50.
Kapitel
Als ich um sieben Uhr aus meinem Wagen steige,
erwartet mich eine ganz in weiß gekleidete Frau mit hinter dem
Rücken verschränkten Händen.
»Guten Morgen, Mr. Riley.«
»Morgen.«
Sie wendet sich zur Tür. »Mrs. Lake erwartet Sie
bereits.« Ich folge der Frau durch eine der Eingangstüren in eine
reich dekorierte Halle. Sie führt mich in einen Salon mit einem
Stutzflügel und antikem Mobiliar. Ein sauberer, luxuriös
ausgestatteter Raum, der vor Reichtum und Depression förmlich zu
schreien scheint.
»Danke, Martha.«
Ich drehe mich zu Natalia Lake um, und kurz blitzt
in meinem Kopf die Erinnerung an den Moment auf, als sie die Leiche
ihrer Tochter identifizierte. Sie hat sich gut gehalten, vermutlich
mit Unterstützung von etwas kosmetischer Chirurgie im Gesicht und
am Hals. Die künstliche Straffheit ihrer Haut verleiht ihrem
Ausdruck eine zusätzliche Strenge.
»Danke für Ihre Bereitschaft, sich mit mir zu
treffen, Mrs. Lake.«
»Oh, bitte, sagen Sie Nat.«
Nat trägt eine lavendelfarbene Bluse und weiße
Hosen. Sie ergreift meine Hand mit beiden Händen. »Nach allem, was
geschehen ist, einfach Nat.«
Wir setzen uns gemeinsam auf die Couch. Die Spitzen
ihrer dünnen Finger berühren meinen Arm. »Waren Sie mit dieser
jungen Frau liiert? Mit Shelly Trotter?«
Ich nicke.
»Langs Tochter. Oh je.« Sie sieht mich direkt an.
»Paul, bitte sagen Sie mir, dass Harland nicht in irgendeiner Weise
dafür verantwortlich ist.«
»Harland hat nichts damit zu tun.«
Sie atmet tief durch. Eine Reaktion, von der ich
nicht weiß, was sie bedeutet.
»Mit dem, was letzte Woche geschah, sollte
irgendwas vertuscht werden«, sage ich. »Und Harland hat nichts zu
vertuschen. Sicher, er hat viele beschämende Dinge getan. Er hat
mit der besten Freundin Ihrer Tochter geschlafen. Er hatte ein Kind
mit Ihrer Schwester. Aber er hat niemanden umgebracht damals. Daher
hat er auch jetzt keinen Grund, jemand zu töten. Da ist nichts, was
er verschleiern müsste, Nat.«
Ich lasse meine Bemerkung wirken und hoffe, dass
Natalia das Schweigen aus eigenem Antrieb füllt. Ihre Mundwinkel
sind nach unten gezogen. Vermutlich ist sie enttäuscht von meinen
Ausführungen, aber das wird sie nie zugeben. Sie hantiert mit ihren
Zigaretten, öffnet eine kleine perlenbesetzte Schachtel, zündet
sich eine an und raucht schweigend.
Ich bin nicht ganz sicher, was ich hier eigentlich
suche. Aber ich weiß, irgendwas liegt hier verborgen. Und ich bin
ziemlich gut im Graben.
»Sie wissen, wo Leo Koslenko zu erreichen ist«,
sage ich.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Aber ihre
Antwort kommt zu schnell, zu aggressiv. Sie war auf diese
Anschuldigung vorbereitet.
»Sie haben ihn in dieses Land geholt, Nat. Ihre
Familie hatte in der Sowjetunion beste Beziehungen zu seiner. Er
war ein kranker, gequälter Mann, der Ihnen gegenüber loyal war –
und nur Ihnen gegenüber.«
Natalia klopft mit ihrer Zigarette leicht gegen den
Rand eines Aschenbechers aus Marmor. Sie hat noch nie in ihrem
Leben eine Frage beantworten müssen, die sie nicht beantworten
wollte. Und sie wird jetzt nicht damit anfangen.
Also werde ich ihr ein wenig auf die Sprünge helfen
müssen.
»Leo Koslenko hat Ellie Danzinger getötet«, erkläre
ich. »Auf Ihre Anweisung hin.«
»Oh.« Ein kurzer Heiterkeitsausbruch ihrerseits.
Sie wendet sich mir zu, behält den Ausdruck bei, eine Mischung aus
Verachtung und Vergnügen. »Und – ist das vielleicht schon alles?
