22. Kapitel
Mike McDermott lehnt an der Wohnzimmerwand und schaut Grace zu, die ihrer Großmutter vorliest. Das tut er häufig in letzter Zeit, er betrachtet einfach nur still seine siebenjährige Tochter und fragt sich, wie es kommt, dass sich ein Mann, der es tagtäglich mit brutalen Kriminellen und blutigen Tatorten zu tun hat, angesichts dieses zarten kleinen Kindes so verletzlich und eingeschüchtert fühlt.
Sie liest ausgezeichnet vor, hatte ihr Lehrer gesagt. Sie hat die Intelligenz ihrer Mutter, ihren kritischen Verstand, die sprachliche Gewandtheit. Und ihr Verhalten ist dieses Jahr viel ausgeglichener. Weniger Ausbrüche. Mehr soziale Kontakte.
Jahr vier, denkt er. Er berechnet ihr Alter nicht vom Tag ihrer Geburt an, sondern von Joyces Todestag. Sie hat immer noch diese Träume, stellt Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Aber Dr. Sutton sagt, es gäbe keine Hinweise auf Störungen in ihrer kindlichen Psyche. Ihm zufolge erben etwa ein Drittel der Kinder die Disposition ihrer Eltern für manisch-depressive Störungen – also bleiben fast siebzig Prozent verschont. McDermott hat den Arzt auf die Fachliteratur hingewiesen – frühe psychische Störungen können sich unter anderem in leichten Depressionen äußern, die sich später zu einer massiven manisch-depressiven Störung auswachsen -, aber der Arzt meinte, sie sei ein gesundes kleines Mädchen, das die ganze Sache gut verarbeitet.
Sie fühlt sich schuldig, fügte er hinzu, und in McDermotts Hals bildete sich ein dicker Kloß. Das ist nichts Ungewöhnliches. Schließlich war es ihre Mutter.
McDermott erinnert sich, wie er auf seine Schuhe starrte, unfähig etwas zu erwidern.
Und so beobachtet er Grace jeden Tag aufmerksam, in ihren guten und schlechten Phasen, sucht nach Vorboten, Warnsignalen.
Immer wenn sie trotzt oder weint oder wütend wird oder vor Freude herumhüpft, macht er sich innerlich eine Notiz. Eine Zeit lang hat er sogar eine Art Tagebuch geführt. Heute hat sie über einen Witz gelacht. Hat sich über ihren morgendlichen Haferbrei beschwert.
»Matt«, liest Grace mit ihrer Erzählerstimme vor, »der über die Jahre hinweg viele Gäste hatte kommen und gehen sehen, wusste, dass es zwei Sorten gab …«
Mikes Mutter Audrey McDermott hockt mit Grace auf dem Boden, hält ihr Enkelkind mit den Armen umschlungen und liest über Graces Schulter hinweg mit. Der Anblick rührt McDermott fast zu Tränen.
Das Telefon klingelt.
Die beiden blicken auf, aber McDermott hebt die Hand. Beim zweiten Klingeln nimmt er den Hörer ab, und nachdem er kurz gelauscht hat, formen seine Lippen lautlos das Wort Scheiße.
 
Kurz nach neun trifft McDermott bei dem Apartmenthaus ein und hält hinter einem der sechs Streifenwagen, die mit blinkenden Lichtern am Straßenrand parken. Überall drängen sich Übertragungswagen und Kamerateams und für ihren Auftritt geschminkte Reporter, die einen geeigneten Hintergrund suchen, sich irgendwas notieren und Scheinwerfer auf sich dirigieren. Eine der Journalistinnen pflanzt sich direkt vor dem Apartmenthaus auf und bittet den Kameramann um eine Einschätzung ihrer Position.
Das Gebäude liegt in der North Side, besitzt vier Etagen und einen kleinen Innenhof. Vermutlich alles Eigentumswohnungen, die wegen der Nachbarschaft erschwinglich sind, aber auch nicht sehr groß. Evelyn Pendry hat bei der Watch sicher kein allzu üppiges Gehalt bezogen.
