52. Kapitel
Leo schließt die letzte Tür am Ende des Kellergangs auf. Er geht an den Spinden mit den Vorhängeschlössern und den Vorratsregalen vorbei und steuert auf die großen Metallschränke an der gegenüberliegenden Wand zu. Dort verharrt er einen Moment und lauscht. Nichts zu hören. Er öffnet den mittleren Schrank und blickt nach unten.
Shelly Trotter schaut nicht zu ihm auf, aber in ihren verquollenen Augen spiegelt sich ein vages Wiedererkennen. Seit gestern hat er ihr zweimal eine ordentliche Dosis Gamma Hydroxybutyrat – GHB – verpasst, genug, um sie in einen konstanten Dämmerzustand zu versetzen. Ihre Hand- und Fußgelenke sind jeweils mit einem Paar Handschellen gefesselt, die wiederum mit einem dritten Paar aneinandergekettet sind, so dass ihr Körper zu einer Art ungleichmäßigem Dreieck zusammengekrümmt ist. So passt sie gerade in den großen Schrank, der normalerweise für Schneegebläse, Hacken, Schaufeln und dergleichen vorgesehen ist. Jetzt bietet er nur zwei Dingen Platz: Paul Rileys Liebster und einer stabilen, sechzig Zentimeter langen Barteaux-Machete mit einer Klinge aus gehärtetem Karbonstahl.
Es ist eine sehr schmerzhafte Körperhaltung, das weiß er genau, weil sie damals in der Sowjetunion gelegentlich renitente Personen damit gefügig machten, ihren Widerstandswillen durch lange Perioden der Unbequemlichkeit brachen. Aber es kommt ihm nicht darauf an, ihr Schmerzen zuzufügen. Er musste sie nur immer wieder für längere Zeit verlassen und deshalb sicherstellen, dass sie sich nicht bewegt. Im Grunde hat sie in einer Art künstlichem Koma gelegen, seit er sie aus ihrer Wohnung verschleppt hat. Shelly Trotter, Shelly Trotter.
Bei ihrem Anblick wird ihm klar, dass sie ohnehin völlig handlungsunfähig gewesen wäre, auch ohne die Handschellen. Das GHB hat gut gewirkt. Ihr Kopf zuckt unkontrolliert, sie stöhnt, aber sie kann nicht sprechen. Die Trainingshose, die er ihr übergestreift hat, ist verschmutzt von ihren Körperausscheidungen, der stechende Gestank übertönt den aseptischen Geruch der Reinigungsmittel. Ihr lockiges Haar ist flach an den Kopf geklatscht. Ihre Lippen bewegen sich unkontrolliert, Speichel rinnt ihr aus den Mundwinkeln.
Er schließt das dritte Paar Handschellen auf, das die Handund Fußgelenke zusammensperrt. Ihr Körper reagiert, sie versucht sich zu strecken, so gut es in dem engen Raum geht. Er schleift sie aus dem Schrank. Die Fesseln an Händen und Füßen wird er ihr nicht abnehmen. Er erwägt einen Moment, ihr noch eine dritte Dosis Betäubungsmittel zu verabreichen, entscheidet sich aber dagegen.
Draußen auf dem Flur hört er das Echo von Schritten auf der Kellertreppe. Er erhebt sich rasch, steht wie erstarrt da, atmet leise, lauscht. Er hört das Quietschen einer Tür – die Tür am anderen Ende des Kellergangs.
Er zückt die Pistole und wartet.
 
Ich zwinge mich weiterzugehen, mit weit ausgreifenden, aber disziplinierten Schritten, in Richtung der letzten Tür, dem Raum des Hausmeisters, in dem damals die Leichen gelegen haben. Dabei komme ich an anderen Türen vorbei, hinter denen er überall lauern könnte, um mich hinterrücks anzugreifen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Shelly sich im Hausmeisterraum befindet. Zwar hätte jetzt, in der Ferienzeit, jeder dieser Räume den Zweck erfüllt, aber Leo ist clever. Er hat versucht, dem Text des Songs zu folgen und die jüngsten Morde als Nachahmungstaten zu tarnen. Offensichtlich wollte er Albany die Sache in die Schuhe schieben, denn schließlich kannte der Professor die Texte besser als jeder andere. Alles sollte genauso aussehen wie beim ersten Mal.
