7. Kapitel
23.45 Uhr
Es war kurz vor Mitternacht. In der Polizeiwache hatte jemand den Fernseher eingeschaltet. Die Lokalsender berichteten schon den ganzen Tag über den Fall, zwischen Soapoperas und Gameshows, später unterbrachen sie selbst ihr Hauptprogramm für die neuesten Meldungen über das »Mansbury Massaker«, wie sie es getauft hatten.
Im Revier hatten sie zwei Schreibtische zu einem improvisierten Konferenztisch zusammengeschoben. Riley spielte mit einer Tasse voll lauwarmem Kaffee und blickte nachdenklich in die Runde. Weder er noch Chief Clark oder Detective Lightner hatten etwas gegessen. Clark hatte sich mit Zigaretten und Kaffee über Wasser gehalten; Lightner nur mit Kaffee. Rileys Magen schrie nach etwas Essbarem, aber er wusste, dass er keinen Bissen hinunterbrachte. Im Revier roch es mittlerweile wie in einer Sportumkleide. Der hohe Adrenalinpegel – erst hatten sie die brutalen Morde entdeckt und dann, noch am gleichen Tag, den Täter gefasst – begann langsam zu sinken. Alle schöpften Atem. Die notwendigsten Dinge waren veranlasst, alles Übrige konnte warten. Paul war sich sicher, dass sie über ausreichend Beweise verfügten, um Burgos dranzukriegen. Jetzt wollte er mehr über die abscheulichen Zeilen wissen, die Burgos beim Beschreiben seiner Morde zitiert hatte. Auch wenn es dabei schon nicht mehr um die Frage von Schuld oder Unschuld ging.
Sie stammten aus einem Song, wie er bereits vermutet hatte. Und sie hatten nicht lange danach suchen müssen. Burgos hatte ihn vor seiner Befragung auf dem Walkman gehört. Die Kassette war eine billige Kopie mit selbst gebasteltem Aufkleber, auf dem der Name der Gruppe – »Torcher« – mit fetten gotischen Lettern in blutroter Tinte gekritzelt war. Der Titel des Tapes – »Someone« – stand in derselben Schrift darunter.
Der Song mit den betreffenden Zeilen trug ebenfalls den Titel »Someone« und dauerte weniger als drei Minuten. Er begann mit einer akustischen Gitarre, auf der ein paar Noten gezupft wurden, dann brach die Hölle los, lärmende Gitarren, wummernder Bass, pausenloses Getrommel, während der Sänger den Text wie ein Maschinengewehr herausbrüllte. Selbst wenn man die Augen schloss und genau zuhörte, konnte man nicht das Geringste verstehen. Aber sie hatten eine Abschrift des Songtextes entdeckt, auf einem Zettel in Terry Burgos’ Schlafzimmer.
Die erste Strophe von »Someone« beschrieb sechs Morde, genau in der Reihenfolge, in der Burgos sie begangen hatte:
A girl who is cool to someone at school until he opens a heart once so cruel
Thespian lesbian glamorous actress rejection so reckless Columbian necklace
His poetry flattery just didn’t matter she told him to scatter assault with a battery
A senior so prim her figure now trim since she got rid of him eye for eye limb for limb
A neighbor’s daughter nobody fought her until someone taught her to sleep underwater
Now it’s time to say good-bye to someone’s family stick it right between those teeth and fire happily
So albern die Reime teilweise auch waren, steckten die Zeilen doch voller Hass. Riley hatte sofort das Bild eines Außenseiters vor sich, von Frauen gemieden, wahrscheinlich von seiner ganzen Umgebung. Terry Burgos passte da genau ins Raster. Allerdings hatte Burgos den Text nicht verfasst. Und was Riley wirklich Sorgen bereitete, waren die Bibelverse auf dem Zettel in Burgos’ Keller. Sechs voneinander unabhängige Stellen. Riley hatte sie alle nachgeschlagen, ein Cop hatte eine King James Bibel in seinem Spind. Alle Zitate, bis auf eines, stammten aus dem Alten Testament und konnten auf irgendeine Weise den Bluttaten zugeordnet werden.
