3.
Kapitel
13:17 Uhr
Paul Riley drehte ein Glas Wasser zwischen den
Händen und betrachtete den Verdächtigen durch den Einwegspiegel des
Observationsraums. Oft erfuhr man durch aufmerksames Beobachten
mehr als durch Zuhören. Unschuldige in Untersuchungshaft wurden
meistens nervös. Schuldige nur selten.
Terry Burgos hockte allein im Verhörzimmer. Er trug
die Kopfhörer, die man ihm erlaubt hatte mitzunehmen, bewegte Kopf
und Füße im Takt und spielte gelegentlich Schlagzeug auf dem
kleinen Tisch vor sich. Er war ein typischer Südländer, gedrungen,
mit kräftigem Torso, dunkel um die Augen, mit Unmengen von
drahtigen schwarzen Locken. Die Baseballkappe tief ins Gesicht
gezogen, schien er vor sich hin zu summen. Man hatte ihm zwei Dosen
Cola gebracht, und einmal war er auf dem Klo gewesen. Er hatte
keinen Anwalt verlangt, und die Miranda-Rechte waren ihm noch nicht
vorgelesen worden.
Burgos wartete seit gut einer Stunde. Riley hatte
Zeit gefordert, damit die Polizei vor dem Verhör alle verfügbaren
Informationen über den Verdächtigen auftreiben konnte. Außerdem war
Mittagszeit, und er wollte, dass Burgos der Magen knurrte. Riley
hätte ihn gerne noch länger schmoren lassen, aber alle drängten auf
seine Vernehmung, zumal man ihn nur begrenzte Zeit festhalten
konnte, ohne die Anwälte zu ihm vorzulassen. Schon bald würde die
halbe Welt über Terry Burgos Bescheid wissen, und dann würde
unausweichlich der eine oder andere Anwalt aufkreuzen.
Cops und Staatsanwälte gingen im Observationsraum
ein und aus und begafften den Verdächtigen mit morbider Neugier. Im
Revier herrschte eine mit Händen zu greifende Spannung, denn sie
hatten ihren Mann bereits geschnappt, und das in einem Fall, wie
ihn die Stadt noch nie zuvor erlebt hatte.
Burgos war kein unbeschriebenes Blatt. Vor zwei
Jahren hatte man ihn wegen Verdachts auf Körperverletzung an einer
jungen Frau festgenommen, doch die Anklage war fallen gelassen
worden. Paul vermutete, dass die Frau nicht zur Anhörung erschienen
war. Letztes Jahr dann eine Anzeige wegen sexuellen Tätlichkeiten,
aber nachdem die Anklage auf leichte Köperverletzung
heruntergehandelt worden war, hatte er nicht einsitzen
müssen.
Elisha Danzinger war voriges Jahr, im November
1988, aufs Revier gekommen, um unter Eid Beschwerde gegen Terry
Burgos zu erheben. Sie hatte zu Protokoll gegeben, Burgos hätte ihr
auf dem Campus nachgestellt, sie verbal bedroht und
eingeschüchtert. Die Polizei hatte Burgos festgenommen, ihn aber
nicht weiter belangt. Es lag nichts vor, weswegen man ihn weiter
strafrechtlich hätte verfolgen können. Paul wusste von den
Mansbury-Sicherheitsleuten, dass Ellie im Januar dieses Jahres eine
zivilrechtliche Schutzanordnung gegen Burgos erwirkt hatte, die
nicht in den Polizeiakten auftauchte. Ihm war bei Strafe untersagt
worden, sich Ellie auf mehr als zweihundert Meter zu nähern.
Burgos war sechsunddreißig, lebte allein und hatte
zwei Jobs gehabt. Einen in Mansbury, wo er als Gärtner und
Reinigungskraft ausgeholfen hatte, bis er im Februar gefeuert
worden war. Außerdem arbeitete er noch immer bei einer Druckerei
außerhalb des Campus, die einem Professor des Mansbury College
namens Frankfort Albany gehörte.
