13. Kapitel
Detective Michael McDermott biegt mit seinem Chevy in den Carnival Drive ein, wo an diesem lauen Abend die ganze Nachbarschaft auf den Beinen ist und sich in Grüppchen vor den Häusern versammelt hat. Ein blauer Lieferwagen mit der Aufschrift COUNTY ATTORNEY TECHNICAL UNIT parkt in der Auffahrt.
Der Anruf kam zwei Minuten vor fünf – zwei Minuten, bevor McDermott und seine Partnerin Stoletti Dienstschluss gehabt hätten. Der Carnival Drive liegt in der North Side, die an die Vorstädte angrenzt, und nur einen Häuserblock weiter beginnt schon der nächste Polizeibezirk.
Zwei Minuten später, einen Häuserblock weiter, und er säße jetzt zu Hause und könnte mit seiner Tochter Grace zu Abend essen.
»Hier oben werd ich immer ganz wehmütig.« Detective Ricki Stoletti schiebt sich einen Streifen Kaugummi in den Mund, als sie am Bordstein bremsen. Stoletti ist jetzt seit drei Jahren seine Partnerin – seit man sie von der bezirksübergreifend operierenden Major Crimes Unit in den nördlichen Vorstädten hierher versetzt hat.
Sie hätte den Hörer nicht abheben müssen, sie hätte den Auftrag an jemand anders weitergeben können. Einen Mordfall zu übernehmen, bedeutet mindestens drei Stunden Arbeit. Mr. Frederick Ciancio hatte ihnen beiden den Abend versaut.
Ein Streifenpolizist, ein stämmiger Ire namens Brady, unterbricht die Befragung eines Nachbarn und marschiert zu ihnen herüber. »Hey, Chief. Hey, Ricki.«
McDermott verkneift sich die entsprechende Antwort, er zieht lediglich die Augenbrauen nach oben.
»Frederick Ciancio«, sagt Brady und blättert dabei in seinem Notizbuch. »Zweiundsechzig. Pensionierter Wachmann, Bristol Security. Hat mal als Vollzugsbeamter im Ensign Correctional gearbeitet.«
»Ensign. Aha.« Stoletti kaut energisch auf ihrem Kaugummi herum. Ensign ist ein Hochsicherheitsgefängnis im Westen des Bezirks. »Wie lange war er da?«
Brady starrt sie an. Viele Männer mögen keine Frauen, die größer sind als sie, und Stoletti mit ihren durchtrainierten einsfünfundsiebzig passt da genau ins Bild. Für sie spricht, dass sie ein robustes Auftreten hat. Sie streift sich den Pony aus dem Gesicht. Das ist ein weiterer Pluspunkt: Sie ist keine von denen, die sich aufdonnern und die Haare färben, sie sind von einem schlichten Hellbraun, durchsetzt mit natürlichen grauen Strähnen.
»Der Nachbar meint, bis in die späten Siebziger«, erwidert Brady. »Danach war er fünfundzwanzig Jahre im Sicherheitsdienst.«
McDermott speichert die Information ab. Gefängniswärter machen sich unter Gefangenen sowohl Freunde wie auch Feinde. Aber fünfundzwanzig Jahre außer Dienst sind eine lange Zeit. »Mehrere Stichwunden?«, fragt er.
»Mehrere ist leicht untertrieben. Ich schätze, bei der Waffe handelt es sich um einen Kreuzschlitzschraubenzieher.« Brady nickt in Richtung der Schaulustigen. »Ein Nachbar hat vorbeigeschaut, weil Ciancio nicht beim Pokern auftauchte. Sein Auto stand immer noch in der Garage, und da der Nachbar einen Zweitschlüssel besitzt, ist er rein und hat sich umgesehen. Er hat ihn im Schlafzimmer gefunden.«
McDermott lässt den Blick über die umliegenden Häuser schweifen, die an diesem Juniabend um sechs in helles Sonnenlicht gebadet sind. Hier im Viertel leben auch ein paar Cops, die nicht außerhalb der Stadtgrenzen, gleichzeitig aber tunlichst vorstädtisch wohnen wollen, sprich, mit so wenig Kriminalität wie möglich. Es ist eine bescheidene Straße, viele Bungalows mit ein paar Quadratmetern Grün und Einzelgaragen, aber sie hätte genauso gut in eine Vorstadt gepasst. Ein ruhiger, netter Ort.
»Ist der Gerichtsmediziner schon da?«, will Stoletti wissen. Brady schüttelt den Kopf. »Wir vermuten aber, er ist letzte Nacht gestorben. Das Ganze ist keine vierundzwanzig Stunden her, würd ich sagen.«
McDermott funkelt Brady an, lässt die Sache dann aber auf sich beruhen. Einfache Streifenbeamte wollen sich immer gern ein bisschen wichtig machen.
»Gut gemacht, Brady«, sagt er. Er duckt sich unter dem Absperrband durch, Stoletti folgt ihm, und sie betreten das Haus.
