28. Kapitel
Stoletti und ich fahren schweigend zurück. Ihr Benehmen mir gegenüber war nie wirklich herzlich, aber seit sie weiß, dass ich Harland Bentleys Anwalt bin, ist unsere Beziehung noch um ein paar Grad abgekühlt. Es fühlt sich merkwürdig an, dieses Schweigen, denn immerhin hat uns die Information, Cassie könnte schwanger gewesen sein und abgetrieben haben, beide gleichermaßen getroffen. Ein echter Knaller – aber Stoletti behandelt mich, als sei ich ein Fahrgast in ihrem Taxi. Die verabredete Politik des offenen Informationsaustauschs scheint mir immer mehr zu einer Einbahnstraße zu verkommen.
Vor dem Revier steige ich in meinen Wagen um. Von meinem Handy aus rufe ich die Auskunft an und frage nach einer bestimmten Nummer in Lake Coursey, wo Harlands Vermutung nach seine Nichte immer noch lebt.
Man teilt mir mit, es gäbe zwei Nummern. »Eine Gwendolyn Lake in der Spring Harbour Road, und ein Gwendolyn’s Lake Diner in der County Road 29.«
Das reiche Party-Girl Gwendolyn besitzt ein Lokal?
Ich lasse mir Adresse und Telefonnummer geben, und zwar gleich für beide Einträge. Anschließend beauftrage ich meine Assistentin Betty damit, auf MapQuest für mich die Routen zu beiden Adressen zu ermitteln.
Ich fahre bei der Juristischen Fakultät vorbei, wo Shelly arbeitet. Sie wartet draußen auf mich. Heute hat sie keinen Gerichtstermin, und es ist Sommer, daher trägt sie eine Bluse und Bluejeans. Ungeachtet des ernüchternden Treffens mit Professor Albany steigt meine Laune sofort beträchtlich.
Sie springt in den Wagen, und ich atme ihren Duft ein. Kurz erwäge ich, mich rüberzubeugen und sie zu küssen, aber dann denke ich – langsam. Ich habe es versprochen.
Als sie dann aber mein Gesicht zu sich rüberdreht und mir selbst einen dicken Kuss aufdrückt, widerstehe ich nicht länger.
»So führst du also Frauen aus?«, fragt sie. »Du nimmst sie mit zu einer Zeugenvernehmung?«
Ich starte den Wagen. »Wir fahren Richtung Norden«, erkläre ich. »Deine Lieblingsgegend.«
Shelly wuchs im Norden des Staates auf, wo ihr Vater Staatsanwalt war, bevor er für das Amt des Bezirksstaatsanwalts und später für das des Gouverneurs kandidierte. Sie war inzwischen ein waschechtes Großstadtmädchen, trotzdem beschwerte sie sich immer mal wieder, dass sie nachts nicht die Sterne sehen konnte und ihr die klare, reine Luft fehlte.
»Und wenn wir schon mal da oben sind«, füge ich hinzu, »können wir uns gleich nach einem Zweitwohnsitz umschauen. Ein Haus am See mit eigenem Boot.«
Sie schluckt den Köder nicht, also stichle ich weiter.
»Aber lass uns nichts überstürzen. Erst müssen wir mal dafür sorgen, dass du schwanger wirst. Und dann die Hochzeit, natürlich in der Gouverneursvilla. Ich hab schon mal eine vorläufige Gästeliste erstellt. Findest du zweitausend Leute zu viel?«
Mein Gesicht bleibt todernst, und ich halte die Augen stur nach vorne gerichtet.
»Wollen Sie mich veräppeln, Mr. Riley?«
Ich ergreife ihre Hand, die sie mir gnädig überlässt, und küsse sie.
»Ms. Trotter – die wahre Bedeutung des Wortes langsam werde ich Ihnen erst eröffnen.«
»Vergiss nicht, Paul, ich hab dich schon mal beim Joggen beobachtet.«
Das Leben ist großartig. Ich fühle mich wie ein Teenager nach dem ersten Kuss.