Er betritt das breite innere Treppenhaus aus Beton. Auf den Stufen tummeln sich die Leute von der Spurentechnik und bepinseln das Geländer auf der Suche nach Fingerabdrücken, und das, obwohl es sich um einen Gemeinschaftsaufgang mit abertausenden von unbrauchbaren Fingerabdrücken und Fußspuren handelt. Kaum anzunehmen, dass der Killer so dumm war, sich am Geländer hochzuhangeln.
Auch auf der dritten Etage sind Spurentechniker am Werk, fahnden nach Fingerabdrücken und auf dem Flurboden nach anderen Beweisstücken, aber offensichtlich nur noch um der Vollständigkeit willen, denn wie es scheint, stehen die Untersuchungen kurz vor Abschluss.
McDermott starrt hinunter in den Hof, wo sich einige Nachbarn versammelt haben, nach oben gaffen und über die Ermordete tratschen. Einige von ihnen haben Evelyn Pendry vermutlich gekannt.
Ricki Stoletti kommt aus dem Apartment, in Jeans und dunklem Jackett.
Sie erteilt den uniformierten Beamten Instruktionen und späht dann den Gang hinunter. Sie nickt McDermott zu, gerade als eine weitere Frau das Apartment verlässt, die ihm bekannt vorkommt. Perfekt frisiertes blondes Haar, teures Kostüm.
Oh, natürlich. Die Mutter des Opfers, Carolyn Pendry. Die Nachrichtensprecherin.
Stoletti stellt sie einander vor. »Detective Mike McDermott, Carolyn Pendry.«
»Mrs. Pendry, mein Beileid.«
Carolyn Pendry ist der eigentliche Anlass für McDermotts Anwesenheit. Der Commander selbst hat ihn herzitiert. Sie ist eine der prominentesten Persönlichkeit der Stadt, und wenn ihr Kind ermordet wird, gebührt ihr der ranghöchste Detective im Dritten Bezirk.
Schnell bringt er das Vorgeplänkel hinter sich, denn er will in die Wohnung.
»Ich komme mit rein«, teilt sie ihm mit.
»Mrs. Pendry, ich glaube nicht …«
Samthandschuhe, hatte der Commander gesagt. Sie kriegt, was sie verlangt.
»Es wäre besser, wenn Sie …«
»Ich hab sie schon gesehen. Ich will nur wissen, was Sie darüber denken.«
McDermott blickt fragend zu Stoletti, deren Blick zu besagen scheint, was schaust du mich so an, du bist hier der Boss.
»Okay«, willigt er schließlich ein. »Gehen wir rein.«
 
Nach diesem Essen mit Harland müsste ich eigentlich mies gelaunt sein. Er hat von mir verlangt, einen »diplomatischen« Weg zu finden, um Evelyn Pendry am Fragenstellen zu hindern. Eine schier unlösbare Aufgabe. Dennoch ist meine Stimmung gar nicht so übel. Im Gegenteil. Ich schwebe geradezu nach meinem Rendezvous mit Shelly heute Nachmittag. Zwar ärgere ich mich auch darüber, dass ich so schnell nachgegeben und es ihr so einfach gemacht habe, aber anderseits – was habe ich schon zu verlieren?
Auf dem Nachhauseweg hole ich sie ab. Unser Gespräch plätschert harmlos dahin – Wie war dein Tag? Gut, und deiner? -, obwohl ich innerlich vor Erregung platze.
Kaum dass sie das Haus betreten hat, streife ich ihr die Kleider vom Leib. Kurz ziehe ich die Treppe in Betracht, aber die Stufen sind ohne Teppich, also trage ich sie ins nächste Zimmer und lege los. In meinem Herzen bin ich immer noch der wilde Basketballspieler von damals. Was mir an Talent fehlte, machte ich durch Einsatz wett, jagte jedem Ball hinterher, stürzte mich in die Zweikämpfe. Und den gleichen Ehrgeiz entfalte ich auch im Schlafzimmer, oder in diesem Fall im Wohnzimmer oder Salon, oder wie auch immer dieser Raum heißt. Womöglich erziele ich bei den Korbtreffern keinen zweistelligen Topscore, aber sie weiß, sie kriegt den vollen Riley-Einsatz.
Es fühlt sich anders an als heute Nachmittag. Sie hält sich nicht zurück, schiebt mir gierig die Zunge in den Mund, packt mich im Nacken, umschlingt meine Hüften mit ihren Beinen.