Im Flur liegt eine breite Alarm-Fußmatte gegen Einbrecher, nicht ungewöhnlich für jemanden, der als Wachmann gearbeitet hat. »Wir sollten überprüfen, ob beim Sicherheitsdienst eine Meldung eingegangen ist«, sagt er zu Stoletti. Gelegentlich zwangen Einbrecher den Hausbesitzer, ihnen den Code für die Alarmanlage zu geben, um sie abzuschalten. In so einem Fall konnte man dann die Tatzeit genauer eingrenzen.
Ein weiterer uniformierter Beamter steht in der Küche, ein Kerl namens Abrams, der sich mit einem Mitarbeiter der Spurensicherung von der Bezirksstaatsanwaltschaft unterhält. Er informiert McDermott, dass das Schloss an der Hintertür beschädigt ist. »Und die Sicherheitsfirma hat seit einem Jahr keine Alarmmeldung mehr aus diesem Haus erhalten.«
»Danke, Ronnie.« Das ersparte ihm einen Anruf. Bleiben drei Möglichkeiten. Erstens, Ciancio hat seine Alarmanlage nicht eingeschaltet – unwahrscheinlich für jemanden, der sein Leben lang im Sicherheitsdienst war. Zweitens, der Eindringling kannte den Code der Alarmanlage. Drittens, der Täter ist eingedrungen, als die Alarmanlage noch abgeschaltet war – irgendwann im Lauf des Tages, als Ciancio im Haus war, aber keinen Verdacht schöpfte -, und hat ihn dann später in der Nacht überrascht; so umging er den Alarm, weil er bereits im Haus war. Allerdings hätte der Täter auch in diesem Fall Ciancio den Code abnötigen müssen, bevor er ihn umbrachte, um später ungehindert verschwinden zu können.
Die Leute der technischen Einheit der Staatsanwaltschaft bepinseln das Treppenhaus auf der Suche nach Fingerabdrücken, als McDermott und Stoletti die Stufen hinaufsteigen. McDermott erinnert die Techniker daran, auch die Alarmmatte auf Abdrücke hin zu untersuchen. Die Stufen sind mit flauschigem weißem Teppichboden ausgelegt. Auf verschiedenen Stufen sind kleine Teppichproben entnommen worden.
Wie üblich flattert McDermotts Herz, als er sich dem Tatort nähert, und das, obwohl er sich selbst versichert: Das Opfer ist ein älterer Mann, gestorben an zahlreichen Stichwunden und einem gebrochenen Genick. Es ist nicht McDermotts vierunddreißigjährige Frau, die Liebe seines Lebens; es ist nicht Joyce, alle viere von sich gestreckt am Boden liegend, getötet von einer einzigen Kugel.
Das Schlafzimmer befindet sich am oberen Ende der Treppe. Das eigentliche Geschehen scheint sich auf das Bett beschränkt zu haben. Fred Ciancio liegt auf dem Rücken, Mund und Augen weit aufgerissen. Er trägt ein Pyjamaoberteil, dessen strahlendes Weiß von dunklen Flecken übersät ist – überall dort, wo der Körper durchbohrt wurde. Der vermutlich tiefste Einstich ist direkt unterhalb des Adamsapfels. Sein Kopf ruht auf dem Kissen. Die Decke ist auf die Fußgelenke herabgerutscht. Der durchdringende Geruch seiner Körperausscheidungen, darunter Urin und Fäkalien, wird noch verstärkt durch die schwüle Luft, die durchs geöffnete Fenster hereindringt. Vermutlich wollte jemand lüften, aber die hohe Luftfeuchtigkeit macht alles nur noch schlimmer.
»Ich habe zweiundzwanzig gefunden«, sagt ein Kriminaltechniker namens Soporro und tritt aus dem Bad. »Zweiundzwanzig Wunden. Die tödliche im Hals.«
Anscheinend sind ihm die übrigen Verletzungen vor dem Tod beigebracht worden. Zu viel Blut, aus zu vielen Wunden. Wären die Einstiche erst post mortem erfolgt, hätte das Herz kein Blut mehr gepumpt, und es wäre wesentlich weniger davon ausgetreten, selbst durch die Schwerkraft. McDermott nähert sich der Leiche und wirft einen Blick auf die Wunden im Schulter- und im Brustbereich, die nicht vom Pyjama bedeckt sind. Kleine, kreisrunde Löcher.
Ein Kreuzschlitzschraubenzieher, hat der Streifenbeamte gesagt.
Diese Einstiche sind nicht sonderlich tief, haben gerade mal die oberste Hautschicht durchbohrt.
»Er wurde gefoltert«, murmelt McDermott.
»Mike«, ruft ein Beamter von unten aus dem Flur. »Wir haben die Waffe gefunden.«
 
Urplötzlich sind die Magenschmerzen wieder da. Die Säure ätzt die Magenwände an, und die Schleimhäute brennen wie die Hölle, als schleife man mit Sandpapier über eine offene Wunde.
Schluss damit. Schluss. Er beißt sich auf die Lippen und zählt, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei. Schon wieder vorbei. Wie ein Blitzschlag. Die Frage ist, wann sie zurückkehren.