Im Buch Hosea hieß es über Ungläubige, Gott »zerreiße ihnen die Brust und das Herz« – oder öffnete ein Herz, das so grausam war, wie es in der ersten Zeile des Songs hieß. Im Römerbrief wurden Lesbierinnen erwähnt, die den Tod verdienten, was mit der »lesbian« im Song korrespondierte. Im Buch Levitikus war die Rede von unzüchtigen Frauen, die im Feuer verbrannt werden sollten; was im weitesten Sinne auch als Verbrennen mit Säure gedeutet werden konnte. Im Buch Exodus, in der berühmten Passage Auge um Auge, Zahn um Zahn, Glied um Glied, ging es um den gewaltsam herbeigeführten Abbruch einer Schwangerschaft – und der Song erwähnte eine »senior«, eine College-Studentin im letzten Jahr, über die gesagt wurde, sie wäre wieder rank und schlank, seit sie ihn losgeworden ist, was möglicherweise auf ein abgetriebenes Kind anspielte. Und das Buch der Könige forderte den Tod für all diejenigen, die einen Propheten verspotteten. Zwar war im Zusammenhang dieser Bibelpassage nicht von Ertränken die Rede, aber vermutlich hatte sich die im Song erwähnte »Nachbarstochter« über den Autor dieser Zeilen mokiert, der sich für eine Art Prophet hielt.
Fehlte der letzte Mord, der folgendermaßen beschrieben wurde: Jetzt muss sich jemand von seiner Familie verabschieden. Schieb’s zwischen die Zähne, und drück fröhlich ab. Der letzte Mord hatte im Song musikalisch eine andere Qualität; das Schlagzeug und der Bass setzten aus, und der Sänger trällerte den Text ohne Begleitung zur Titelmelodie des Mickey Mouse Club.
Burgos war dem Text gefolgt. Er hatte eine Pistole zwischen Cassie Bentleys Zähne geschoben und abgedrückt. Er hatte sie erschlagen und danach auf sie geschossen. Die dazugehörige Stelle aus dem Deuteronomium schilderte jedoch eine andere Form der Gewalt – die Steinigung einer Hure. Songtext und Bibelzitat wichen hier deutlich voneinander ab. Burgos war beiden gefolgt; er hatte Cassie gesteinigt und erschossen.
Ursprünglich hatte Burgos eine andere Stelle notiert, nicht aus dem Deuteronomium, sondern aus Levitikus; eine Passage, in der es um Ehebruch ging, und in der die Hinrichtung der Schuldigen gefordert wurde. Warum hatte Burgos die Stellen ausgetauscht?
Riley konnte sich das nicht erklären. Schließlich war heute gerade der erste Tag einer langen Zeit ausgiebiger Recherchen. Die Stoßrichtung seiner Argumentation nahm in seinem Kopf jedoch bereits Gestalt an. Seine Aufgabe würde darin bestehen, Abweichungen zwischen Burgos’ Taten und dem Songtext aufzuzeigen. Die Verteidigung würde unvermeidlich auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren – Burgos hätte auf Befehl Gottes getötet -, und Riley würde im Gegenzug nachweisen müssen, dass er den Anweisungen nicht wirklich in allen Punkten gefolgt war.
Ein Cop klopfte an und teilte ihnen mit, Professor Albany sei jetzt da. Riley wollte den Professor unbedingt persönlich kennenlernen. Albany gehörte die Druckerei, in der Burgos nachts gearbeitet hatte. Und, beinahe noch wichtiger, Albany hatte ein Seminar abgehalten, das Cassie Bentley und auch Ellie Danzinger besucht hatten.
Frankfort Albany betrat den Raum, ein typischer College-Professor, in einem nicht mehr ganz weißen Hemd mit offenem Kragen, Tweedjackett und ungebügelten Leinenhosen. Das Haar trug er lang und zurückgekämmt. Fehlte nur noch die Pfeife. Sein bleicher, erschöpfter Gesichtsausdruck ähnelte dem vieler Menschen, denen Riley an diesem Tag begegnet war und die alle durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen waren.
Riley, der Chief, Joel Lightner und Albany nahmen an dem improvisierten Konferenztisch Platz, das Aufnahmegerät in der Mitte. Der Professor blickte in die Runde, als ob er etwas vorbringen wollte, aber nicht genau wüsste, wie er beginnen sollte. Normalerweise hätte Paul die Situation mit ein paar einleitenden Worten aufgelockert, aber er wollte hören, was Albany zu sagen hatte.