»Erzähl mir von gestern Nacht«, bittet sie.
Ich musste Shelly letzte Nacht verlassen, als sie mich wegen Evelyn anriefen. Jetzt kriegt sie von mir die ausführliche Version, und da wir noch über hundert Meilen vor uns haben, berichte ich ihr gleich auch von Professor Albany.
Als ich schließlich schweige, sagt sie: »Wer immer der Täter ist, er verfolgt eine klare Absicht.«
Da der Interstate um die Mittagszeit relativ leer ist, beschleunige ich auf fast siebzig Meilen, während wir durch den nördlichen Teil des Staates fahren, zumeist flaches, dünn besiedeltes Farmland.
»Er hat seine Opfer gezielt ausgewählt«, führt sie weiter aus. »Evelyn hat Fred Ciancio angerufen, und jetzt sind beide tot. Er hinterlässt für euch am Tatort die Waffen aus dem Song. Und die Nachricht: Ich bin nicht der Einzige. Er tut nichts, um seine Taten zu verbergen. Die Frage ist nur, warum?«
Was die Opfer betrifft, hat sie sicher recht. Ciancio steht unzweifelhaft in Verbindung mit dem Fall Burgos, das belegt sein Anruf bei Carolyn Pendry. Und dann meldet er sich kürzlich auch noch bei Carolyns Tochter Evelyn. Das kann kein Zufall sein.
»Die andere Frage ist«, fährt sie fort, »wie Cassie Bentley ins Bild passt. Die Geschichte mit ihrer angeblichen Schwangerschaft und der Abtreibung. Hast du davon gewusst?«
Ich schüttle den Kopf. »Damals hieß es immer nur, Cassie sei ein schwieriges Mädchen gewesen. Das kriegten wir am laufenden Band zu hören.
Außerdem soll sie sehr zurückgezogen gelebt haben. Höchstens ein oder zwei Freunde. Und ihre beste Freundin war Ellie, ein weiteres Opfer, schon allein deshalb bekamen wir nie viel über sie heraus.«
»Inwiefern schwierig?«
»Sie sperrte sich in ihrem Zimmer ein. Versäumte den Unterricht. Hielt sich von anderen fern. Aß kaum was.« Ich zucke mit den Achseln. »Ein reiches Mädchen, dem nichts gut genug ist.«
Ich bemerke Shellys Blick. »Du brauchst dich gar nicht aufs hohe Ross zu schwingen. Es ist nicht leicht, aus einer berühmten Familie zu kommen.«
Shelly spricht aus eigener Erfahrung. Auch sie hatte kein sonderlich inniges Verhältnis zu ihren Eltern, nachdem ihr Vater zum höchsten Beamten im Staat aufgestiegen war.
»Offensichtlich verschlimmerte sich die Situation noch, kurz bevor sie starb. Sie muss sich völlig abgekapselt haben.«
Shelly antwortet nicht, aber vermutlich liegen ihr dieselben Worte auf der Zunge wie mir. Schwangerschaft. Abtreibung. Genug, um ein labiles Mädchen endgültig aus der Bahn zu werfen.
»Kannte Terry Burgos Cassie näher?«
»Nicht soweit wir wissen. Zumindest hat er es nie erwähnt.«
»Könnten diese Ereignisse in Cassies Leben ein Grund dafür sein, dass Burgos sie getötet hat?«
»Nein«, sage ich. »Vermutlich hat er Cassie umgebracht, weil sie Ellies Freundin war. Er brauchte ein weiteres Opfer, und da kam sie ihm gelegen.«
»Was für eine Sünde hatte Cassie angeblich begangen? Jedem Opfer war doch eine bestimmte Sünde zugeordnet, oder?«
»Das macht die ganze Sache ja so merkwürdig. Der letzte Mord der ersten Strophe ist eigentlich ein Selbstmord. Jetzt muss sich jemand von seiner Familie verabschieden. Schieb’s zwischen die Zähne und drück fröhlich ab. Er spricht davon, sich selbst zu erschießen. Burgos war vermutlich klar, dass er mit dem Sterben an der Reihe war, ignorierte das aber. Er stieß auf Cassie und tötete stattdessen lieber sie. Auf diese Weise hat sie ihn gerettet.«
»Wie stieß er auf Cassie?«
Wir wissen es nicht. Burgos legte nie ein ausführliches Geständnis ab, und mit den Psychiatern redete er immer nur über Gott und die Sünder. Bei keinem der Mädchen ging er je ins Detail.