Ich erreiche die letzte Tür, bevor mir auffällt, dass ich weder einen Plan habe noch die Zeit, mir einen auszudenken. Ich drehe den Knauf der Tür und stoße sie auf, in der Hoffnung, dass ich nicht von einem Kugelhagel empfangen werde.
Allerdings hätte er schon vorher jede Menge Gelegenheiten gehabt, mich zu töten.
Ich betrete den Raum, und mir entfährt ein Stöhnen. Koslenko hockt an der Rückwand des Raums vor einem Schrank und drückt eine Pistole gegen Shellys Schläfe. Shelly ist nur halb bei Bewusstsein, ihre Haut ist leichenblass, sie trägt ein dreckverkrustetes T-Shirt und eine mit hässlichen Flecken übersäte graue Trainingshose. Meine Knie drohen einzuknicken, aber ich versuche, mich zu konzentrieren und meine Vorstellungen von dem, was sie durchgemacht haben mag, zu verdrängen.
Das ist die Chance, um die ich gefleht habe. Meine einzige Chance. Es wird keine zweite geben.
Ich reiße mich zusammen, ziehe meine Mundwinkel nach oben, und zwinge mir ein Geräusch ab, das sich so ähnlich anhört wie ein Lachen.
»Okay, okay«, sage ich. »Machen wir uns an die Arbeit, Leo. An die Arbeit. Sie und ich.«
Koslenko wirkt verändert. Sein Haar ist ein Stück weit rasiert, um den Eindruck einer Glatze zu erzeugen, und auch die Haarfarbe ist anders, ein schmutziges Blond. Er trägt eine Brille, doch sie kann diese toten Augen nicht verbergen, und auch nicht die halbmondförmige Narbe darunter. Neben ihm steht ein Gehstock.
Clevere Verkleidung. Besonders die Halbglatze. Zusammen mit dem Humpeln und dem Stock macht sie ihn gut ein Jahrzehnt älter. Das schärfe ich mir noch einmal gründlich ein – er mag verrückt sein, aber er ist nicht dumm.
Ich werfe einen Blick auf Shelly, die unwillkürlichen Bewegungen ihres Körpers, das Heben und Senken ihrer Brust. Sie lebt noch. Wie nahe sie dem Tod ist, vermag ich nicht zu sagen.
Aber daran darf ich jetzt nicht denken. Ich darf mir nichts davon anmerken lassen, dass ich mich jetzt am liebsten auf die Knie werfen und ihn anbetteln würde, mein Leben gegen ihres einzutauschen. Kurz wird mir bewusst, dass ich mich auf diesen Tausch tatsächlich einlassen würde. Aber Leo Koslenko kann mit Schwäche oder Bettelei nichts anfangen.
Jetzt betrachtet er mich mit fragendem Ausdruck. »Wie – wie?«
»Wie ich auf diesen Ort gekommen bin? Das wissen Sie sehr genau, Leo.«
Ich bleibe vage, aus Angst, dass mich jede spezifische Auskunft verraten könnte. Ich habe keine Ahnung, wie ausgeprägt seine Psychose ist. Hört er Stimmen? Sieht er einen Baum und denkt, es wäre ein in Baumrinde gekleideter Spion?
Verrückt, aber nicht dumm. Nur: wie verrückt?
Egal, im Moment jedenfalls misstraut er mir. Ich lasse ihn schmoren, so, als sei die Antwort offensichtlich. Koslenko scheint unentschlossen, wie er reagieren soll.
»Natalia hat es mir gesagt, Leo. Was denn sonst?«
»Misses … Misses … Bentley? Misses -« Koslenko starrt nach unten, aber nicht auf Shelly. Er scheint innerlich mit irgendwas zu ringen. »Sie – mag?«
Sie mag?