Allgemein galt Terry Burgos als mäßig intelligent,
eher ungebildet und introvertiert; auch in Sachen Körperhygiene
erhielt er keine Bestnoten; er beschwerte sich nie und schien dem
Leben eher unbeteiligt gegenüberzustehen. Es gab Gerüchte über eine
schwere Kindheit in Marion Park, Anzeigen wegen ehelicher Gewalt im
Elternhaus, schlechte Noten in der Schule; die Highschool hatte er
ohne Abschlusszeugnis abgebrochen.
Joel Lightner starrte zusammen mit Paul durch den
Einwegspiegel, während Burgos drinnen stumm auf den Tisch hämmerte.
Lightner wippte auf den Zehenballen wie ein Reservespieler, der an
der Auslinie auf das Einsatzzeichen seines Trainers wartet. »Wann
legen wir los?«, fragte er.
»Haben wir die Fotos?«, fragte Riley zurück.
Lightner nickte und händigte Riley einen Ordner
aus.
Tatsächlich gab es keinen Grund, länger zu warten.
Wenn schon Burgos’ Nerven nicht blank lagen, was Riley bezweifelte,
war er vielleicht wenigstens hungrig. Essensentzug zählte unter
Staatsanwälten zu den üblichen Methoden, Verdächtige gefügiger zu
machen.
Riley seufzte und dehnte seine Armmuskeln. »Fühlen
Sie sich der Sache gewachsen, Detective?«
Lightner nickte knapp. »Marion Park ist nicht
Mayberry. Ich bin kein Anfänger.«
Das traf zu. Die Kriminalstatistik von Marion Park
reichte zwar längst nicht an die der Innenstadtbezirke heran, doch
eine der bekannteren Gangs, die Columbus Street Cannibals, begann
hier Fuß zu fassen.
»Trotzdem nehme ich gerne Ratschläge
entgegen.«
»Okay.« Paul blickte erneut durch den
Einwegspiegel. »Als Erstes – lassen Sie die Finger von ihm.«
»Versteht sich von selbst.«
»Und wie wär’s zum Einstieg mit einer freundlichen
Geste. Natürlich lassen Sie ihn nicht wirklich raus, aber sie
könnten es ihm anbieten. Mal schauen, ob er darauf eingeht.«
»Wir könnten zusammen Mittag essen«, schlug
Lightner vor. Riley hatte den gleichen Gedanken gehabt. Ein
Gespräch beim Essen war entspannter. Man plauderte zwanglos, von
Mensch zu Mensch. Eine gebräuchliche Methode von Detectives beim
Ausfragen von Verdächtigen, für Staatsanwälte jedoch eher unüblich.
Paul hätte ablehnen und selbst die Befragung durchführen können,
doch das hätte ihn zum Zeugen gemacht und somit automatisch als
Ankläger disqualifiziert. Es schwirrten auch noch andere
Staatsanwälte auf dem Revier herum, unter anderem die Chefs der
Behörden für Strafverfolgung und Spezialermittlungen, die Paul aus
der City angefordert hatte, doch hatte er ihnen schon am Telefon
klargemacht, dass Joel Lightner als Erster am Zug war. Er hatte den
Kerl geschnappt, es war sein Fall. Und wenn sie mit ihrer
Einschätzung richtig lagen, konnte Burgos ihnen ohnehin nicht mehr
durch die Lappen gehen, ob er nun ein Geständnis ablegte oder
nicht.
»Zeichnen Sie das Gespräch auf«, sagte Riley, als
Lightner den Observationsraum verließ. Dann winkte Paul die beiden
Behördenchefs, Chief Clark und drei weitere Detectives herein. Sie
würden als Zeugen fungieren, wo die Beweiskraft des Bandes nicht
ausreichte. Außerdem wollte Riley ihre Meinung über den Fortschritt
der Ermittlungen hören.
Alle starrten schweigend durch den Einwegspiegel.