»Ihr habt also keine Ahnung, wie er Cassie verschleppt hat.«
Ich fühle mich wie im Zeugenstand. Ich habe Shelly schon Zeugen ins Kreuzverhör nehmen sehen und wollte noch nie in ihrer Haut stecken.
»Und macht dir das zu schaffen?«, fragt sie mich.
»Nein.«
»Warum fahren wir dann nach Lake Coursey, Paul?«
»Gwendolyn Lake war Cassies Cousine.« Abgesehen von Ellie Danzinger und einem jungen Typen, dessen Namen ich vergessen habe, ist Gwendolyn die einzige, Cassie nahe stehende Person, die mir einfällt. Sie war zwar irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs, als Cassie ermordet wurde, kreuzte aber immer wieder in der Stadt auf und traf sich dann mit Cassie.
»Nein«, sagt Shelly. »Ich will wissen, warum du hinfährst.«
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Shelly kann man nicht täuschen.
»Du kannst es nicht ertragen, dass sich bei diesem Fall irgendwas deinem Wissen entzieht.«
Vielleicht. Aber statt zu antworten, wähle ich auf meinem Handy die eingespeicherte Nummer von Joel Lighter. Dann drücke ich die Freisprechtaste und lege es zwischen uns.
»Hey«, meldet er sich, da er meinen Namen auf seinem Display erkannt hat.
»Joel, ich bin hier im Wagen mit Shelly.«
»Mit … oh, großartig. Shelly!«
»Hi, Joel.«
Ich liefere ihm eine Kurzzusammenfassung der jüngsten Ereignisse. Lightner ist der einzige Mensch auf der Welt, der ebenso viel über Burgos weiß wie ich.
»Cassie war schwanger?«, sagt er. »Ich dachte, sie war’ne Lesbe. Ich meine natürlich – sie hatte homoerotische Neigungen, Shelly.«
»Du nimmst eben nie ein Blatt vor den Mund, Joel«, gibt sie zurück.
»Joel, ich habe gestern Abend mit Harland gesprochen. Evelyn Pendry hat auch ihn kontaktiert. Sie hat ihm alle möglichen Fragen über Cassie gestellt.«
»Was für Fragen? Über Schwangerschaft und Abtreibung?«
»Ich schätze schon, obwohl er nicht näher darauf eingestiegen ist. Er war jedenfalls sehr besorgt, dass irgendwas davon an die Öffentlichkeit dringen könnte. Die übliche Leier. Cassie hat schon genug durchgemacht, und so weiter. Er wollte, dass ich bei Evelyn den Deckel drauf halte.«
»Das ist jetzt wohl nicht mehr nötig.«
Ja, so viel ist sicher. Ich nehme den Fuß vom Gas, als ich hinter einer Hügelkuppe etwas entdecke, das verdächtig einem Streifenwagen ähnelt.
»Joel, was fällt dir zu Gwendolyn Lake ein?«
»Gwendolyn«, sinniert er. »Cassies Cousine. Die Party-Königin? Dazu fällt mir gar nichts ein. Fehlanzeige. Nur dass sie ein bösartiges Miststück war, wenn ich mich recht erinnere – aber sie hielt sich während der Morde in Europa auf, also war sie nicht wichtig.«
»Richtig.« Ich seufze. »Und wie hieß noch mal Cassies Freund? Der Typ, der immer mit ihr und Ellie abhing?«
»Oh, der Schönling.«
»Ja, so ein gut aussehender Typ.«
»Die Heulsuse«, sagt Lightner.