Habe ich nicht auch noch die Morde an den anderen Mädchen befohlen?
Etwa den an meiner eigenen Tochter?«
Ihr Ton ist herablassend, aber ihre Augen beginnen
zu funkeln. Sie lässt ihre Zigarette im Aschenbecher weiterglimmen,
erhebt sich von der Couch, richtet ein Gemälde an der Wand gerade.
Mir schien es auch vorher völlig gerade zu hängen, daher wird ihr
wohl langsam mulmig – oder sie versucht, Zeit zu gewinnen.
»Sie wollten Ihre Tochter nicht töten«, sage ich.
»Aber Sie hatten keine andere Wahl. Cassie fand raus, dass Sie
Ellies Tod in Auftrag gegeben hatten. Und Ihnen war klar, dass sie
nicht schweigen würde.«
Nicht dass ich das für die Wahrheit halte. Aber ich
rüttle am Baum. An einem Baum, in dem sich so einiges
versteckt.
Ich bemerke etwas aus meinem linken Augenwinkel
heraus, eine kurze Veränderung der Lichtverhältnisse im Flur. Wie
ein huschender Schatten.
Jemand ist draußen im Gang.
»Sie wollten, dass Cassies Fall nicht zur
Verhandlung kommt«, sage ich. »Sie haben befürchtet, jemand könnte
einen genaueren Blick darauf werfen. Oder auf Cassie.«
Natalia legt die Hände hinter den Rücken und nickt
langsam. »Was Sie da sagen, ist nicht nur lächerlich, Paul, Sie
könnten es auch niemals beweisen.«
»Seien Sie sich da nicht so sicher.« Ich drehe mich
unauffällig in Richtung Flur. Dann beginne ich auf und ab zu
marschieren – um mich noch näher an den Flur heranzupirschen – und
spreche dabei in Richtung des geöffneten Durchgangs. Ich will
sicherstellen, dass sowohl Natalia mich hört wie auch die Person im
Flur.
»Wir werden eine Exhumierung von Cassies Leiche
veranlassen müssen«, sage ich.
»Sie bluffen«, erwidert sie in meinem Rücken. »Sie
haben bereits einen Mann verurteilt wegen …«
Sie stockt, und ich lächle schweigend. Dank Natalia
wurde niemand wegen Mordes an Cassie verurteilt. In ihrem Fall ist
nie ermittelt worden.
»Das ist ein Bluff«, wiederholt sie.
»Es ist kein Bluff, Nat. Gouverneur Trotter hat
vor, mich als Sonderermittler in Cassies Fall einzusetzen. Meine
erste offizielle Amtshandlung wird sein, Sie wegen Mordverdachts zu
verhaften.«
Nichts davon ist wahr, aber es klingt glaubwürdig,
und nur darauf kommt es an.
»Die Technologie hat gewaltige Fortschritte gemacht
in den letzten sechzehn Jahren«, teile ich ihr mit. »Ich kann nur
ahnen, was wir an Cassies Leiche finden werden.«
In Wahrheit würde man vermutlich herzlich wenig
finden. Aber das weiß sie nicht. Und ist auch gar nicht der
Punkt.
»Sie werden alles einreißen, was Sie sich aufgebaut
haben«, konstatiert Natalia. »Sie werden den größten Erfolg Ihrer
Karriere in den Schmutz ziehen.«
Da das keine Frage ist, antworte ich nicht.
Stattdessen beobachte ich weiter unauffällig den Flur.
Und dann tritt sie herein – Gwendolyn Lake steht
plötzlich auf der Schwelle zum Salon, in einem langen T-Shirt und
einer grauen Jogginghose.
»Liebling!« Natalia kommt seitlich in mein
Gesichtsfeld geschossen. Ich nicke Gwendolyn zu.
»Sie täuschen sich«, sagt sie zu mir.
Kehr nie zurück, komm nie wieder hierher, ein
Befehl, muss gehorchen. Komm nie wieder hierher, nach Highland
Woods, setz nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstück, nimm das
Geld, mehr noch, wenn du brauchst, aber komm nie wieder zurück,
niemand darf davon wissen.
Die Gegend schaut anders aus, ein paar Häuser
wurden umgebaut, einige sind brandneu, hübsche Gegend, Highland
Woods.
Kehr nie zurück. Aber es gibt Ausnahmen. Zum
Beispiel wenn Paul Riley Mrs. Bentley besucht – die jetzt Mrs. Lake
heißt.