»Ich – ich kann das alles gar nicht glauben.« Er griff in sein Jackett, zückte ein silbernes Etui und öffnete es. Zigaretten. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Nicht, wenn wir eine bei Ihnen schnorren können«, sagte der Chief.
Die Bewegungen des Professors fielen zögerlich aus. Er wirkte mitgenommen und schien Halt in vertrauten Ritualen zu suchen – dem Ausklopfen der Zigarette auf dem Etui, dem Aufklappen des Feuerzeugs, dem Blinzeln in die Flamme beim Anzünden. Er schob dem Chief das Etui zu, und dabei huschte sein Blick über die Unterlagen, die sich vor Paul stapelten.
»Erzählen Sie mir was über Terry Burgos«, forderte Riley ihn auf.
»Ich muss gestehen, ich mochte Terry«, sagte Albany mit entschuldigender Miene. »Er hat immer ohne Aufsicht gearbeitet und alles zur Zufriedenheit erledigt. Er hatte ein Händchen für Grafiken, war gründlich im Detail. Und er hat jeden Job zu Ende gebracht. Seinen Arbeitsplatz hat er immer sauber gehalten. Allerdings war er ein Einzelgänger, das stimmt. Selbst nachdem er seinen Tagesjob in Mansbury verloren hatte, wollte er weiter die Nachtschicht. Vermutlich hat er einfach lieber alleine gearbeitet. Und da er seinen Job gut erledigt hat, gab es für mich keinen Grund, ihm das abzuschlagen.«
Ein interessanter Punkt. Burgos hatte die Nachtschicht vorgezogen, obwohl er tagsüber nichts zu tun hatte. Paul ging davon aus, dass zumindest die Prostituierten in den Abendstunden entführt und ermordet worden waren, denn um diese Zeit nahmen die meisten Straßenmädchen ihre Arbeit auf.
»Von wann bis wann dauerte seine Schicht?«, wollte Lightner wissen. »Burgos meinte nur, je nachdem, was anstand.«
»Das trifft mehr oder weniger zu. Seine Arbeitszeiten waren flexibel.« Albany schlug ein Bein über das andere. »Wir haben immer Sachen, die während der Tagschicht nicht fertig werden, und die lassen wir dann für Terry übrig. Manchmal ist es Arbeit für zwei Stunden, manchmal auch für fünf.«
»Manchmal auch gar keine?«, fragte Lightner
Albany schüttelte den Kopf. »Wann wäre jemals nichts zu tun? Nein, wir haben immer was.«
»Sehr ungewöhnlich, so ein Job mit ungeregelten Arbeitszeiten«, bemerkte Riley.
»Es ist eben ein Job«, erwiderte Albany leicht gereizt, »bei dem man versucht, einem Menschen eine Chance zu geben. Er brauchte die Arbeit und kam mit dem Pensum klar. Wir haben beide davon profitiert. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?«
»Sie haben die Listen, auf denen er seine Arbeitszeiten notiert hat«, sagte Riley. »Die würden wir uns gerne anschauen.«
Albany nickte abwesend. »Und sonst arbeitet niemand mit ihm in der Druckerei?«
»Nein. Nachts war nur Terry da.«
»Woher wussten Sie, dass er seine Arbeitsstunden korrekt eintrug?«
»Ich wusste es nicht«, räumte Albany ein. »Ich habe ihm vertraut.«
Paul bemerkte, dass Joel Lightner Albany intensiv musterte.
»Welches Ihrer Seminare haben Ellie und Cassie besucht?«, fragte Riley.
Albany ließ den Kopf sinken. Vermutlich hatte der Professor bereits erfahren, dass Cassie Bentley und Ellie Danzinger zu den Opfern gehörten. Inzwischen wusste es wohl jeder.
»Es hieß ›Gewalt gegen Frauen in der amerikanischen Kultur‹. Wir haben uns mit der Glorifizierung von Brutalität gegenüber Frauen in der populären Kultur beschäftigt. Filme, Fernsehen, Musik.«
Gewalt gegen Frauen in der Musik. Wie passend. Riley war plötzlich hellwach, genau wie Lightner.