Richtig. Er war eher der emotionale Typ. Während ich ihn auf seine Aussage in der Schlussphase des Prozesses vorbereitete, riss er sich noch zusammen, aber im Zeugenstand brach er dann zusammen. Schluchzte wie ein Kind.
»Attraktiv und sensibel«, bemerkt Shelly. »Ist er noch zu haben?«
»Mitchum«, erinnert sich Lightner.
»Brandon Mitchum. Genau. Treib ihn bitte für mich auf, Joel, okay?«
»Warum?«
»Warum? Weil ich dich dafür bezahle, meine Aufträge auszuführen – und nicht, um mir Fragen zu stellen.«
»Versuchst du, in Gegenwart deiner Freundin den harten Mann zu markieren?«
Ich schiele rüber zu Shelly, die rot wird.
»Ich meine, ihr beiden seid doch wieder ein Paar, oder?«
Sie lacht. Und auch ich spüre jetzt ein Glühen auf meinen Wangen.
»Na, dem Himmel sei Dank«, sagt er. »Also, Brandon Mitchum. Jetzt mal im Ernst, Riley – warum?«
Dasselbe hat mich Shelly auch gefragt. Vielleicht eine alte Narbe, die noch immer juckt, oder so was in der Art.
»Hey«, sagt er. »Mit welchen Cops arbeitest du zusammen?«
»Mike McDermott«, sage ich. »Und Ricki Stoletti.«
»Stoletti kenne ich nicht.«
»Sie wurde vor ein paar Jahren aus den Vororten hierher versetzt. Major Crimes.«
»McDermott ist ein guter Mann«, sagt Lightner. »Bin ihm ab und zu über den Weg gelaufen. Ein fähiger Polizist. Hat harte Zeiten durchgemacht wegen seiner Frau.«
»Warum das?«
»Vor ein paar Jahren hat sie sich eine Pistole in den Hals geschoben.«
Shelly zuckt zusammen. McDermotts Frau hat Selbstmord begangen? »O Jesus.«
»Sie war – wie heißt das gleich – manisch-depressiv. Extreme Höhen und Tiefen. Eines Tages kommt er nach Hause, und sie liegt im Badezimmer. Seine fünfjährige Tochter kauert daneben in der Badewanne und lutscht am Daumen.«
»Heilige Scheiße.« Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. »Eine fünfjährige Tochter?«
Das erklärt McDermotts Reaktion auf den »verdammten Psycho« beim Meeting des Sonderkommandos. Kaum zu ermessen, wie tief ihn in das getroffen haben muss.
»Wenigstens hat sie nicht dabei zugeschaut. Aber trotzdem. Die eigene Mutter ohne Hinterkopf und mit weggeblasenem Hirn zu finden? Und das mit fünf Jahren?«
Ich schüttle den Kopf. »Okay, jedenfalls bin ich unterwegs. Um mehr über Cassie Bentley rauszufinden.«
Lightner antwortet nicht gleich. Normalerweise ist er nie um einen Spruch verlegen. »Du scheinst auf einmal ein persönliches Interesse an der Sache zu haben.«
»Vielleicht hab ich das«, erwidere ich. »Treib bitte diesen Brandon Mitchum für mich auf.« Ich schalte das Handy aus.
 
Ein weiterer Tag, ein weiteres Hotel. Diesmal in einem Vorort, Mittelklasse, die Filiale einer Hotelkette.
Leo umrundet den Laden dreimal mit dem Wagen, späht in die Lobby, hält im Rückspiegel Ausschau nach Autos, die nach ihm auf den Parkplatz einbiegen, denn sie wahren immer einen großen Abstand, so leicht machen sie es einem nicht.
