28.
Kapitel
Stoletti und ich fahren schweigend zurück. Ihr
Benehmen mir gegenüber war nie wirklich herzlich, aber seit sie
weiß, dass ich Harland Bentleys Anwalt bin, ist unsere Beziehung
noch um ein paar Grad abgekühlt. Es fühlt sich merkwürdig an,
dieses Schweigen, denn immerhin hat uns die Information, Cassie
könnte schwanger gewesen sein und abgetrieben haben, beide
gleichermaßen getroffen. Ein echter Knaller – aber Stoletti
behandelt mich, als sei ich ein Fahrgast in ihrem Taxi. Die
verabredete Politik des offenen Informationsaustauschs scheint mir
immer mehr zu einer Einbahnstraße zu verkommen.
Vor dem Revier steige ich in meinen Wagen um. Von
meinem Handy aus rufe ich die Auskunft an und frage nach einer
bestimmten Nummer in Lake Coursey, wo Harlands Vermutung nach seine
Nichte immer noch lebt.
Man teilt mir mit, es gäbe zwei Nummern. »Eine
Gwendolyn Lake in der Spring Harbour Road, und ein Gwendolyn’s Lake
Diner in der County Road 29.«
Das reiche Party-Girl Gwendolyn besitzt ein
Lokal?
Ich lasse mir Adresse und Telefonnummer geben, und
zwar gleich für beide Einträge. Anschließend beauftrage ich meine
Assistentin Betty damit, auf MapQuest für mich die Routen zu beiden
Adressen zu ermitteln.
Ich fahre bei der Juristischen Fakultät vorbei, wo
Shelly arbeitet. Sie wartet draußen auf mich. Heute hat sie keinen
Gerichtstermin, und es ist Sommer, daher trägt sie eine Bluse und
Bluejeans. Ungeachtet des ernüchternden Treffens mit Professor
Albany steigt meine Laune sofort beträchtlich.
Sie springt in den Wagen, und ich atme ihren Duft
ein. Kurz erwäge ich, mich rüberzubeugen und sie zu küssen, aber
dann denke ich – langsam. Ich habe es versprochen.
Als sie dann aber mein Gesicht zu sich rüberdreht
und mir selbst einen dicken Kuss aufdrückt, widerstehe ich nicht
länger.
»So führst du also Frauen aus?«, fragt sie. »Du
nimmst sie mit zu einer Zeugenvernehmung?«
Ich starte den Wagen. »Wir fahren Richtung Norden«,
erkläre ich. »Deine Lieblingsgegend.«
Shelly wuchs im Norden des Staates auf, wo ihr
Vater Staatsanwalt war, bevor er für das Amt des
Bezirksstaatsanwalts und später für das des Gouverneurs
kandidierte. Sie war inzwischen ein waschechtes Großstadtmädchen,
trotzdem beschwerte sie sich immer mal wieder, dass sie nachts
nicht die Sterne sehen konnte und ihr die klare, reine Luft
fehlte.
»Und wenn wir schon mal da oben sind«, füge ich
hinzu, »können wir uns gleich nach einem Zweitwohnsitz umschauen.
Ein Haus am See mit eigenem Boot.«
Sie schluckt den Köder nicht, also stichle ich
weiter.
»Aber lass uns nichts überstürzen. Erst müssen wir
mal dafür sorgen, dass du schwanger wirst. Und dann die Hochzeit,
natürlich in der Gouverneursvilla. Ich hab schon mal eine
vorläufige Gästeliste erstellt. Findest du zweitausend Leute zu
viel?«
Mein Gesicht bleibt todernst, und ich halte die
Augen stur nach vorne gerichtet.
»Wollen Sie mich veräppeln, Mr. Riley?«
Ich ergreife ihre Hand, die sie mir gnädig
überlässt, und küsse sie.
»Ms. Trotter – die wahre Bedeutung des Wortes
langsam werde ich Ihnen erst eröffnen.«
»Vergiss nicht, Paul, ich hab dich schon mal beim
Joggen beobachtet.«
Das Leben ist großartig. Ich fühle mich wie ein
Teenager nach dem ersten Kuss.