»Nicht – bö – böse?«, will er wissen.
Okay. Daraus lässt sich einiges folgern. Er fragt sich, ob Natalia zufrieden ist mit dem, was er diese Woche angerichtet hat. Und genau das verrät mir, dass er alles in eigener Regie getan hat – nicht auf Natalias Geheiß hin. Mrs. Bentley, so hat er sie genannt. Ja. Das war viele Jahre lang ihr Name. So hieß sie damals, als Cassie ermordet wurde.
Er hat diese Woche nicht mit Natalia gesprochen. Und das gibt mir Raum.
»Nein, Leo, sie ist nicht böse. Sie haben schließlich einfach nur Cassie geschützt.«
Er schaut zu mir auf. Er sagt nichts, aber sein Ausdruck verrät tiefe innere Qualen. Dieser Mann, der in den letzten Tagen zahlreiche Menschen grausam getötet hat – und vor sechzehn Jahren vielleicht noch einige mehr – erweckt den Eindruck, als würde er gleich zu weinen anfangen.
»Niemand weiß, dass Cassie Ellie Danzinger getötet hat«, sage ich. »Und ich werde dafür sorgen, dass das so bleibt.«
Koslenko senkt den Blick. Wie ein kleines Kind, dessen Haustier gerade gestorben ist.
»So viel Angst«, sagt er. »So viel Angst …«
 
Cassie hat so viel Angst, sie zittert, sitzt am Küchentisch, weint, nimmt Leos Hand, ich glaube, ich hab sie umgebracht – ich glaube, ich hab Ellie getötet, sagt sie. Alles kommt wieder in Ordnung, sagt er zu ihr. Mutter, ich muss sie anrufen. Mrs. Bentley tritt herein, und sie gehen nach oben, Leo bleibt unten in der Küche, starrt aus dem Fenster in die Dunkelheit, er mag die Dunkelheit, und er beschließt, alles kommt wieder in Ordnung, okay, alles wird wieder gut. Er hilft freiwillig, Nat ist einverstanden. Nachschauen, ob Ellie tot ist, kontrollieren, ob sie schon tot ist. Wenn nicht – wenn sie nicht tot ist – dann macht er sie tot.
Eine Adresse. Er kennt den Namen: Terry Burgos. Er weiß es wegen der Sache vor Gericht, der Mann hat Ellie geärgert, ist ihr gefolgt, und jetzt werden sie die Leiche vor Terrys Haus finden, er wird verdächtigt, Cassie ist gerettet.
Einfach, ganz einfach. Er parkt in zweiter Reihe. Die Tür ist zu, aber nicht abgeschlossen. Ellie liegt auf dem Bett, Gesicht nach oben, die Augen zur Decke gerichtet, ihr Körper kalt und steif. Er trägt sie zur Eingangstür, späht hinaus, niemand da, er schafft sie ins Auto, fährt zu Terrys Haus, das gleiche Spiel, dunkel, niemand wach, trägt die Leiche zur Hintertür von Terrys Haus und rennt zurück zum Wagen.
Bleib dort, hat sie ihm gesagt. Schau zu, was passiert.
Er parkt den Wagen weiter weg, kommt zu Fuß zurück. Er hat nicht erwartet, dass es in der ersten Nacht schon passiert, aber es geschieht in dieser Nacht, eine Gestalt, Terry, ja, es ist Terry, Terry schleppt einen Körper durch seinen Garten zur Garage. Terry verschwindet durch die Seitentür in der Garage, dann rennt er zurück zum Haus und kommt mit Decken und einer länglichen Tasche zurück.
Fünf Minuten. Zehn. Zwanzig. Vierzig. Eine Stunde.
Dann öffnet sich die Garagentür, der Chevy stößt rückwärts aus der Garage und fährt weg. Er weiß nicht warum, er weiß nicht wohin.
Was ist los? Was ist hier geschehen? Dieser Mann, Terry Burgos – was hat er mit Ellies Leiche angestellt? Leo hat sich alles Mögliche ausgemalt, aber nicht das.