»Einen Moment.« Riley schob das Blatt mit dem Songtext über den Tisch. »Kommt Ihnen dieses Lied bekannt vor?«
Albany warf nur einen kurzen Blick darauf. »Natürlich. Das ist Tyler Skyes Song ›Someone‹«.
»Um Himmels willen.« Der Chief lehnte sich vor. »Solches Zeug unterrichten Sie?«
Albany musterte den Chief, als hätte er einen Studenten vor sich. »Wir haben es analysiert, in der Tat. Können Sie sich einen Song vorstellen, der die Problematik treffender auf den Punkt bringt?«
»Und wer ist Tyler Skye?«, erkundigte sich Riley.
»Der Mann, oder besser gesagt, der Bursche, der diesen Text geschrieben hat. Zu dem Zeitpunkt war er noch auf der Highschool. Ich meine, das ist doch die Hymne des zurückgewiesenen, unbeachteten Jungen schlechthin, finden Sie nicht?« Als ihm niemand antwortete, räusperte sich Albany und fuhr fort. »Tyler Skye hat diesen Erguss als Schüler verfasst und eines Nachts überall an der Schule plakatiert. Sie fanden raus, wer der Urheber war, und warfen ihn von der Schule. Ein Jahr später war der ehemalige Schulabbrecher der Leadsänger einer Garagenband namens Torcher. Und er hatte aus diesem Gedicht einen Song gemacht. Torcher war eine Weile ziemlich angesagt in der studentischen Underground-Musikszene des Mittleren Westens. Der Text ist nicht besonders gut geschrieben, aber er ist provokant. Und das spricht Studenten an, das Kontroverse, das Rebellische. Das ist oft wichtiger als echte Substanz.«
Der Professor ließ seinen Blick über die abweisenden Gesichter am Tisch schweifen und zog nervös an seiner Zigarette. »Sehen Sie, das war doch gerade der Punkt bei diesem Seminar. Dieser Text hatte die Absicht, zu treffen, zu verletzen. Er steht in einem größeren Zusammenhang von Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Terry die Botschaft des Seminars missverstanden hat.«
»Terry hat das Seminar besucht?« Riley sprang auf.
Albany blickte zu Boden. »Ich habe ihm erlaubt, teilzunehmen. Terry hat nie eine richtige Ausbildung genossen, aber das bedeutet nicht, dass er dumm ist. Er war – neugierig, das ist wohl das treffende Wort. Das Seminar hat ihm viel Stoff zum Lesen und Nachdenken gegeben. Er hat niemanden gestört. Er saß bloß hinten im Seminarraum und hat kein Wort gesagt. Bis er dann … Aber Sie haben sicher von Ellie gehört.«
»Bis er dann eine Obsession für Ellie Danzinger entwickelte«, sagte Lightner. »Dort ist er Ellie begegnet, richtig? Und auch Cassie Bentley? In Ihrem Unterricht.«
Albany nickte. »Natürlich hatte ich nicht die leiseste Ahnung, dass sich so etwas …«
Er führte den Satz nicht zu Ende. Das war auch nicht nötig.
»Erzählen Sie mir was über Cassie Bentley«, sagte Riley.
Der Professor kniff sich in den Nasenrücken. »Ein nettes Mädchen. Sehr sensibel. Etwas launisch. Tat sich schwer damit, anderen zu vertrauen. Aber in ihrem Herzen ein lieber Mensch.« Er holte tief Luft. »Manchmal versäumte sie den Unterricht. Auch in meinem Seminar.«
»Zeichnen Sie mir ein Bild von ihrer Persönlichkeit«, bat Riley.
