Stuhl. Ich hätte mich
anders entschieden. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als
qualvoll zu ersticken.
Ich mustere die zwei Telefone an der Wand, eines
schwarz, das andere rot; Letzteres der heiße Draht zum Amtssitz des
Gouverneurs. Ich spähe auf die Uhr. Punkt zwölf.
Als ich wieder Burgos betrachte, bemerke ich, dass
sein Blick auf mir ruht. Jetzt, da wir Augenkontakt haben, wird er
mich ohne Zweifel so lange ansehen wie möglich. Ich frage mich, ob
ich mich abwenden und ihm damit meine Verachtung demonstrieren
soll, die er wahrscheinlich verdient hat; aber ich starre
unverwandt zurück. Vielleicht schulde ich ihm das. Möglicherweise
sollte jeder Strafverfolger dem Menschen in die Augen schauen
müssen, den er verurteilt hat. Vielleicht bin ich ja deshalb hier
und vielleicht habe ich deshalb gestern auch eingewilligt, ihn zu
besuchen. Seine Zunge quillt zwischen den dünnen Lippen hervor. Er
blinzelt, wohl unfreiwillig. Kein menschliches Wesen, wie
psychotisch auch immer, kann angesichts einer solchen Strafe
ungerührt bleiben. Seine Finger trommeln auf die Armlehnen. Seine
Zehen zucken. Seine Brust hebt und senkt sich. Er schwitzt heftig,
was bei einem halb nackten Mann kein schöner Anblick ist.
»… und Sie haben nun das Recht, Ihre letzten Worte
zu sprechen.«
Absolute Stille. Terry Burgos hat sich nie
entschuldigt, kein Wort der Reue ist je über seine Lippen gekommen.
Doch genau darauf warten die Familien, nehme ich an. Irgendetwas,
irgendein Zeichen, das ihren Schmerz lindern könnte.
Seine Lippen öffnen sich, aber er bleibt stumm.
Unverwandt starren wir einander in die Augen. Es scheint, als
bekämen die Familien nicht das, worauf sie warten. Was immer er zu
sagen hat, er wird es nur mir sagen.
Der Vollzugsbeamte ist unsicher, wie er weiter
verfahren soll. Er will Burgos zumindest das noch zugestehen, eine
letzte Gelegenheit, etwas gutzumachen oder seinen Frieden zu
finden. Vielleicht mag er den Kerl sogar, auf irgendeine verquere
Art. Immerhin hat er hier im Todestrakt die letzten sieben Jahre
mit ihm verbracht. Die meisten Typen in Isolationshaft wenden sich
irgendwann Gott zu, oder sie verlieren einfach den Kampfgeist, so
dass sie recht umgängliche Gefangene abgeben.
Der Beamte späht schließlich zum Gefängnisdirektor
hinüber, der einen Finger reckt, und alle warten gespannt.
Terry Burgos räuspert sich mühsam. Irgendwo drüben
im Westen soll ein Kerl bei seinen letzten Worten fast zwanzig
Minuten lang herumgestottert haben.
Eine weitere lähmende Minute verstreicht, in der
Burgos und ich uns anstieren. Ich suche in seinen Augen nach einem
hämischen Triumphieren, nach Hass, nach Angst. Stattdessen entdecke
ich nichts als kindliches Erstaunen, einen fast hypnotischen
Ausdruck.
Der Wachmann tritt näher an die Glaszelle. »Terry,
haben Sie noch irgendwas zu sagen?«
Burgos schüttelt langsam den Kopf, so gut er das in
seinen Fesseln vermag. Die Augen immer noch auf mich geheftet,
öffnet er erneut den Mund. Stumm spricht er zu mir, seine Lippen
bewegen sich, ebenso wie seine Zunge und die Zähne. Ich bin nicht
gut im Lippenlesen, aber ich weiß, was er sagt.
Der Direktor, der Burgos von seinem Platz aus nicht
sehen kann, versteht sein Schweigen als Nein, und er gibt dem
Vollzugsbeamten das Zeichen, der wiederum den Wärtern signalisieren
wird, mit der Exekution zu beginnen.
»Der Gefangene verzichtet darauf, letzte Worte zu
sprechen«, verkündet der Vollzugsbeamte.
Hinter mir ein Aufschluchzen. Einige Angehörige
hätten gerne noch Worte der Reue gehört. Andere dagegen hatten
offenbar eine Art Selbstrechtfertigung befürchtet und sind über
deren Ausbleiben erleichtert. Auf jeden Fall täuscht sich der
Vollzugsbeamte. Terry Burgos hat nicht auf eine letzte Äußerung
verzichtet. Er hat sie lautlos in meine Richtung gemurmelt, an die
Adresse des Mannes, der ihn auf diesen Stuhl gebracht hat.
Dieselben Worte, die er mir gestern in seiner Zelle
anvertraut hat.
Ich bin nicht der Einzige.