Wir sollten uns öfters trennen.
»Also das«, stöhne ich, »das war jetzt wirklich nett.«
Ich breche über ihr zusammen, spüre ihr Herz klopfen, ihren Atem an meinem Hals. Ich sauge den wunderbar fruchtigen Geruch ihres Haares ein, was mich keine größere Anstrengung kostet, da meine Nase ohnehin tief darin vergraben ist. Einen solchen Moment nett zu nennen, ist etwa so, als würde man einen Fallschirmsprung als recht interessant bezeichnen.
»Ich hatte Angst«, flüstert sie. »Ich hab Zeit gebraucht.« Ich blicke ihr direkt ins Gesicht, schiebe meine Arme unter ihren Rücken und drücke sie fest an mich.
»Ich liebe dich«, sagt sie.
Ich atme ein paarmal tief ein und gebe mir Mühe, meine Gesichtszüge nicht allzu sehr entgleisen zu lassen. Entzündet das Feuerwerk, Leute. Das hat sie noch nie zu mir gesagt.
 
McDermott verlässt Evelyn Pendrys Apartment und pumpt die frische Luft tief in seine Lungen. Keine Antworten, nur weitere ungeklärte Fragen.
»Wir waren zum Dinner verabredet, und sie ist nicht aufgetaucht«, erklärt Carolyn Pendry, lehnt sich gegen das Geländer und starrt hinunter in den Hof. »Ich habe sie in der Arbeit angerufen, zu Hause, auf dem Handy. Normalerweise geht sie immer an ihr Handy.«
»Irgendeine Ahnung, Miss Pendry, wer so was tun könnte?«
Evelyn Pendry wurde gefoltert. Ihre Leiche ist übersät mit Einstichen, die ihr alle vor dem letzten tödlichen Stich in die Schläfe beigebracht wurden. Die Waffe, ein gewöhnliches Schnappmesser, lag im Abfalleimer der kleinen Küche.
Das gleiche brutale Vorgehen wie bei Fred Ciancio letzte Nacht. Aber eine andere Waffe.
»Sie ist Kriminalreporterin.« Carolyn fährt sich über die Augen.
»Ich weiß«, sagt McDermott. »Wir sind uns gestern begegnet.«
Carolyn schaut ihn an, versucht seinen Ausdruck zu deuten.
»Sagt Ihnen zufällig der Name Fred Ciancio etwas?«
Sie erstarrt, als wäre irgendwo eine Sirene losgegangen, und schnappt nach Luft. Beim Zurückweichen prallt sie gegen Stoletti und schlägt sich die Hand vor den Mund.
»Also kennen Sie ihn«, schlussfolgert McDermott.
»Rufen Sie Paul Riley an«, stammelt sie.
»Paul …«
»Paul Riley.« Sie macht einen Schritt auf ihn zu, packt ihn am Arm. »Der Mann, der Terry Burgos vor Gericht gebracht hat.«
In Gottes Namen
cover.html
Section0001.html
elli_9783641019129_oeb_cover_r1.html
elli_9783641019129_oeb_toc_r1.html
elli_9783641019129_oeb_fm1_r1.html
elli_9783641019129_oeb_fm2_r1.html
elli_9783641019129_oeb_ata_r1.html
elli_9783641019129_oeb_ded_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p01_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c01_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c02_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c03_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c04_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c05_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c06_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c07_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p02_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c08_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p03_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c09_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p04_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c10_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p05_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c11_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c12_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c13_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c14_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c15_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p06_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c16_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c17_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c18_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c19_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c20_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c21_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c22_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c23_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p07_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c24_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c25_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c26_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c27_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c28_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c29_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c30_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c31_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c32_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c33_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c34_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c35_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c36_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c37_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p08_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c38_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c39_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c40_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c41_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c42_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c43_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c44_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c45_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c46_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c47_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p09_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c48_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c49_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c50_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c51_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c52_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p10_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c53_r1.html
elli_9783641019129_oeb_p11_r1.html
elli_9783641019129_oeb_c54_r1.html
elli_9783641019129_oeb_ack_r1.html
elli_9783641019129_oeb_cop_r1.html