Leo betrachtet sich im Rückspiegel. Er fährt mit dem Finger über die Narbe unterhalb seines einen Auges, ein Halbmond, der einzige bedrohliche Zug in einem ansonsten weichen, pockennarbigen Gesicht.
Weich. Alle halten mich für weich. Weich wie Flaum. Weich wie ein kuscheliges Kätzchen.
Er zuckt zusammen, als ein Polizist die Fahrertür streift. Leo duckt sich und tut so, als würde er irgendwas im Handschuhfach suchen – so kann er unauffällig nach rechts schielen, ob auch auf der anderen Wagenseite jemand steht. Sein Fuß tastet sich vorsichtig über die Matte im Fußraum, berührt die Pistole, zieht sie heran, damit er sie im Notfall rasch packen kann.
Rechts scheint die Luft rein zu sein. Er atmet tief durch und zählt von zwanzig an rückwärts.
Neunzehn – achtzehn -
Zwei Autos weiter klemmt der Uniformierte einen Strafzettel unter den Scheibenwischer. Hat er zu Leo zurückgeblickt? Hat er einem Kollegen hinter Leo ein Zeichen gegeben?
Leo rutscht langsam auf dem Sitz herum und dreht den Hals nach hinten. Ein dichtes Gewühl von Passanten und Verkehr.
Sonst nichts.
Gerade als Leo sich wieder zurückwendet, verlässt Paul Riley das Gebäude, keine fünfundzwanzig Minuten nachdem er es betreten hat. Er trägt einen Smoking. Und er ist in Begleitung eines Mannes.
Ist das – ist er das wirklich? Kann das sein?
Der Cop? Lightner?
Tatsächlich. Joel Lightner.
Riley wirkt missmutig, er diskutiert mit Lightner und winkt ein Taxi herbei.
Joel Lightner. Lightner Joel.
Leo späht rasch durch das Rückfenster. Er muss höllisch aufpassen, das könnte eine Art Ablenkungsmanöver sein. Sie warten, bis er seine ganze Aufmerksamkeit auf Riley richtet, dann schlagen sie zu, schnappen ihn sich – verdammt, schau nach links, schau nach rechts -, niemand, kein Mensch, vielleicht haben sie ihn doch noch nicht entdeckt, noch nicht.
Riley und Lightner.
Leo startet den Wagen. Er versucht, ein Lächeln aufzusetzen, aber es klappt nicht, es fällt einfach wieder in sich zusammen. Er legt den Gang ein, als Riley und Lightner in ein Taxi steigen.
 
Nach einer Stunde tritt McDermott wieder aus dem Haus. Er saugt die warme, reine Luft ein und vermeidet den Augenkontakt mit ein paar Reportern, die sich in der Nähe des Absperrbands herumdrücken.
Der Rechtsmediziner hat ihnen einen vorläufigen Bericht über die Todesursache geliefert. Wie bereits erwartet, war der mit voller Wucht ausgeführte Stoß in Ciancios Kehle die Todesursache und nicht die zahlreichen Fleischwunden. Der Täter wollte sich bloß ein bisschen mit ihm vergnügen, ehe er ihn erstach. Während er und Stoletti auf den Wagen zugehen, bemerkt er, wie eine Reporterin ihnen folgt, deren Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkommt. Sie hat weder ein Mikrophon noch eine Kamera bei sich.
»Detective McDermott? Evelyn Pendry von der Watch.«
Die Watch. Richtig. Sie ist Kriminalreporterin. Von der Presse, nicht vom Fernsehen, obwohl sie mit diesem Gesicht eigentlich vor eine Kamera gehört. Ihr Körper ist in jeder Hinsicht perfekt, ihr glänzendes, blondes Haar streng zurückgekämmt, das taubenblaue Kostüm sitzt wie angegossen.
»Kein Kommentar«, knurrt er.
»Wurde Mr. Ciancio mit einem Kreuzschlitzschraubenzieher getötet?«
McDermott wirft einen Blick zu Stoletti hinüber, die auf ihrem Weg zur Beifahrertür kurz innehält. Dieser verdammte Brady. Was hat Evelyn Pendry ihm dafür versprochen? Eine Erwähnung in ihrem Artikel? Einen romantischen Abend zu zweit?
»Er hat doch gesagt, kein Kommentar«, faucht Stoletti. »Und wenn Sie einen Funken Journalistenehre im Leib haben, werden Sie diese Information auch nicht drucken.«
»Ich muss mit Ihnen sprechen.« So, wie sie es sagt, klingt es eher wie eine dringende persönliche Bitte.
McDermott, schon halb im Wagen, lehnt sich wieder hinaus. »Haben Sie mir was zu sagen?«
Sie blinzelt. Dann bemerkt sie, dass drei weitere Reporter sie eingeholt haben und ihre Kameras auf die Cops richten.
Evelyn Pendry schüttelt kurz den Kopf. Nein. McDermott mustert sie noch einen Moment, doch sie wendet sich resigniert ab. Er schließt die Tür und fährt los.
In Gottes Namen
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