Er berichtet Natalia davon. Er weiß nicht mal, wo Terry sie hingeschafft hat. Natalia schweigt. Sie denkt nach. Sie sagt nichts. Dann spürt er es. Plötzlich ist ihm alles klar. Warum hat er das nicht gleich begriffen?
Terry Burgos ist einer von uns. Er hat die Leiche beseitigt.
 
Ich mache zwei Schritte auf ihn zu, indem ich vorsichtig mein Gewicht verlagere, während Leo Koslenko wieder aus seiner Trance erwacht. Diese Offenbarungen, so wirr und fragmentarisch sie auch sein mögen, lassen wichtige Rückschlüsse zu. Cassie hat Ellie getötet, nachdem sie ihren Vater aus Ellies Apartment hat kommen sehen. Ein einziger Schlag gegen Ellies Kopf, die dann langsam auf ihrem Bett verblutete. Aber da war Cassie bereits geflohen, nicht in ihr eigenes Haus, sondern in die Villa auf der anderen Seite von Highland Woods, die in diesen Tagen zumeist leer stand, wegen des Todes von Mia Lake und den ausufernden Reisen Gwendolyns. Cassie erzählte ihrem Freund Leo Koslenko, was vorgefallen war, und verständigte dann ihre Mutter.
Natalia reagierte sofort. Sie wies Leo an, Ellies Leiche abzuholen und in Terry Burgos’ Hinterhof zu entsorgen. Ein brillanter Schachzug. Dass Burgos Ellie nachgestellt hatte, war allgemein bekannt. Zum einen gab es die Schutzanordnung, zum anderen war Burgos nachweislich psychisch instabil. Der perfekte Sündenbock.
Nachdem Burgos Ellie weggeschafft hatte – in eben jenen Raum, in dem wir uns gerade befinden – wertete Leo das als Indiz dafür, dass Burgos mit ihm zusammenarbeitete, dass er einer von uns war.
Uns. Eine Gruppe von Spionen. Ein Team, zu dessen innerem Zirkel Natalia Lake, Bentley, Terry Burgos, Leo Koslenko und ich gehörten.
Ellie war ein Geschenk Gottes, hatte Burgos gesagt. Und es wörtlich gemeint. Gott hatte ihm dieses Mädchen auf die Veranda seines Hauses gelegt, gestorben an einem Schlag auf den Schädel. Gott wollte, dass Terry dem Weg folgte, den Tyler Skye in seinem Song vorgezeichnet hatte. Gott hatte ihm die Frau geschenkt, die er so sehr begehrte, als erstes von sechs Opfern. Also riss er Ellie das Herz heraus, ganz wie das Lied es vorschrieb, und verfrachtete anschließend ihre Leiche in das Bramhall Auditorium.
Ich versuche mir auszurechnen, wie schnell ich das Messer aus meinem Jackett ziehen und einsetzen kann, falls es nötig wird. Aber in Grunde ist mir klar, dass die Sache hier auf einer anderen Ebene ausgetragen wird. Ich mache einen weiteren Schritt auf Koslenko und Shelly zu und studiere seine Reaktion. Seine Augen fokussieren irgendeinen Punkt auf dem Boden. Er durchlebt noch einmal, was vor sechzehn Jahren geschah.
Mit der linken Hand schiebt er Shelly eine Strähne aus dem Gesicht. Seine Pistole drückt er ihr ins Ohr, den Finger am Abzug. Ich weiß nicht, wie reaktionsschnell er ist, aber ich darf es nicht darauf ankommen lassen. Seine physischen Fähigkeiten hat er mir schon einmal demonstriert. Wenn ich es überstürze, ist Shelly tot, bevor ich auch nur in seine Nähe gelange.
Und es gibt einen besseren Weg. Wir sind Genossen, er und ich. In seinen Augen habe ich eine Weile gebraucht, bis ich wieder an Bord war – und mit der Entführung Shellys hat er da ein wenig nachgeholfen – aber die Hauptsache ist, ich bin hier.