Terry Burgos wippte lässig zu den Beats aus seinem Kopfhörer. Er
blickte nicht mal auf, als Joel Lightner mit dem Aufnahmegerät den
Raum betrat. Lightner stellte das Tonband auf dem kleinen Holztisch
ab und steckte das Kabel in die Wandsteckdose. Erst als Burgos das
Vibrieren des Tischs beim Absetzen des Apparats spürte, nahm er von
Lightner Notiz.
Lightner ließ sich Burgos gegenüber nieder und
signalisierte ihm, den Kopfhörer abzunehmen. Burgos fummelte am
Player herum, schaltete ihn schließlich aus und zog die kleinen
Ohrhörer heraus.
»Erst mal vielen Dank, dass Sie hier sind, Mr.
Burgos. Haben Sie was dagegen, wenn ich das Gespräch
mitschneide?«
Burgos musterte den Detective stumm. Lightner
drückte den Startknopf. »Es ist 1 Uhr 25, Montag, der 26. Juni,
1989. Mein Name ist Joel Lightner, Chief Detective des Marion Park
Police Department. Ich sitze hier mit Terrance Demetrius Burgos.
Mr. Burgos, stimmen Sie einer Aufzeichnung des Gesprächs zu?«
Der Verdächtige starrte ihn an, dann zuckte er mit
den Schultern.
»Würden Sie bitte laut und deutlich antworten, Mr.
Burgos?«
»Okay«, erwiderte Burgos. Er sprach leise und
zögerlich.
»Heißt das, ich kann unser Gespräch
aufnehmen?«
»Okay.« Burgos breitete seine Hände auf dem Tisch
aus. »Gibt’s noch Coke?«
»Sie möchten eine Coke? Kein Problem.« Lightner
ging zur Tür und gab die Bestellung weiter. »Vielleicht haben Sie
auch Hunger? Mittagessen verpasst, was?«
»Mhm.«
»Nach was steht Ihnen der Sinn?«
Burgos antwortete nicht. Womöglich hatte er die
Frage nicht richtig verstanden.
»Einen Burger mit Fritten vielleicht?«, fragte
Joel. »Ein Sandwich?«
Burgos schaute Joel an. »Ich mag Tacos.«
»Tacos? Prima. Ich kenne da ein hervorragendes
Lokal.« Er sprach erneut mit dem Beamten vor der Tür. Dann kam er
zurück zum Tisch und hockte sich hin. Entspannt lehnte er sich
zurück und schlug ein Bein über das andere. Viele Polizisten taten
sich schwer mit dieser Art von demonstrativer Gelassenheit. So sehr
sie sich bemühten, am Ende wirkten sie immer nur wie jemand, der
krampfhaft auf unverkrampft machte. Joel aber hatte es drauf, das
war Riley jetzt schon klar. »Wie gesagt, vielen Dank für Ihr
Erscheinen, Mr. Burgos. Ich betrachte das als freundliches
Entgegenkommen Ihrerseits. Wenn Sie gehen möchten, ist das
jederzeit möglich. Okay?«
Der Verdächtige zuckte mit den Achseln. »Schon in
Ordnung.«
»Sehr gut«, sagte Paul laut. Joel beherrschte sein
Handwerk. Er hatte den Verdächtigen darauf hingewiesen, dass er
jederzeit gehen konnte, was bedeutete, Burgos befand sich offiziell
nicht in Gewahrsam, und die Miranda-Rechte mussten nicht verlesen
werden. Vorher hatte Joel ihm noch geschickt ein Essen auf Kosten
des Hauses angeboten. Jetzt konnte er ein nettes, entspanntes
Gespräch führen, in dem das Wort Anwalt kein einziges Mal zu
fallen brauchte. Doch Terry Burgos würde bald merken, dass es auf
dieser Welt so etwas wie ein Gratismittagessen nicht gab.