»Ihre Persönlichkeit.« Albany blickte bekümmert auf. »Still. In sich gekehrt. Immer sehr höflich und respektvoll. Etwas verloren vielleicht.« Er nickte. »Verloren ist das richtige Wort. Manche glauben, sie litt an Magersucht. Sie hatte immer wieder Phasen, wo sie nicht in der Klasse erschien, nichts aß, sich von allen abkapselte. Sogar von Ellie, ihrer Zimmergenossin.«
»In letzter Zeit auch?«
»In letzter Zeit?« Albany klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Ja, ich hab was läuten hören, dass sie wieder so eine Phase hatte. Sie kam dieses Semester nicht in meinen Unterricht, aber kürzlich lief ich Ellie über den Weg, es war kurz vor Ende Semesters, und sie erzählte mir, Cassie hätte wieder ihre Anwandlungen – so hat sie sich ausgedrückt. Sie würde ihr Zimmer nicht verlassen, nicht mal mehr lernen. Ihr übliches Programm. Ihr Leben schien eine Achterbahnfahrt zu sein. Rauf, runter, rauf, runter. In letzter Zeit wohl eher runter.«
Joel Lightner fragte: »Haben Sie persönlich den Kontakt zu Cassie gehalten?«
Der Professor zuckte mit den Achseln. »Es ist ein kleiner Campus. Wir sind uns immer wieder mal über den Weg gelaufen. Aber sie war Cassie Bently, wenn Sie wissen, was ich meine. Jeder wusste über sie Bescheid. Und das erklärt vermutlich mehr als alles andere, warum sie sich so abgeschottet hat. Sie werden wohl keine fünf Menschen finden, die sie wirklich gut kannten.«
»Eine würde für’s Erste reichen.«
»Eine? Ellie Danzinger«, erwiderte Albany ohne eine Spur von Ironie. »Außerdem hatte Cassie wohl eine Cousine, die ab und zu in der Stadt war. Sie rauschte mit dem Flugzeug an und flog bald darauf wieder nach Hause. Das Leben der Reichen und Berühmten eben. Darüber hinaus kann ich Ihnen leider nicht helfen.«
Lightner stieß vernehmlich die Luft aus. Aber Riley hielt das ohnehin für einen Holzweg. Harland Bentley hatte heute Morgen im Revier nicht ganz unrecht gehabt – Cassie Bentleys emotionale Probleme hatten sie nicht umgebracht.
Er wollte auf den eigentlichen Grund für Cassies Tod zurückkommen. »Möglicherweise haben diese Morde einen religiösen Hintergrund«, sagte er. »Vor allem die Bibel. War das auch ein Thema in Ihrem Seminar?«
Albany nickte schwach. »Doch, ja. Besonders in Zusammenhang mit dem Song. Tyler Skye hat ein Interview gegeben, in dem er seine Darstellung von Gewalt mit Verweisen auf die Bibel rechtfertigt. Wahrscheinlich war das seine Art, es seinen Kritikern heimzuzahlen.«
Riley reichte dem Professor die Liste mit den Bibelstellen. Albany warf einen Blick auf das Blatt. »Genau«, sagte er. »Das sind die Stellen. O Jesus.«
Er legte eine Hand über die Augen. »Hat Terry vielleicht geglaubt … o mein Gott.« Verzweifelt sah er zu ihnen auf. »Hören Sie, ich bringe doch niemandem bei, dass in der Bibel steht, man sollte Frauen auf solche Art töten. Ich habe nur aufgezeigt, dass eine bestimmte Haltung gegenüber Frauen ihre Wurzeln in der Geschichte hat. Tyler selbst hat diesen Bezug hergestellt. Ich meine, es war doch nur ein Seminar. O mein Gott.«
Er warf seine Zigarette in eine leere Coladose. »Ich nehme an, Terry hat die Mädchen auf diese Weise umgebracht? Wie es in dem Songtext beschrieben wird?«
Der Chief nickte Albany zu. »Woher wissen Sie das?«
»Also, Sie glauben doch hoffentlich nicht …« Ein ängstlicher Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. »Hören Sie, ich weiß das alles nur aus dem Fernsehen. Sie denken doch nicht ernsthaft, ich sei dafür verantwortlich?«
Riley schwieg. Der Professor sollte ruhig noch eine Weile zappeln.