Mit geschärften Sinnen steuert er auf die Lobby zu, mustert unauffällig das Dach, die Stellen, hinter denen Heckenschützen lauern könnten, und beobachtet beiläufig, ob sich plötzlich Autos auf dem Parkplatz bewegen. Er wird gut vorbereitet sein, wenn sie kommen, aber sie werden nicht auf ihn vorbereitet sein.
Die Lobby ist menschenleer, als er eintritt, trotzdem schlüpft er im Eingangsbereich gleich hinter die Tür und wartet, ob ihm jemand folgt; das Gesicht verbirgt er hinter einer geöffneten Zeitung, falls sich jemand wundern sollte, was er da tut – er liest einfach nur die Zeitung, sonst nichts, aber seine Augen sind nach draußen gerichtet, immer noch wachsam. Er ist sich ziemlich sicher, dass ihm niemand auf den Fersen ist, aber er überlässt nichts dem Zufall.
Fünf Minuten, zehn Minuten, dann geht er zur Rezeption, nennt einen falschen Namen und zahlt bar für eine Nacht, schnappt sich die Gratis-Zeitung, steigt in den Aufzug, fährt eine Etage höher und tritt hinaus auf die Galerie, von der man die Lobby überblickt. Vergewissert sich erneut, dass ihm niemand folgt.
Er wartet und schlägt dabei die Ausgabe der Watch auf. Die Neuigkeit prangt fett auf der Titelseite, Mord, brutaler Mord, schockierender Mord, ein Mitglied der Redaktion, Tochter der Nachrichtenmoderatorin Carolyn Pendry, eine junge Reporterin, Kriminalreporterin, aber nirgendwo steht, wie flink sie sich bewegen konnte. Leo weiß es, die gerissene Sehne in seinem Knie ist der Beweis, ein übler Riss, ein lahmes Bein.
Ein starker Wille, das spiegelte sich in Evelyns Gesicht, da war dieser Trotz, selbst als er die totale Kontrolle über sie ausübte. Wie Kat, genau wie Kat, die Art, wie sich ihre Kiefermuskeln wütend ballten, als sie dem Tod ins Gesicht sah, nicht wie die anderen – die meisten von ihnen, ob Männer oder Frauen, sind einfach erstarrt, haben das Ende akzeptiert, wenn es kam, haben es erduldet, auch wenn sie es nicht fassen konnten -
Erneut betritt er den Aufzug und zieht die Karte durch den Schlitz. Das Zimmer hat zwei getrennte Betten. Er hat die ganze Nacht damit verbracht, mögliche Verfolger abzuschütteln, jetzt braucht er dringend Schlaf. Ein großes Bett wäre ihm lieber gewesen, aber er ist weit Schlimmeres gewöhnt. In Lefortovo waren die Metallstangen unter der dünnen Matratze so weit voneinander entfernt, dass die Matratze ständig durchrutschte. Mit der Zeit fand er heraus, dass man Zeitungen oder Magazine – oder was immer sie ihm zu lesen gaben – über die Stangen breiten musste, um mehr Auflagefläche zu schaffen. Trotzdem wurde er das Gefühl nie los, auf Gitterstäben zu schlafen. Er wusste, sie machten das mit Absicht. Sie wollten nicht, dass die Gefangenen ruhig schliefen. Zumindest nicht Gefangene wie er.
Er lässt sich aufs Bett fallen und denkt an Kat. Sie hat alle getäuscht. Alle sahen in ihr nur das süße Mädchen, das nie etwas Böses im Schilde führen konnte. Er erinnert sich an Tränen – seine eigenen Tränen -, die ihr aufs Gesicht tropften, als sie zu ihm hochblickte. Beinahe hätte sie es geschafft, auch ihn einzuwickeln.