»Was haben Sie heute Morgen so getrieben,
Terry?«
Der Verdächtige zuckte mit den Achseln. »Nicht
viel.«
»Haben Sie zufällig Radio gehört?«
»Nur meine Musik.«
»Also kein Radio heute?«
»Nö.«
»Wie sieht’s mit Fernsehen aus? Mal
reingeschaut?«
»Auch nicht.«
»Haben Sie mit jemand gesprochen? Nachbarn? Sonst
irgendjemand?«
Burgos schüttelte den Kopf. »Niemand.«
Pauls Vertrauen in den Detective wuchs. Lightner
hatte gerade ein paar mögliche Fallstricke ausgeräumt. Als die
Polizei Burgos am späten Vormittag festgenommen hatte, hätte er
bereits durch Radio- oder Fernsehnachrichten von den Morden
erfahren haben können. Lightners Fragen aber hatten ergeben, dass
er keine Nachrichten gehört hatte, also Kenntnisse der Tatumstände
im Nachhinein nicht auf Fernsehen, Radio oder auch Nachbarn
abschieben konnte. Alles was er aussagte, wusste er allein aus
eigener Erfahrung.
»Sie haben gelegentlich in Mansbury gejobbt, ist
das richtig?«, fragte Lightner.
»Stimmt.«
»Malerarbeiten, Straßen ausbessern, Blätter
zusammenrechen, Schnee schippen. Solche Sachen.«
»Genau.«
»Reinigungsarbeiten?«
»Manchmal. Was die mir eben so aufgetragen
haben.«
Joel kratzte sich an der Wange.
»Ich arbeite nicht mehr für die«, fügte Burgos
hinzu.
»Sie arbeiten nicht mehr in Mansbury?«
Burgos schüttelte den Kopf.
»Warum nicht, Terry?«
»Keine Ahnung.« Burgos zuckte mit den Achseln. »Die
haben mich gefeuert.«
Ein Uniformierter erschien mit der Coke, und Burgos
lebte sichtlich auf. Er riss die Dose auf und trank einen Schluck.
Paul hatte selbst noch nicht allzu viele Verhöre durchgeführt, aber
die letzten Fragen schienen ihm wenig ergiebig. Er selbst hätte
Burgos diese Informationen nicht aus der Nase gezogen, sondern ihn
knallhart damit konfrontiert, um ihm zu zeigen, dass sie Bescheid
wussten und sich nicht auf der Nase herumtanzen ließen. Lightner
dagegen spielte den Dummen.
Doch es führten viele Wege zu einem Geständnis.
Joel musste es auf seine Weise über die Bühne bringen, so gerne
Riley sich auch eingeschaltet hätte.
»Als Sie noch dort gearbeitet haben, Terry«, sagte
Lightner, »waren Sie da mal im Bramhall Auditorium?«
Burgos musterte die Coladose wie einen
preisgekrönten Diamanten. Er leckte sich die Lippen und nahm noch
einen Schluck. »Ja, war ich«, erwiderte er.
»Sind Sie auch unten im Keller gewesen? Wo die
Reinigungsmittel lagern?«
Joel kam jetzt wieder mehr zur Sache, mit einer für
die Vernehmung zweifellos entscheidenden Frage, egal ob die Antwort
ja oder nein lautete.
»Ja«, erwiderte Burgos.
Riley wandte sich an Chief Clark. »Sagen Sie Ihrem
Beamten, er soll das Essen nicht reinbringen, bevor Sie ihm den
Befehl dazu geben.« Eigentlich meinte Riley, bevor ich
den Befehl dazu gebe, aber er wollte niemandem auf die Füße
treten.
»Und hat da jeder Zutritt, Terry? Könnte zum
Beispiel ich da einfach so reinspazieren und runter in den Keller
gehen?«
»Sie brauchen den Schlüssel.«
»Haben Sie einen Schlüssel?«
»Als ich dort gearbeitet hab, hatte ich welche zu
allen Gebäuden.«
Paul hielt den Atem an. Das war einer dieser
Momente. Während einer Befragung suchte man immer nach dem
Durchbruch. Manchmal kam er wie von selbst. Oft war es aber auch
wie ein Spiel, in dem eine ganze Reihe von möglichen Fragen die
Schleusen öffnen konnte. Der Job des Verhörenden bestand darin, im
Damm herumzustochern, bis er das Loch fand.