Leo fährt an dem Haus vorbei, das inzwischen Mrs.
Lake gehört, früher gehörte es ihrer Schwester, nur ein schneller
Blick, dann parkt er am Fuß des Hügels. Das Labyrinth der vielen
kleinen Straßen hat nur einen Ausgang, alle münden unten in die
Browning Street. Hier wird er auf Riley warten, an einer Parkuhr,
mit einem Becher Kaffee und einer Zeitung.
Natalia Lake tritt zwischen mich und Gwendolyn.
»Nein, Liebling, nein …«
»Tante Natalia.« Gwendolyn versucht, Nat zu
umrunden.
»Nein, Liebes!«
»Tante Natalia. Tante Natalia!« Sie packt Nat bei
den Schultern und blickt sie direkt an. »Tante Natalia, hör zu. Ich
weiß, du willst Cassies Andenken schützen, aber das darfst du nicht
auf dich nehmen.«
Nach kurzem Ringen gibt Nat schließlich auf, ihre
Haltung entspannt sich. Wortlos und ohne mich anzusehen geht sie an
mir vorbei zum Fenster.
Ich wende wieder zu Gwendolyn. In ihrem langen
T-Shirt und der Trainingshose, mit den vom Schlaf verstrubbelten
Haaren und den müden Augen hat sie etwas Ungeschütztes,
Sanftmütiges an sich. Ich sage nichts, denn ich will sie auf keinen
Fall bremsen. Gwendolyn ist zu mir gekommen. Sie will etwas los
werden. Shelly hat recht behalten, das wird mir jetzt klar, wobei
ich den tiefen Schmerz in meiner Brust zu ignorieren versuche – sie
würde es mir irgendwann sagen. Ich musste ihr nur ein wenig
Starthilfe verpassen.
»Sie haben recht, was mich betrifft«, erklärt
Gwendolyn nüchtern. »Harland ist mein biologischer Vater. Meine
Mutter hat es mir vor ihrem Tod verraten. Eigentlich hatte sie es
mir verschweigen wollen, aber dann dachte sie, ich hätte doch ein
Recht, es zu erfahren.« Sie heftet ihren Blick auf Natalia, die
bewegungslos am Fenster verharrt. »Sie war so entsetzt über ihre
Schwangerschaft, dass sie nach Frankreich floh. In unser Haus nach
Cap Ferrat. Sie plante wohl – einen Abbruch der
Schwangerschaft.«
Ich nicke. Aber Mia Lake hatte sich offensichtlich
anders entschieden und Gwendolyn an der französischen Riviera zur
Welt gebracht.
»Ich habe Cassie davon erzählt«, bekennt sie. »Als
ich in jenem Sommer in der Stadt war. Rückblickend war das nicht
sehr nett von mir, ich hätte es nicht tun dürfen. Aber ich hatte ja
keine Ahnung, was Cassie zu dieser Zeit durchmachte. Ich wusste
nichts davon, bis es zu spät war.«
Bis es zu spät war.
»Sie wollen also sagen, Cassie hat Ellie Danziger
getötet«, folgere ich.
Das hatte ich bereits vermutet. Nach allem, was ich
gestern Nacht erfahren habe, kann es sich nicht anders abgespielt
haben. Aber es gibt noch ein paar Dinge, die ich nicht weiß.
»Wir haben es kurz darauf rausgefunden«, fährt
Gwendolyn fort. »Cassie hat es uns erzählt. Und wir haben der
Polizei nichts davon gesagt. Wir wussten einfach nicht, was wir tun
sollten.«
»Sie haben die Stadt verlassen«, sage ich. »Am
Mittwoch, während der Mordserie.«
Sie nickt. »Ich war nicht der Typ – besonders
damals nicht -, der einem harten Verhör irgendwas entgegenzusetzen
hatte.« Sie unterbricht sich kurz, ihr Atem ist schneller geworden.
»Wir wussten, wenn sie Ellie finden, würden sie zu uns kommen, um
mit Cassie zu sprechen. Sie war schließlich ihre beste Freundin.
Und ich wollte keine Fragen beantworten müssen. Ich war ohnehin nur
kurz in der Stadt, also bestand kein Grund, warum ich nicht wieder
verschwinden sollte.«
Ich blicke kurz über die Schulter zu Natalia, die
wie erstarrt am Fenster steht, und dann wieder zu Gwendolyn. In
ihren Augen glitzern Tränen, ihre Haut ist von einer gespenstischen
Blässe, trotzdem wirkt sie erleichtert.