Zwei Jahre dauerte es – genau dreiundzwanzig Monate und sieben Tage -, er hatte an der Wand eine Strichliste geführt. Zwei Jahre, in denen er auf eine schwarze Tür starrte, sich mit anderen Häftlingen durch die Toilettenschüssel unterhielt, deren Abflussröhre mit denen aus den Nachbarzellen verbunden war. Zwei Jahre, in denen er unablässig grübelte, wie er an die Glühbirne in der Decke herankommen konnte, um seine Zigarettenstummel anzuzünden. Zwei Jahre, bis sie endlich kapierten, dass er richtig gehandelt hatte, und die blau uniformierten Männer ihn rausholten.
Er schließt die Augen, spürt, wie die Müdigkeit ihn übermannt, seine Augen sinken unter die Schatten seiner Lider.
Aber dann schlägt der Blitz ein, sein Magen, die brennende Säure.
Er krümmt sich, auch die gerissene Sehne schmerzt wieder, er kann sich nicht entspannen, kann nicht schlafen, nicht, bis sein Werk vollendet ist, nicht nach Evelyn, und dabei weiß er nicht mal, wo Brandon Mitchum lebt, es liegt noch viel Arbeit vor ihm, denn heute Nacht muss es passieren -
Leo erhebt sich vom Bett und geht zur Tür.
 
Nachdem wir den Interstate verlassen haben, beginnt Shelly mir Bettys ausgedruckte Wegbeschreibung vorzulesen. Ich kurve über ein paar Landstraßen, bis wir den Punkt erreichen, an dem sich die Wege zu Gwendolyns Haus und Gwendolyns Diner gabeln. Da es bereits halb drei ist, rufe ich im Diner an.
Die Frau am anderen Ende erklärt mir, Gwendolyn sei nicht da, also beschließe ich, zu ihrem Haus zu fahren.
Man muss sie unvorbereitet erwischen, erinnere ich mich an Stolettis Credo in puncto Zeugenvernehmungen. Ohne Vorankündigung. Gar keine schlechte Idee. Also werde ich Gwendolyn jetzt überfallartig heimsuchen und schauen, was ich dabei zu Tage fördere.
Die Straßen sind breit und schlecht beschildert. Ich fahre an Bäumen und etlichen Seen vorbei – Wischer von dunklem Braun, Grün und Blau. Der Himmel bewölkt sich zunehmend, trotzdem wirkt alles immer noch hell und strahlend. Da ich zwischen Hochhäusern lebe und arbeite, kriege ich normalerweise von diesen Dingen nicht allzu viel mit. Aber Shelly, die auf dem Land aufgewachsen ist, hat mir wieder und wieder davon erzählt – wie viel lichter und sauberer es außerhalb der Stadt ist. Es ist nicht so, dass ich nie aus der Stadt rausgekommen wäre, aber trotz meines Geldes habe ich mir nie einen Zweitwohnsitz auf dem Land zugelegt oder länger dort Ferien gemacht.
Bald ist die Straße nicht mehr asphaltiert, und die Beschilderung wird noch spärlicher. Nachdem wir dem kurvenreichen Verlauf des Schotterwegs eine Weile gefolgt sind, erreichen wir etwas, das Stadtmenschen wohl als eine Siedlung bezeichnen würden, ein großes Gelände, auf dem weit verstreut Holzhäuser und Hütten stehen und kleine Kinder in Badeanzügen umherrennen, verfolgt von kläffenden Hunden.
In der Hoffnung, dass wir am richtigen Ort gelandet sind, lenke ich in eine Auffahrt, bremse den Cadillac ab, und die Räder rutschen über knirschenden Kies. Das Anwesen ist bescheiden, nicht mehr als eine rustikale Blockhütte, von dichten Bäumen beschattet. Der Geruch von frisch gemähtem Gras mischt sich mit der sanften Seebrise. Ich strecke meine Beine, bevor ich auf die Hütte zumarschiere. Shelly blickt sich mit einem geradezu entrückten Ausdruck um. Ich schaue den Hang hinunter zum See, wo eine Frau auf einem Steg steht, mit einer Hand ihre Augen beschattet und zu mir heraufstarrt.