Riley wies mit dem Kinn auf das Blatt mit den Bibelzitaten. »Der letzte Mord«, sagte er. »Burgos hat eine Stelle aus Levitikus aufgeschrieben, wieder durchgestrichen und etwas aus dem Deuteronomium notiert.«
Es dauerte einen Moment, bis Albany sich wieder gefangen hatte, dann studierte er die Liste und nickte langsam. »Tyler Skye hat Levitikus als Rechtfertigung für diesen Mord zitiert. Tod all denen, die Ehebruch begehen.«
»Und was ist mit dem Deuteronomium?«
Albany schüttelte den Kopf. »Das ist mir ein Rätsel. Tyler Skye hat in diesem Zusammenhang nie vom Buch Deuteronomium gesprochen. Was genau steht in dieser Passage?«
Riley erzählte es ihm – es ging um die Steinigung einer Hure.
Albany kannte die Stelle nicht. »Tyler erwähnt das nirgendwo. Steinigung? Nein, davon ist bei ihm nicht die Rede.«
»Eben«, stimmte Riley zu. »Schieb’s zwischen die Zähne und drück fröhlich ab. Kein Wort über Steinigung. Er spricht lediglich davon, jemand zu erschießen. Und bezog sich dabei wohl auf Levitikus?«
Albany nickte. »Bei Levitikus ist natürlich nicht von Erschießen die Rede. Nur vom Tod für alle Ehebrecher. Aber Skye hatte definitiv den Gebrauch einer Pistole im Auge. Das geht ganz klar daraus hervor, was er am Schluss getan hat.«
Riley starrte ihn an. Albany hatte jetzt die Aufmerksamkeit aller im Raum.
Der Professor räusperte sich. »Vor etwa einem Jahr hat Tyler Skye sich erschossen. Indem er sich selbst eine Kugel in den Mund feuerte.«
Schieb’s zwischen die Zähne und drück fröhlich ab.
»Offensichtlich hatte seine Freundin ihn verlassen, weil er ihr untreu war.«
Die anderen im Raum reagierten mit angewiderten Gesichtern. Doch Riley blieb konzentriert. Tyler Skye, der sich in seinem Song auf die Levitikus-Stelle bezog, hatte Selbstmord begangen, und dabei seine eigenen Verse in die Tat umgesetzt. Er hatte wirklich jemandem die Pistole zwischen die Zähne geschoben – sich selbst.
Burgos dagegen war seinem Vorbild nicht gefolgt. Er hatte Cassie mit einem Stein oder einem anderen schweren Objekt erschlagen und eine neue Passage aus dem Deuteronomium eingeführt, um die Tat zu rechtfertigen. Dann erst hatte er ihr in den Mund geschossen – anstatt die Waffe gegen sich selbst zu richten, wie er es eigentlich hätte tun müssen.
Er hatte dem Songtext also nicht blind Folge geleistet. Für die Anklage eindeutig eine positive Entwicklung. Zugleich warf das allerdings eine neue Frage auf.
Warum? Warum hatte Burgos beschlossen, zu improvisieren und eine neue Bibelstelle einzuführen, die Tyler nie zitiert und die keinen Bezug zu seinem Songtext hatte?
»Ehrlich gesagt, kann ich kein allzu großes Bedauern über Mr. Skyes Abgang empfinden«, murmelte Chief Clark.
»Vielleicht sollten Sie das aber«, erwiderte Albany. »Torcher hat nach seinem Tod mehr als doppelt so viele Alben verkauft. Inzwischen«, fügte er düster hinzu, »hat er den Status einer Legende. Es wird ein regelrechter Kult um ihn betrieben.«
»Über wie viele Personen reden wir hier?«, fragte Chief Clark mit gesenktem Blick. »Wie viele kranke Hirne rennen da draußen herum und warten nur darauf, diese Zeilen in die Tat umzusetzen?«
»Ich würde sagen, Torcher hat wahrscheinlich Tausende von Fans. Aber sicher keine zehntausend.«
Paul runzelte die Stirn. Nicht wegen Albanys Schätzung, sondern wegen der in der Frage des Chief enthaltenen Unterstellung. Er hatte das scheinbar Naheliegende ausgesprochen: Terry Burgos war dem Text eines Songs gefolgt – oder gab es zumindest vor. Und er war dabei noch durch entsprechende Bibelzitate bestärkt worden.
Terry Burgos hatte die Mädchen getötet, weil Gott es ihm befohlen hatte.