Burgos war der Frage ausgewichen.
»Und jetzt?«, fragte Lightner. »Besitzen Sie die
Schlüssel noch?«
»Ich hab sie zurückgegeben.«
Wieder ausgewichen. Natürlich hatte er die
Schlüssel zurückgegeben. Aber hatte er sich vielleicht eine Kopie
machen lassen?
Die Vermutung lag nahe – und mehr als vermuten
konnte man hier nicht -, dass Burgos sich Nachschlüssel von allen
Gebäuden in Mansbury hatte anfertigen lassen. Daher hatte die
Dekanin des College, Janet Scotland, den Unterricht auf unbestimmte
Zeit ausgesetzt und das Schulgelände zur Sperrzone erklärt, damit
die Untersuchungsbeamten in sämtlichen Ecken und Winkeln nach
weiteren Leichen stöbern konnten. Auf dem gesamten Campus herrschte
Ausgangssperre. Die Studenten der Sommerkurse, die heute hätten
beginnen sollen, mussten auf ihren Zimmern bleiben, Polizisten
kontrollierten die Eingänge der Wohnheime. Zwischen dem
Universitätsgelände und der Druckerei, in der Burgos gearbeitet
hatte, fahndete fast das gesamte Police Department nach Leichen und
Beweisstücken.
Lightner hatte sich offensichtlich dazu
entschlossen, die Sache mit den Schlüsseln nicht weiter zu
forcieren. Wie die Beamten im Observationsraum hatte auch er
Burgos’ Empfindlichkeit in diesem Punkt registriert und sich
entschieden, den lockeren Plauderton beizubehalten. Er erkundigte
sich bei Burgos, was dieser in den letzten zwei Wochen so getrieben
und wo er sich aufgehalten hatte. Der Gerichtsmediziner konnte mit
einiger Bestimmtheit sagen, dass alle Morde innerhalb der letzen
vierzehn Tage verübt worden waren. Das lief auf mindestens ein
Opfer alle zwei Tage hinaus, vielleicht auch eines pro Tag.
Die Polizei hatte mittlerweile die Führerscheine
der sechs Frauen gefunden, in einer Schublade in Burgos’
Schlafzimmer. Damit waren ihre Namen bekannt, und man hatte sie in
den Computer eingespeist. Da waren zum einen die beiden
Studentinnen, Ellie Danzinger und Cassie Bentley, und die vier
anderen Frauen, die nicht in Mansbury eingeschrieben waren. Alle
vier waren zumindest einmal wegen Prostitution aufgegriffen worden.
Zwei Studentinnen und vier Huren also.
Nun waren sie auf der Suche nach Freunden der
Opfer, um ein grobes Zeitraster zu erstellen. Es war häufig schwer
zu ermitteln, wann eine Prostituierte genau verschwunden war, weil
die üblichen Informationsquellen – Arbeitgeber, Eltern, Ehepartner
– fehlten. Trotzdem bestand eine gewisse Chance, etwas zu erfahren,
besonders von ihren Vermietern, vorausgesetzt, sie hatten einen
festen Wohnsitz. Natürlich wäre es äußerst hilfreich gewesen, den
Zeitpunkt ihres Verschwindens schon vor der Befragung des
Verdächtigen zu kennen. Man hätte dann die Fragen nach Burgos’
Alibi präziser eingrenzen können.
Doch dazu war keine Zeit. Jeden Augenblick konnte
Burgos die Unterstützung eines Anwalts erhalten, und der würde ihm
mit Sicherheit als Erstes einen Maulkorb verpassen. Also musste
Joel ihn über jeden einzelnen Tag der letzten zwei Wochen
ausquetschen.
Die Befragung ergab ein typisches Muster, wie es
wahrscheinlich im Leben von jedem Menschen existiert. Terry
arbeitete tagsüber nicht, da man ihn in Mansbury gefeuert hatte,
jobbte aber nachts von Montag bis Freitag in der Druckerei von
Professor Frank Albany.