»Erzähl mir von gestern Nacht«, bittet sie.
Ich musste Shelly letzte Nacht verlassen, als sie
mich wegen Evelyn anriefen. Jetzt kriegt sie von mir die
ausführliche Version, und da wir noch über hundert Meilen vor uns
haben, berichte ich ihr gleich auch von Professor Albany.
Als ich schließlich schweige, sagt sie: »Wer immer
der Täter ist, er verfolgt eine klare Absicht.«
Da der Interstate um die Mittagszeit relativ leer
ist, beschleunige ich auf fast siebzig Meilen, während wir durch
den nördlichen Teil des Staates fahren, zumeist flaches, dünn
besiedeltes Farmland.
»Er hat seine Opfer gezielt ausgewählt«, führt sie
weiter aus. »Evelyn hat Fred Ciancio angerufen, und jetzt sind
beide tot. Er hinterlässt für euch am Tatort die Waffen aus dem
Song. Und die Nachricht: Ich bin nicht der Einzige. Er tut
nichts, um seine Taten zu verbergen. Die Frage ist nur,
warum?«
Was die Opfer betrifft, hat sie sicher recht.
Ciancio steht unzweifelhaft in Verbindung mit dem Fall Burgos, das
belegt sein Anruf bei Carolyn Pendry. Und dann meldet er sich
kürzlich auch noch bei Carolyns Tochter Evelyn. Das kann kein
Zufall sein.
»Die andere Frage ist«, fährt sie fort, »wie Cassie
Bentley ins Bild passt. Die Geschichte mit ihrer angeblichen
Schwangerschaft und der Abtreibung. Hast du davon gewusst?«
Ich schüttle den Kopf. »Damals hieß es immer nur,
Cassie sei ein schwieriges Mädchen gewesen. Das kriegten wir
am laufenden Band zu hören.
Außerdem soll sie sehr zurückgezogen gelebt haben.
Höchstens ein oder zwei Freunde. Und ihre beste Freundin war Ellie,
ein weiteres Opfer, schon allein deshalb bekamen wir nie viel über
sie heraus.«
»Inwiefern schwierig?«
»Sie sperrte sich in ihrem Zimmer ein. Versäumte
den Unterricht. Hielt sich von anderen fern. Aß kaum was.« Ich
zucke mit den Achseln. »Ein reiches Mädchen, dem nichts gut genug
ist.«
Ich bemerke Shellys Blick. »Du brauchst dich gar
nicht aufs hohe Ross zu schwingen. Es ist nicht leicht, aus einer
berühmten Familie zu kommen.«
Shelly spricht aus eigener Erfahrung. Auch sie
hatte kein sonderlich inniges Verhältnis zu ihren Eltern, nachdem
ihr Vater zum höchsten Beamten im Staat aufgestiegen war.
»Offensichtlich verschlimmerte sich die Situation
noch, kurz bevor sie starb. Sie muss sich völlig abgekapselt
haben.«
Shelly antwortet nicht, aber vermutlich liegen ihr
dieselben Worte auf der Zunge wie mir. Schwangerschaft.
Abtreibung. Genug, um ein labiles Mädchen endgültig aus der
Bahn zu werfen.
»Kannte Terry Burgos Cassie näher?«
»Nicht soweit wir wissen. Zumindest hat er es nie
erwähnt.«
»Könnten diese Ereignisse in Cassies Leben ein
Grund dafür sein, dass Burgos sie getötet hat?«
»Nein«, sage ich. »Vermutlich hat er Cassie
umgebracht, weil sie Ellies Freundin war. Er brauchte ein weiteres
Opfer, und da kam sie ihm gelegen.«
»Was für eine Sünde hatte Cassie angeblich
begangen? Jedem Opfer war doch eine bestimmte Sünde zugeordnet,
oder?«
»Das macht die ganze Sache ja so merkwürdig. Der
letzte Mord der ersten Strophe ist eigentlich ein Selbstmord.
Jetzt muss sich jemand von seiner Familie verabschieden.