»Sie haben Ihren Teil erledigt, Leo«, sage ich. »Jetzt bin ich wieder an der Reihe. Genau wie damals.«
Ich trete einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ich könnte jetzt aus dem Stand auf ihn hechten. Er betrachtet meine Füße, dann schaut er zu mir auf.
»Es wird Zeit Albany, zu opfern«, sage ich. »Und das werde ich. Für Sie gibt es nichts mehr zu tun.«
Seine Augen zucken wild. Er ist wieder in Erinnerungen versunken. Aber seine Pistole ist immer noch auf Shellys Ohr gerichtet. Ich kann es nicht riskieren.
»Sie und Terry sind Helden.«
»Te … Terry. Held … Helden.«
 
Beobachte weiter, befiehlt ihm Natalia. Beobachte Terry. Sag mir, was er tut.
Leo gehorcht, er weiß, wie man beobachtet, weiß, wie man Menschen verfolgt, sie macht ihm Spaß, seine neue Mission. Terry bleibt am Montag den ganzen Tag zu Hause. Erst abends um sechs steigt er in seinen Chevy Suburban. Fährt zu einem Geschäft, das sich Albany-Druckerei nennt, ein paar Meilen vom Mansbury Campus entfernt. Alle anderen Autos fahren weg, er arbeitet allein, bleibt etwa bis neun, verlässt dann in seinem Wagen den Parkplatz, aber fährt nicht nach Hause, nein, nicht nach Hause, er fährt in die Stadt. Leo folgt ihm. Der Suburban kurvt kreuz und quer durch die West Side, in einer großen Schleife. Leo muss aufpassen, dass er nicht bemerkt wird.
Aber niemand bemerkt Leo.
Der Suburban fährt an den Straßenrand, und eine Frau, eine Prostituierte, nähert sich dem Wagen, redet mit ihm, als würde sie ihn kennen, sie steigt ein, er fährt los, zurück zu seinem Haus.
Um Mitternacht passiert es wieder, genau wie bei Ellie gestern, Terry schleppt einen Körper aus der Hintertür und durch die Seitentür in die Garage. Die Garagentür geht auf, der Suburban stößt heraus. Diesmal ist Leo vorbereitet. Er folgt Terry. Die Fahrt ist kurz, keine zehn Minuten, fünf, sechs, sieben, acht Minuten. Terry stellt seinen Wagen vor irgendeinem Theater ab, einem riesigen Gebäude, sehr luxuriös. Leo parkt seinen Wagen einen Block entfernt. Terry lässt die Heckklappe des Suburban aufschnappen, zerrt den Körper der Frau heraus, in eine Hülle gewickelt, rennt mit ihr im Arm die Stufen hoch, benutzt einen Schlüssel, um die große Tür zu öffnen. Zwanzig Minuten später kommt er wieder heraus. Leo wartet, bis er in seinem Suburban davonfährt. Diesmal will er es genau wissen. Er hält dort, wo Terry gehalten hat. Oben auf dem Gebäude steht Bramhall Auditorium. Er öffnet das Schloss der Eingangstür, folgt den schmutzigen Fußspuren zu einer weiteren Tür, öffnet auch dieses Schloss, folgt den Fußspuren, folgt den Spuren.
Sie sind beide da, im letzten Raum, am Ende eines langen Flurs, Ellie und das neue Mädchen, beide nackt, Ellies Brust geöffnet, ein blutiges Loch, eine riesige Wunde, kein Herz mehr, die Kehle des anderen Mädchens ist aufgeschlitzt, ganz tief aufgerissen. Er verwendet sein Schnappmesser, um sie zu markieren, so wie sie in der Sowjetunion ihre Opfer markiert haben, an Stellen, wo niemand es entdecken konnte, außer man suchte danach, ein kleiner Schnitt zwischen dem vierten und fünften Zeh, ein Zeichen, dass der Mord staatlich legitimiert war, vom Staat genehmigt, Schwamm drüber, keine Fragen wurden gestellt, keine Fragen wurden beantwortet, keine Antworten wurden hinterfragt.