»Mit wem arbeiten Sie in der Druckerei
zusammen?«
»Normalerweise bin ich allein – jedenfalls nachts.«
Er schwenkte die leere Coladose, rülpste laut und kicherte.
»Und das soll unser Serienmörder sein?«, murmelte
einer der Staatsanwälte im Observationsraum.
»Wie sind Ihre Arbeitszeiten, Terry?«, fragte
Lightner.
»Kommt drauf an.«
»Was heißt, kommt drauf an?«
»Was eben so ansteht. Normalerweise fang ich abends
um sechs an. Dann mach ich so lange, wie sie mich brauchen.«
Obwohl Lightner mehrfach nachhakte, konnte der
Verdächtige keine genauen Angaben darüber machen, wann er in den
letzten beiden Wochen in der Druckerei gearbeitet hatte. Diese für
den Fall entscheidende Information würde jedoch leicht zu ermitteln
sein.
Noch weniger auskunftsfreudig zeigte sich Burgos,
als es um seine Beschäftigung tagsüber ging. Er sei zu Hause
gewesen, manchmal mit dem Truck raus aufs Land gefahren, doch auf
irgendwas Konkretes an einem bestimmten Tag ließ er sich nicht
festnageln.
»Wie notieren Sie Ihre Arbeitsstunden in der
Druckerei?«, fragte Joel, das Thema wechselnd. Eine übliche
Verhörtechnik. Zu einem unbequemen Thema zurückkehren und die
Reaktion beobachten. »Tragen Sie sich in eine Liste ein, oder haben
Sie eine Stempelkarte?«
»Ich trag mich ein.« Burgos rutschte auf seinem
Stuhl hin und her. Entweder ein kleiner klaustrophobischer Anfall,
oder der Hunger setzte ein.
»Das Ganze läuft also auf einer Art
Vertrauensbasis, sehe ich das richtig? Wenn Sie sich eintragen und
dann gleich wieder verschwinden würden, bekäme das keiner mit,
oder?« Joel zuckte mit den Achseln. »Schließlich arbeiten Sie da
nachts ganz alleine.«
»Vermutlich könnte ich das«, stimmte Burgos zu,
rascher, als Paul es erwartet hätte.
Riley blickte auf seine Uhr. Es war zwanzig nach
zwei. »Bringt ihm sein Mittagessen«, wies er den Chief an. Kurz
darauf erschien ein Beamter im Raum, in der Hand zwei Essenstüten,
die er im Kantinenofen warm gehalten hatte.
Sie brauchten eine kurze Auszeit, um das weitere
Vorgehen festzulegen. Joel sah das offensichtlich ähnlich, denn er
verließ das Verhörzimmer. Als er den Observationsraum betrat,
seufzte er und lockerte seinen Nacken. »Der Kerl ist nicht dumm«,
sagte er zu Riley. »Er weiß genau, was er zugeben darf und wo er
sich rausreden kann. Der Typ hat tagsüber keine Verpflichtungen und
arbeitet nachts allein in einer Firma.«
Riley schaute sich im Raum um. »Irgendwelche
Vorschläge?«
Es hagelte Ideen vonseiten der Staatsanwälte und
Detectives, denn jeder wollte bei diesem Fall mitreden. Hart in die
Mangel nehmen. Ihm die Verbrechen auf den Kopf zusagen. Tun, als
wäre er gar nicht verdächtig, sondern ein Zeuge. Ihn um Mithilfe
bitten. Jeder der Vorschläge konnte möglicherweise zu einer Lösung
führen.
Doch Riley musste ständig daran denken, dass der
Kerl bereits seit zwei Stunden auf dem Revier hockte und noch kein
einziges Mal gefragt hatte, warum er eigentlich hier war.
Vieles in diesem Job lief letzten Endes auf reines Bauchgefühl
hinaus.