Schieb’s zwischen die Zähne und drück fröhlich ab. Er spricht
davon, sich selbst zu erschießen. Burgos war vermutlich klar, dass
er mit dem Sterben an der Reihe war, ignorierte das aber. Er stieß
auf Cassie und tötete stattdessen lieber sie. Auf diese Weise hat
sie ihn gerettet.«
»Wie stieß er auf Cassie?«
Wir wissen es nicht. Burgos legte nie ein
ausführliches Geständnis ab, und mit den Psychiatern redete er
immer nur über Gott und die Sünder. Bei keinem der Mädchen ging er
je ins Detail.
»Ihr habt also keine Ahnung, wie er Cassie
verschleppt hat.«
Ich fühle mich wie im Zeugenstand. Ich habe Shelly
schon Zeugen ins Kreuzverhör nehmen sehen und wollte noch nie in
ihrer Haut stecken.
»Und macht dir das zu schaffen?«, fragt sie
mich.
»Nein.«
»Warum fahren wir dann nach Lake Coursey,
Paul?«
»Gwendolyn Lake war Cassies Cousine.« Abgesehen von
Ellie Danzinger und einem jungen Typen, dessen Namen ich vergessen
habe, ist Gwendolyn die einzige, Cassie nahe stehende Person, die
mir einfällt. Sie war zwar irgendwo in der Weltgeschichte
unterwegs, als Cassie ermordet wurde, kreuzte aber immer wieder in
der Stadt auf und traf sich dann mit Cassie.
»Nein«, sagt Shelly. »Ich will wissen, warum
du hinfährst.«
Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Shelly
kann man nicht täuschen.
»Du kannst es nicht ertragen, dass sich bei diesem
Fall irgendwas deinem Wissen entzieht.«
Vielleicht. Aber statt zu antworten, wähle ich auf
meinem Handy die eingespeicherte Nummer von Joel Lighter. Dann
drücke ich die Freisprechtaste und lege es zwischen uns.
»Hey«, meldet er sich, da er meinen Namen auf
seinem Display erkannt hat.
»Joel, ich bin hier im Wagen mit Shelly.«
»Mit … oh, großartig. Shelly!«
»Hi, Joel.«
Ich liefere ihm eine Kurzzusammenfassung der
jüngsten Ereignisse. Lightner ist der einzige Mensch auf der Welt,
der ebenso viel über Burgos weiß wie ich.
»Cassie war schwanger?«, sagt er. »Ich dachte, sie
war’ne Lesbe. Ich meine natürlich – sie hatte homoerotische
Neigungen, Shelly.«
»Du nimmst eben nie ein Blatt vor den Mund, Joel«,
gibt sie zurück.
»Joel, ich habe gestern Abend mit Harland
gesprochen. Evelyn Pendry hat auch ihn kontaktiert. Sie hat ihm
alle möglichen Fragen über Cassie gestellt.«
»Was für Fragen? Über Schwangerschaft und
Abtreibung?«
»Ich schätze schon, obwohl er nicht näher darauf
eingestiegen ist. Er war jedenfalls sehr besorgt, dass irgendwas
davon an die Öffentlichkeit dringen könnte. Die übliche Leier.
Cassie hat schon genug durchgemacht, und so weiter. Er
wollte, dass ich bei Evelyn den Deckel drauf halte.«
»Das ist jetzt wohl nicht mehr nötig.«
Ja, so viel ist sicher. Ich nehme den Fuß vom Gas,
als ich hinter einer Hügelkuppe etwas entdecke, das verdächtig
einem Streifenwagen ähnelt.
»Joel, was fällt dir zu Gwendolyn Lake ein?«
»Gwendolyn«, sinniert er. »Cassies Cousine. Die
Party-Königin? Dazu fällt mir gar nichts ein. Fehlanzeige. Nur dass
sie ein bösartiges Miststück war, wenn ich mich recht erinnere –
aber sie hielt sich während der Morde in Europa auf, also war sie
nicht wichtig.«
»Richtig.« Ich seufze. »Und wie hieß noch mal
Cassies Freund? Der Typ, der immer mit ihr und Ellie abhing?«
»Oh, der Schönling.«
»Ja, so ein gut aussehender Typ.«
»Die Heulsuse«, sagt Lightner.