Er erzählt Natalia alles. Sie ist erleichtert. Sie ist glücklich! Gut gemacht, sagt sie. Bei ihrer Anerkennung wird ihm ganz warm in der Brust. Er hat seine Sache gut gemacht. Die Operation ist ein Erfolg.
Sie schickt ihn zurück, Terry beobachten. In der nächsten Nacht passiert es wieder. Es ist Dienstag, ein anderes Stadtviertel, aber ansonsten pünktlich auf die Minute, er kommt um neun aus der Arbeit, liest ein Mädchen auf, bringt sie in sein Haus, dann, später in der Nacht, schafft er sie in die Garage, fährt sie ins Bramhall Auditorium und lässt sie im Keller zurück.
Am nächsten Tag, Mittwoch, fährt Leo wieder zur Villa, berichtet alles Natalia, und er kann Cassie sehen, durch den Türspalt in ihrem Schlafzimmer, oh, arme Cassie, ihr Gesicht erzählt von großen Qualen, kein Schlaf, getrocknete Tränen auf ihrem schönen Gesicht, Natalia wacht über sie. Sie darf das Haus nicht verlassen, sorg dafür, dass sie das Haus nicht verlässt, geh Leo, los geh und beobachte Terry, ob er heute Nacht wieder das Gleiche tut.
Hey, du da. Hey! Du!
Er dreht sich um, er ist gerade dabei, das Haus zu verlassen, nachdem er Nat berichtet hat, nachdem er Cassie erspäht, aber nicht mit ihr gesprochen hat, und da ist Gwendolyn.
Gwendoyln Lake, die Cousine, ihr Haus, aber sie ist nie hier, immer in Übersee, doch jetzt ist sie hier, über eine Woche schon, das Trinken und die Drogen, Ellie und ein Junge namens Brandon und Gwendolyn und manchmal Cassie, und da ist sie, Gwendolyn, in ihren teuren Kleidern, die Haare zurechtgemacht, sie steigt aus ihrem Porsche, hängt sich die Handtasche über die Schulter, sie sieht genauso aus wie Cassie, aber nicht nett, nicht freundlich, sie ist ruppig, zerdrückt ihre Zigarette unter den Sohlen und starrt ihn an, nie schaut sie ihn normal an, immer starrt sie ihn an …
Leo, richtig? Hast du irgendeinen Schimmer, was hier abgeht, zum Teufel? In meinem Haus? Was ist verdammt noch mal mit Cassie los?
Er antwortet nicht, er spricht nie viel und nie laut, er kann nicht so gut sprechen, er zuckt mit den Achseln, sondern geht einfach weiter.
Haben die etwa kein eigenes beschissenes Haus auf der anderen Seite der Stadt?
Er gibt keine Antwort, nein, er flieht, er rennt zu seinem Auto, kehrt zu seinem Beobachtungsposten zurück, beobachtet Terry, wieder das gleiche Spiel, am Mittwoch und auch am Donnerstag. Die Mädchen, die Nutten, diesmal fragt er sich warum, warum wählt er diese Mädchen aus, warum Frauen, die auf der Straße anschaffen gehen.
Dann fällt es ihm ein. Natürlich. Sie sind auch heimlich operierende Agenten, aber von der anderen Seite, vom Feind. Natürlich. Terry ist einer von uns, also gehören sie zu den anderen.
 
Leo blickt mir in die Augen. Ich nicke, als wüsste ich über all das längst Bescheid. Terry Burgos lieferte den geradezu perfekten Deckmantel für Natalias Plan, Cassies Mord an Ellie zu vertuschen – er verfiel in einen blutigen Taumel und ermordete vier Prostituierte. Angesichts dieser Taten würde keiner je vermuten, dass Ellie von jemand anderem ermordet worden war.
Vielleicht hätten wir uns den letzten Mord gründlicher vorgenommen, wenn wir nur die Chance dazu gehabt hätten. Aber Natalia bat den Bezirksstaatsanwalt, die Anklage fallen zu lassen, und der war nur allzu schnell dazu bereit, um seinen wichtigsten Wahlkampfspender zufriedenzustellen.