Riley musterte die Wand mit den Fotografien der
sechs Opfer. Von jedem der Mädchen gab es über ein Dutzend
Aufnahmen, aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln und
Entfernungen. »Holt mir eine neue Mappe«, sagte er zu niemand
Bestimmtem. In der Zwischenzeit wählte er von jedem Opfer ein Foto
aus und reduzierte so die Zahl von über sechzig auf sechs. Diese
sechs Aufnahmen schob er in die neue Mappe. Er studierte sie einen
Moment und entfernte dann das Foto des ersten Opfers, Ellie
Danzinger.
Blieben fünf Aufnahmen, von den Opfern zwei bis
sechs.
Riley hatte einen weiteren Einfall und arrangierte
die Fotos der Leichen in einer anderen Reihenfolge, als sie auf dem
Kellerboden gelegen hatten.
»Zeigen Sie ihm die Aufnahmen, während er isst«,
wies er Joel an.
»In Ordnung.«
»Aber notieren Sie vorher, wie die Bilder jetzt
angeordnet sind«, ergänzte Paul. Lightner nickte, und die Übrigen
im Raum schauten ihm zu, als er die Reihenfolge auf einen
Notizblock kritzelte. Plötzlich stutzte er.
»Sie sind falsch angeordnet.« Er blickte Riley aus
schmalen Augen an. »Und wir lassen Ellie raus.«
»Genau.«
»Gefällt mir.« Joel ging kurz zur Toilette, während
Riley und die anderen Terry Burgos beim Verspeisen seiner Tacos
beobachteten. Burgos ging dabei mit großer Sorgfalt vor, fügte
jeweils einen kleinen Spritzer Chilisoße hinzu und löffelte zu
jedem Bissen eine mundgerechte Portion Guacamole.
Joel kam mit der Mappe ins Verhörzimmer und
platzierte sie so vor Burgos, dass dieser die Fotos im Blick hatte.
Doch der Verdächtige aß ungerührt weiter. Also erhob sich Joel
wieder und schlenderte um den Tisch herum auf Burgos’ Seite. »Was
halten Sie von den Bildern, Terry?«
Burgos schob sein Essen und seine frische,
Kondensperlen schwitzende Coke beiseite. Er wischte sich die Hände
an der Serviette ab, fächerte die fünf Fotos vor sich auf und
unterzog sie einer genaueren Begutachtung. In seinem Gesicht
spiegelte sich weder Abscheu noch Wiedererkennen. Als ob er mit
der Szene vertraut wäre, schoss es Riley durch den Kopf. Burgos
musterte jedes Bild ausgiebig und wischte sich dann erneut die
Hände an der Serviette ab, bevor er mit den Fingern langsam über
die toten Frauen auf den Hochglanzvergrößerungen fuhr. Er murmelte
irgendwas Unverständliches. Dann reckte er, noch immer leise
murmelnd, einen Finger und tippte einmal leicht auf jedes Foto.
Joel Lightner ließ den Verdächtigen nicht aus den Augen, sprach ihn
aber nicht an. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt.
Burgos nahm jetzt die Fotos und begann sie neu zu
sortieren.
Rileys Herz pochte. Er konnten nicht erkennen, in
welcher Reihenfolge Burgos die toten Mädchen arrangiert hatte,
wusste aber instinktiv, dass sie nun der Anordnung auf dem
Kellerboden des Bramhall Auditorium entsprach.
Burgos warf einen neugierigen Blick auf Joel, dann
sah er wieder hinab auf die Fotos. Er hob die Mappe an und schaute
darunter nach. Dann bog er die Ecken jedes einzelnen Abzugs um, als
prüfte er, ob ein weiterer darunterklebte.
»Jetzt wird’s spannend«, flüsterte Riley.
Der Chief sagte: »Was macht er …«, aber Riley legte
ihm rasch die flache Hand auf die Schulter und bewegte sich sacht
in Richtung Spiegel.
Terry Burgos spähte zu Joel empor. »Wo ist die
Erste?«, fragte er. »Wo ist Ellie?«