»Und was dann?«, frage ich Gwendolyn, meine aber
eigentlich beide Frauen.
Gwendolyn schüttelt den Kopf, blinzelt die
Feuchtigkeit in ihren Augen weg. »Nichts weiter. Ich bin abgereist.
Tante Natalia und Cassie haben sich still verhalten und auf das
Eintreffen der Polizei gewartet. Aber die kam nie. Also lebten sie
weiter wie zuvor … bis Cassie ermordet wurde.«
Ich schüttle den Kopf, als würden mir immer noch
ein paar Puzzleteilchen fehlen.
Gwendolyn zuckt mit den Achseln. »Terry Burgos muss
irgendwas davon mitgekriegt haben. Er hat doch Ellie verfolgt,
oder? Er muss die Tat beobachtet haben. Und dann hat er Cassie
dafür umgebracht. Oder wie sehen Sie die Sache, Mr. Riley? Man wird
es wohl nie herausfinden.«
Man wird es nie herausfinden? Das glaube ich
weniger. Die beiden Frauen hier im Raum wissen jedenfalls eindeutig
mehr darüber. Und ich würde gerne den Rest der Geschichte
erfahren.
»Und was ist mit Leo Koslenko?«, frage ich.
»Er wusste auch davon. Cassie hat uns allen dreien
davon erzählt.«
Ich breite fragend die Hände aus. »Und?«
»Nichts weiter.« Sie zuckt mit den Achseln. »Er hat
nichts getan.«
»Wir haben keine Ahnung, warum Leo jetzt diese
Verbrechen begeht«, wirft Natalia ein, die sich vom Fenster
abgewandt hat. »Wir glauben, dass er versucht, auf irgendeine Weise
Cassie zu schützen.«
Eine unbefriedigende Erklärung, aber nicht weiter
überraschend. Sie wissen mehr, als sie zugeben, aber in diesem
Punkt habe ich keine wirkliche Hilfe von ihnen erwartet.
Und ich bin auch nicht wegen dieser Geschichte
hier. Sondern vor allem wegen zwei Dingen. Nummer eins hat sich
bereits durch mein bloßes Auftauchen hier erledigt. Punkt zwei
werde ich gleich in Erfahrung zu bringen.
»Also wird meine erste Amtshandlung als
Sonderermittler sein, Terry Burgos offiziell zu entlasten und
Cassie als die wahre Mörderin von Ellie zu benennen.«
»Ist das wirklich nötig?« Nat nähert sich mir.
»Unter diesen Umständen …«
»Unter welchen Umständen?«, frage ich. »Sie
hat kaltblütig einen Mord geplant. Das darf nicht …«
»Sie hat gar nichts geplant!« Gwendolyns Gesicht
verfärbt sich dunkelrot. »Sie war keine eiskalte Killerin. Sie hat
ihren Vater aus dem Apartment ihrer besten Freundin kommen sehen,
Mr. Riley. Sie können sich nichts Abstoßenderes, nichts
Ekelhafteres vorstellen …«
Sie unterbricht sich, bedeckt die Augen mit einer
Hand. Auch Natalias stoische Fassade beginnt zu bröckeln.
Doch ich muss jetzt all meine Erfahrung als
Prozessanwalt aufbieten, mein langjähriges Training darin, inmitten
überraschender Entwicklungen die Ruhe zu bewahren, meine gesamte
Routine im Unterdrücken von Gefühlen und der Vorspiegelung völliger
Gelassenheit. Meine Glieder beginnen zu zittern. Am ganzen Körper
bricht mir der Schweiß aus. Ich muss gehen. Ich muss sofort hier
raus. Ich glaube, ich kriege kein Wort mehr raus, so wild jagt das
Adrenalin durch meinen Kreislauf.
Ich entferne mich von den Frauen in Richtung Tür.
Natalia ruft mir hinterher: »Bitte, denken Sie darüber nach, Paul«,
oder irgendwas in der Art. Ich kann sie schon nicht mehr hören.
Denn ich bin plötzlich erfüllt von einer so überwältigenden
Hoffung, dass ich mich dazu zwingen muss, einen Fuß vor den anderen
zu setzen.
Sie haben mir eine Menge Stoff zum Nachdenken
aufgetischt, vieles davon Lügen und Täuschungsmanöver. Aber
zwischen den Zeilen haben sie mir etwas verraten, das viel
wichtiger ist als das, was vor sechzehn Jahren geschah.
Shelly könnte noch am Leben sein.