Richtig. Er war eher der emotionale Typ. Während
ich ihn auf seine Aussage in der Schlussphase des Prozesses
vorbereitete, riss er sich noch zusammen, aber im Zeugenstand brach
er dann zusammen. Schluchzte wie ein Kind.
»Attraktiv und sensibel«, bemerkt Shelly.
»Ist er noch zu haben?«
»Mitchum«, erinnert sich Lightner.
»Brandon Mitchum. Genau. Treib ihn bitte für mich
auf, Joel, okay?«
»Warum?«
»Warum? Weil ich dich dafür bezahle, meine Aufträge
auszuführen – und nicht, um mir Fragen zu stellen.«
»Versuchst du, in Gegenwart deiner Freundin den
harten Mann zu markieren?«
Ich schiele rüber zu Shelly, die rot wird.
»Ich meine, ihr beiden seid doch wieder ein Paar,
oder?«
Sie lacht. Und auch ich spüre jetzt ein Glühen auf
meinen Wangen.
»Na, dem Himmel sei Dank«, sagt er. »Also, Brandon
Mitchum. Jetzt mal im Ernst, Riley – warum?«
Dasselbe hat mich Shelly auch gefragt. Vielleicht
eine alte Narbe, die noch immer juckt, oder so was in der
Art.
»Hey«, sagt er. »Mit welchen Cops arbeitest du
zusammen?«
»Mike McDermott«, sage ich. »Und Ricki
Stoletti.«
»Stoletti kenne ich nicht.«
»Sie wurde vor ein paar Jahren aus den Vororten
hierher versetzt. Major Crimes.«
»McDermott ist ein guter Mann«, sagt Lightner. »Bin
ihm ab und zu über den Weg gelaufen. Ein fähiger Polizist. Hat
harte Zeiten durchgemacht wegen seiner Frau.«
»Warum das?«
»Vor ein paar Jahren hat sie sich eine Pistole in
den Hals geschoben.«
Shelly zuckt zusammen. McDermotts Frau hat
Selbstmord begangen? »O Jesus.«
»Sie war – wie heißt das gleich –
manisch-depressiv. Extreme Höhen und Tiefen. Eines Tages kommt er
nach Hause, und sie liegt im Badezimmer. Seine fünfjährige Tochter
kauert daneben in der Badewanne und lutscht am Daumen.«
»Heilige Scheiße.« Ich fahre mir mit der Hand übers
Gesicht. »Eine fünfjährige Tochter?«
Das erklärt McDermotts Reaktion auf den »verdammten
Psycho« beim Meeting des Sonderkommandos. Kaum zu ermessen, wie
tief ihn in das getroffen haben muss.
»Wenigstens hat sie nicht dabei zugeschaut. Aber
trotzdem. Die eigene Mutter ohne Hinterkopf und mit weggeblasenem
Hirn zu finden? Und das mit fünf Jahren?«
Ich schüttle den Kopf. »Okay, jedenfalls bin ich
unterwegs. Um mehr über Cassie Bentley rauszufinden.«
Lightner antwortet nicht gleich. Normalerweise ist
er nie um einen Spruch verlegen. »Du scheinst auf einmal ein
persönliches Interesse an der Sache zu haben.«
»Vielleicht hab ich das«, erwidere ich. »Treib
bitte diesen Brandon Mitchum für mich auf.« Ich schalte das Handy
aus.
Ein weiterer Tag, ein weiteres Hotel. Diesmal in
einem Vorort, Mittelklasse, die Filiale einer Hotelkette.
Leo umrundet den Laden dreimal mit dem Wagen, späht
in die Lobby, hält im Rückspiegel Ausschau nach Autos, die nach ihm
auf den Parkplatz einbiegen, denn sie wahren immer einen großen
Abstand, so leicht machen sie es einem nicht.