Er ahnte bereits, wie die Verteidigung die Sache anpacken würde. Burgos würde behaupten, für ihn sei der Songtext eine Verkündigung von Gottes Wort gewesen – junge Frauen wurden darin für ihre Sünden verbrannt, erschlagen und gefoltert. Und er hätte in diesen albernen Zeilen eine verschlüsselte Botschaft des Allmächtigen erkannt. Tyler Skye hatte auf seine verdrehte Art Bibelstellen parodiert, und Burgos hatte sie als Handlungsanweisungen verstanden.
Eine solche Argumentation erleichterte ihnen ihre Aufgabe nicht gerade. Es war eine hübsche griffige Geschichte, nachvollziehbar für die Jury, da brauchten keine schwierigen Fremdworte aufgefahren zu werden, wie Psychose und Soziopathologie. Der Kerl hatte einfach gedacht, der Song wäre eine direkte Aufforderung an ihn, und hatte dementsprechend gehandelt. Ganz klar, der musste verrückt sein. Würde denn irgendjemand, der nicht verrückt war, so etwas tun?
Sie quetschten Albany noch eine Weile aus. Aber Paul hörte nicht mehr zu. Es stand längst nicht mehr zur Debatte, ob Terry Burgos der Täter war. Nach einem Tag war die Last der Beweise gegen ihn erdrückend, und er hatte mehr oder weniger ein Geständnis abgelegt. Hier ging es nicht mehr um Schuld, nur um die Frage der Schuldfähigkeit. Falls in diesem Staat immer noch die modifizierte Schuldunfähigkeitsregelung galt, musste Burgos lediglich zwei Dinge nachweisen: dass er zur Tatzeit an irgendeiner Form von geistiger Störung litt, und dass er das Schuldhafte seines Handels nicht erkannt hatte.
Glücklicherweise war sich Paul sicher, dass er Abweichungen zwischen der Art der Verbrechen und den Vorgaben des Lieds finden würde. Das würde der Schlüssel sein, um zu zeigen, dass Burgos – sofern er tatsächlich dem Wort Gottes gefolgt war oder dem seines Propheten Tyler Skye – dieses sehr freizügig ausgelegt hatte. Paul hatte schon jetzt mehr als eine Diskrepanz entdeckt: Burgos hatte eine neue Bibelstelle eingeführt, und er hatte sich, im Gegensatz zu seinem Vorbild, nicht selbst getötet. Burgos hatte Sex mit den Frauen gehabt – mit den Prostituierten vor ihrem Tod, mit den Studentinnen danach -, und darüber stand nichts in der Bibel. Zudem hatte er die Taten während der Ferien begangen, noch vor den Sommerkursen, weil er wusste, die Leichen würden dann frühestens mit deren Beginn entdeckt. Mit anderen Worten, ihm war klar gewesen, dass er ein Verbrechen verübte, und er hatte rasch gehandelt, bevor jemand die Toten finden konnte. Zudem hatten die Beamten inzwischen ermittelt, dass die vier Prostituierten in unterschiedlichen Stadtvierteln gearbeitet hatten; Burgos war also offensichtlich clever genug gewesen, nicht zweimal am gleichen Ort zuzuschlagen. Auch das legte wieder nahe: Er war sich bewusst, dass er gegen das Gesetz verstieß, und hatte versucht, einer drohenden Verfolgung zu entgehen.
Und Paul begann gerade erst, Material zu sammeln. Zum Zeitpunkt der Verhandlung würde er die Theorie der Übereinstimmung von Burgos’ Taten mit dem Songtext und der Bibel so durchlöchert haben, dass sie sang- und klanglos unterging. Außerdem würde er zahlreiche Beweise dafür liefern können, dass sich Burgos über den kriminellen Charakter seiner Taten sehr wohl im Klaren war.
Eine halbe Stunde später war Professor Albany in Tränen aufgelöst. Paul gab dem Mann keine Schuld, aber er hatte nicht die Zeit und die Energie, sich jetzt um ihn zu kümmern. Es gab nur eine Person, um die er sich kümmern musste, einen Menschen, dem er in den nächsten neun Monaten seine ganze Aufmerksamkeit widmen würde.
Terry Burgos, der in seinen Augen nicht mehr den Hauch einer Chance hatte.
In Gottes Namen
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