Natalia und Mia Lakes Mutter war eine russische Ballerina, eine wunderschöne Frau namens Nikita Kiri-irgendwas. Irgendwann lernte Nikita Conrad Lake kennen, den Erben der Lake’schen Minenbaugesellschaft, der sich in den Vierzigern im Mittleren Westen niedergelassen hatte. Die Legende besagt, dass Conrad die damals achtzehnjährige Nikita in Russland tanzen sah, um sie warb, sie kurz darauf heiratete und mit sich zurück in die Vereinigten Staaten nahm – natürlich nachdem er das sowjetische Politbüro ordentlich geschmiert hatte, um sie außer Landes bringen zu dürfen. Ihre Töchter Mia und Natalia erbten nicht nur ihr ganzes Geld, sondern auch viel von ihrer Schönheit – und gaben ihre fein gemeißelten Züge wiederum an ihre Töchter Gwendolyn und Cassandra weiter. Eine Beobachtung, die ich im Falle Cassies persönlich bestätigen kann, da mir im Lauf der Zeit diverse Fotos von ihr vor die Augen gekommen sind; von Gwendolyn allerdings kenne ich nur ein einziges Foto, das aus ihrer Teenagerzeit stammen muss, und an das ich mich nur düster erinnern kann. Sie wirkte darauf wie eine echte Lake, so viel weiß ich noch, sie ähnelte Cassie, Natalia und vermutlich auch Mia, eine zarte Brünette mit einem glamourösen Touch, deren russische Abstammung sich noch in den hohen Wangenknochen und der langen Nase andeutete. Jetzt, sechzehn Jahre später muss sie zu einer echten Schönheit herangereift sein, der die besten Friseure und der kostbarste Schmuck vermutlich noch den letzten Schliff geben.
Die Frau jedoch, die sich nun vom Steg her nähert, passt da nicht so recht ins Bild. Sie hat ein leicht rundliches, sympathisches Gesicht und üppiges rötliches Haar, das ihr offen über die Schultern fällt. Sie ist einfach gekleidet, in ein langes Hemd, abgeschnittene Jeans und Sandalen. Aber selbst durch ihre Hornbrille hindurch verrät das Glitzern ihrer hellgrünen, ovalen Augen noch das wunderhübsche Partygirl von damals; auch wenn aller Glamour zwanzig zusätzlichen Pfunden gewichen ist. Ihre Schönheit strahlt etwas Ruhiges, Friedliches aus, das genaue Gegenteil des ehemaligen Glitzer- und Luxuswesens. Damit ist sie durchaus eher mein Fall.
Ich stelle mich und Shelly als Staatsanwälte aus der Stadt vor, und nach einem besorgten Blick – »Ist mit Nat alles in Ordnung?«, erkundigt sie sich nach ihrer Tante – nimmt ihr Gesicht wieder den alten Ausdruck an, der mir sagt, dass sie das aufregende Stadtleben hinter sich gelassen hat und froh darüber ist.
»Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?«, wundert sie sich.
Warum?, würde ich am liebsten zurückfragen. Wollten Sie etwa nicht gefunden werden?
»Es war leider keine Zeit, Sie anzurufen und einen Termin zu vereinbaren, sonst hätte ich das selbstverständlich getan. Entschuldigen Sie den Überfall. Aber es ist sehr wichtig, und wir werden sicher nicht viel von Ihrer Zeit beanspruchen.«
Sie scheint unentschlossen, und ich bete, dass wir den Weg nicht umsonst gemacht haben. Andererseits – selbst wenn sie sich weigern sollte, kann ich daraus meine Schlüsse ziehen.
»Wir vermuten«, sage ich schließlich, »dass erneut jemand nach den Zeilen des Songs mordet. Einige Menschen mussten bereits sterben.«
Das gibt den Ausschlag. Ihre Augen werden groß, ihr Ausdruck wird weich. Sie zeigt hinter sich auf den Steg. »Ich wollte gerade ein kleine Runde drehen«, sagt sie.
In Gottes Namen
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