Mit geschärften Sinnen steuert er auf die Lobby zu,
mustert unauffällig das Dach, die Stellen, hinter denen
Heckenschützen lauern könnten, und beobachtet beiläufig, ob sich
plötzlich Autos auf dem Parkplatz bewegen. Er wird gut vorbereitet
sein, wenn sie kommen, aber sie werden nicht auf ihn vorbereitet
sein.
Die Lobby ist menschenleer, als er eintritt,
trotzdem schlüpft er im Eingangsbereich gleich hinter die Tür und
wartet, ob ihm jemand folgt; das Gesicht verbirgt er hinter einer
geöffneten Zeitung, falls sich jemand wundern sollte, was er da tut
– er liest einfach nur die Zeitung, sonst nichts, aber seine Augen
sind nach draußen gerichtet, immer noch wachsam. Er ist sich
ziemlich sicher, dass ihm niemand auf den Fersen ist, aber er
überlässt nichts dem Zufall.
Fünf Minuten, zehn Minuten, dann geht er zur
Rezeption, nennt einen falschen Namen und zahlt bar für eine Nacht,
schnappt sich die Gratis-Zeitung, steigt in den Aufzug, fährt eine
Etage höher und tritt hinaus auf die Galerie, von der man die Lobby
überblickt. Vergewissert sich erneut, dass ihm niemand folgt.
Er wartet und schlägt dabei die Ausgabe der
Watch auf. Die Neuigkeit prangt fett auf der Titelseite,
Mord, brutaler Mord, schockierender Mord, ein Mitglied der
Redaktion, Tochter der Nachrichtenmoderatorin Carolyn Pendry, eine
junge Reporterin, Kriminalreporterin, aber nirgendwo steht, wie
flink sie sich bewegen konnte. Leo weiß es, die gerissene Sehne in
seinem Knie ist der Beweis, ein übler Riss, ein lahmes Bein.
Ein starker Wille, das spiegelte sich in Evelyns
Gesicht, da war dieser Trotz, selbst als er die totale Kontrolle
über sie ausübte. Wie Kat, genau wie Kat, die Art, wie sich ihre
Kiefermuskeln wütend ballten, als sie dem Tod ins Gesicht sah,
nicht wie die anderen – die meisten von ihnen, ob Männer oder
Frauen, sind einfach erstarrt, haben das Ende akzeptiert, wenn es
kam, haben es erduldet, auch wenn sie es nicht fassen konnten
-
Erneut betritt er den Aufzug und zieht die Karte
durch den Schlitz. Das Zimmer hat zwei getrennte Betten. Er hat die
ganze Nacht damit verbracht, mögliche Verfolger abzuschütteln,
jetzt braucht er dringend Schlaf. Ein großes Bett wäre ihm lieber
gewesen, aber er ist weit Schlimmeres gewöhnt. In Lefortovo waren
die Metallstangen unter der dünnen Matratze so weit voneinander
entfernt, dass die Matratze ständig durchrutschte. Mit der Zeit
fand er heraus, dass man Zeitungen oder Magazine – oder was immer
sie ihm zu lesen gaben – über die Stangen breiten musste, um mehr
Auflagefläche zu schaffen. Trotzdem wurde er das Gefühl nie los,
auf Gitterstäben zu schlafen. Er wusste, sie machten das mit
Absicht. Sie wollten nicht, dass die Gefangenen ruhig schliefen.
Zumindest nicht Gefangene wie er.
Er lässt sich aufs Bett fallen und denkt an Kat.
Sie hat alle getäuscht. Alle sahen in ihr nur das süße Mädchen, das
nie etwas Böses im Schilde führen konnte. Er erinnert sich an
Tränen – seine eigenen Tränen -, die ihr aufs Gesicht tropften, als
sie zu ihm hochblickte. Beinahe hätte sie es geschafft, auch ihn
einzuwickeln.
Zwei Jahre dauerte es – genau dreiundzwanzig Monate
und sieben Tage -, er hatte an der Wand eine Strichliste geführt.