Und ich ließ ihn gewähren. Damit werde ich leben müssen. Aber im Moment muss ich das zu meinem Vorteil nutzen. Koslenko geht davon aus, dass ich so gehandelt habe, weil wir unter einer Decke stecken. Er betrachtet mich als Teil des großen Vertuschungsmanövers.
»Ver…stehen? Ver…stehen?«
Ich zwinge mich zu lächeln. Verstehen. Er will, dass ich die ganze Geschichte kenne, weil er weiß, dass ich die Sache ab hier in meine Hände nehme.
»Fred. Fred«, sagt er. »Ver… ver…«
»Fred Ciancio«, sage ich. »Der Wachmann. Er hat Sie in das Gebäude gelassen.«
Koslenkos Kopf fährt herum. Er kontrolliert jeden Winkel. Nach was hält er Ausschau?
»Sie hat gesagt … nichts... sag ihm nichts. Schlüssel. Nur … die Schlüssel.«
»Mrs. Bentley«, stelle ich klar.
Klingt plausibel. Eine Frau mit so viel Geld hat vermutlich Verbindungen zu reichen und einflussreichen russischen Kreisen in der Stadt und konnte sicher ein paar Drähte ziehen. Es ist auch nicht unüblich, dass ehemalige Gefängniswärter wie Ciancio Verbindungen zu entlassenen Gefangenen pflegen. Und es gab immer jede Menge Mitglieder der russischen Mafia im Gefängnis.
»Sie haben Ciancio nichts verraten?«, frage ich. »Wie hat er es dann rausgefunden?«
Ich sage das kopfschüttelnd, so, als sei ich ebenso enttäuscht darüber wie Koslenko, dass Ciancio eins und eins zusammengezählt hatte.
»Po…lizei. Cops. Cops waren da.«
»Er hat es sich zusammengereimt, als die Polizei auftauchte?«
Richtig. Das machte Sinn. Natürlich.
»Passen Sie auf, Leo …«
Ich stocke, höre das Gleiche, was auch Leo hört. Geräusche über uns. Das Splittern von Glas. Jemand dringt durch die Haupttür ein.
Scheiße. Ich blicke Koslenko an, dann zurück zur Decke.
Koslenko starrt mich mit panischem Ausdruck an und rammt die Pistole tiefer in Shellys Ohr.
Eine Tür knallt gegen die Wand. Die Tür zur Kellertreppe.
»Schenken Sie denen keine Beachtung«, sage ich schnell. »Die vertrauen mir, Leo. Das haben sie immer getan. Sie wissen ja, was ich letztes Mal ermöglicht habe. Genau das werde ich wieder tun. Natalia … Mrs. Bentley hat mir gesagt, ich soll es wieder tun. Und das werde ich. Aber nicht, wenn Sie Shelly verletzen, Leo. Wenn Sie sie verletzen, dann erzähle ich denen alles über Cassie.«
Koslenkos Augen irrlichtern, ein leises Stöhnen dringt aus seiner Kehle. Er murmelt etwas Unverständliches. Worte in einer Sprache, die ich nicht verstehe.
Polternde Schritte auf der Treppe. In weniger als einer halben Minute werden sie hier hereinstürmen. Dann ist alles gelaufen. Shelly hat keine Chance mehr.
»Ich werde Sie schützen, Leo. Das habe ich immer getan.«
»Schützen. Schützen.«
»Für immer, Leo. Für immer.«
Aber er hört nicht mehr zu, hört auch nicht auf die Schritte der Männer, die auf den Raum zuspurten.
»Ihre Zeit ist gekommen, Leo. So wie Terrys Zeit gekommen war.«
»Skoro, Katrina«, flüstert Koslenko, als die Tür aufgetreten wird und Detective Michael McDermott seine Waffe hochreißt.
Ich schließe die Augen, als ein einzelner Schuss durch das Kellergeschoss donnert.
In Gottes Namen
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