Zwei Jahre, in denen er auf eine schwarze Tür starrte, sich mit
anderen Häftlingen durch die Toilettenschüssel unterhielt, deren
Abflussröhre mit denen aus den Nachbarzellen verbunden war. Zwei
Jahre, in denen er unablässig grübelte, wie er an die Glühbirne in
der Decke herankommen konnte, um seine Zigarettenstummel
anzuzünden. Zwei Jahre, bis sie endlich kapierten, dass er richtig
gehandelt hatte, und die blau uniformierten Männer ihn
rausholten.
Er schließt die Augen, spürt, wie die Müdigkeit ihn
übermannt, seine Augen sinken unter die Schatten seiner
Lider.
Aber dann schlägt der Blitz ein, sein Magen, die
brennende Säure.
Er krümmt sich, auch die gerissene Sehne schmerzt
wieder, er kann sich nicht entspannen, kann nicht schlafen, nicht,
bis sein Werk vollendet ist, nicht nach Evelyn, und dabei weiß er
nicht mal, wo Brandon Mitchum lebt, es liegt noch viel Arbeit vor
ihm, denn heute Nacht muss es passieren -
Leo erhebt sich vom Bett und geht zur Tür.
Nachdem wir den Interstate verlassen haben,
beginnt Shelly mir Bettys ausgedruckte Wegbeschreibung vorzulesen.
Ich kurve über ein paar Landstraßen, bis wir den Punkt erreichen,
an dem sich die Wege zu Gwendolyns Haus und Gwendolyns Diner
gabeln. Da es bereits halb drei ist, rufe ich im Diner an.
Die Frau am anderen Ende erklärt mir, Gwendolyn
sei nicht da, also beschließe ich, zu ihrem Haus zu fahren.
Man muss sie unvorbereitet erwischen,
erinnere ich mich an Stolettis Credo in puncto Zeugenvernehmungen.
Ohne Vorankündigung. Gar keine schlechte Idee. Also werde ich
Gwendolyn jetzt überfallartig heimsuchen und schauen, was ich dabei
zu Tage fördere.
Die Straßen sind breit und schlecht beschildert.
Ich fahre an Bäumen und etlichen Seen vorbei – Wischer von dunklem
Braun, Grün und Blau. Der Himmel bewölkt sich zunehmend, trotzdem
wirkt alles immer noch hell und strahlend. Da ich zwischen
Hochhäusern lebe und arbeite, kriege ich normalerweise von diesen
Dingen nicht allzu viel mit. Aber Shelly, die auf dem Land
aufgewachsen ist, hat mir wieder und wieder davon erzählt – wie
viel lichter und sauberer es außerhalb der Stadt ist. Es ist nicht
so, dass ich nie aus der Stadt rausgekommen wäre, aber trotz meines
Geldes habe ich mir nie einen Zweitwohnsitz auf dem Land zugelegt
oder länger dort Ferien gemacht.
Bald ist die Straße nicht mehr asphaltiert, und die
Beschilderung wird noch spärlicher. Nachdem wir dem kurvenreichen
Verlauf des Schotterwegs eine Weile gefolgt sind, erreichen wir
etwas, das Stadtmenschen wohl als eine Siedlung bezeichnen würden,
ein großes Gelände, auf dem weit verstreut Holzhäuser und Hütten
stehen und kleine Kinder in Badeanzügen umherrennen, verfolgt von
kläffenden Hunden.
In der Hoffnung, dass wir am richtigen Ort gelandet
sind, lenke ich in eine Auffahrt, bremse den Cadillac ab, und die
Räder rutschen über knirschenden Kies. Das Anwesen ist bescheiden,
nicht mehr als eine rustikale Blockhütte, von dichten Bäumen
beschattet. Der Geruch von frisch gemähtem Gras mischt sich mit der
sanften Seebrise. Ich strecke meine Beine, bevor ich auf die Hütte
zumarschiere. Shelly blickt sich mit einem geradezu entrückten
Ausdruck um. Ich schaue den Hang hinunter zum See, wo eine Frau auf
einem Steg steht, mit einer Hand ihre Augen beschattet und zu mir
heraufstarrt.
Natalia und Mia Lakes Mutter war eine russische
Ballerina, eine wunderschöne Frau namens Nikita Kiri-irgendwas.
Irgendwann lernte Nikita Conrad Lake kennen, den Erben der
Lake’schen Minenbaugesellschaft, der sich in den Vierzigern im
Mittleren Westen niedergelassen hatte. Die Legende besagt, dass
Conrad die damals achtzehnjährige Nikita in Russland tanzen sah, um
sie warb, sie kurz darauf heiratete und mit sich zurück in die
Vereinigten Staaten nahm – natürlich nachdem er das sowjetische
Politbüro ordentlich geschmiert hatte, um sie außer Landes bringen
zu dürfen. Ihre Töchter Mia und Natalia erbten nicht nur ihr ganzes
Geld, sondern auch viel von ihrer Schönheit – und gaben ihre fein
gemeißelten Züge wiederum an ihre Töchter Gwendolyn und Cassandra
weiter. Eine Beobachtung, die ich im Falle Cassies persönlich
bestätigen kann, da mir im Lauf der Zeit diverse Fotos von ihr vor
die Augen gekommen sind; von Gwendolyn allerdings kenne ich nur ein
einziges Foto, das aus ihrer Teenagerzeit stammen muss, und an das
ich mich nur düster erinnern kann. Sie wirkte darauf wie eine echte
Lake, so viel weiß ich noch, sie ähnelte Cassie, Natalia und
vermutlich auch Mia, eine zarte Brünette mit einem glamourösen
Touch, deren russische Abstammung sich noch in den hohen
Wangenknochen und der langen Nase andeutete. Jetzt, sechzehn Jahre
später muss sie zu einer echten Schönheit herangereift sein, der
die besten Friseure und der kostbarste Schmuck vermutlich noch den
letzten Schliff geben.
Die Frau jedoch, die sich nun vom Steg her nähert,
passt da nicht so recht ins Bild. Sie hat ein leicht rundliches,
sympathisches Gesicht und üppiges rötliches Haar, das ihr offen
über die Schultern fällt. Sie ist einfach gekleidet, in ein langes
Hemd, abgeschnittene Jeans und Sandalen. Aber selbst durch ihre
Hornbrille hindurch verrät das Glitzern ihrer hellgrünen, ovalen
Augen noch das wunderhübsche Partygirl von damals; auch wenn aller
Glamour zwanzig zusätzlichen Pfunden gewichen ist. Ihre Schönheit
strahlt etwas Ruhiges, Friedliches aus, das genaue Gegenteil des
ehemaligen Glitzer- und Luxuswesens. Damit ist sie durchaus eher
mein Fall.
Ich stelle mich und Shelly als Staatsanwälte aus
der Stadt vor, und nach einem besorgten Blick – »Ist mit Nat alles
in Ordnung?«, erkundigt sie sich nach ihrer Tante – nimmt ihr
Gesicht wieder den alten Ausdruck an, der mir sagt, dass sie das
aufregende Stadtleben hinter sich gelassen hat und froh darüber
ist.
»Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?«, wundert
sie sich.
Warum?, würde ich am liebsten zurückfragen.
Wollten Sie etwa nicht gefunden werden?
»Es war leider keine Zeit, Sie anzurufen und einen
Termin zu vereinbaren, sonst hätte ich das selbstverständlich
getan. Entschuldigen Sie den Überfall. Aber es ist sehr wichtig,
und wir werden sicher nicht viel von Ihrer Zeit
beanspruchen.«
Sie scheint unentschlossen, und ich bete, dass wir
den Weg nicht umsonst gemacht haben. Andererseits – selbst wenn sie
sich weigern sollte, kann ich daraus meine Schlüsse ziehen.
»Wir vermuten«, sage ich schließlich, »dass erneut
jemand nach den Zeilen des Songs mordet. Einige Menschen mussten
bereits sterben.«
Das gibt den Ausschlag. Ihre Augen werden groß, ihr
Ausdruck wird weich. Sie zeigt hinter sich auf den Steg. »Ich
wollte gerade ein kleine Runde drehen«, sagt sie.