17.
Kapitel
Leo sitzt im Café, mit dem Rücken zur Wand – dreh
ihnen nie den Rücken zu -, und behält die Fensterfront samt der
Eingangstür im Auge. Er tut so, als lese er Zeitung, späht aber
über ihren Rand hinweg auf die Straße. Seine Augenlider sind wie
Blei, seine Bewegungen schleppend. Es war spät gestern Nacht –
heute früh, um genau zu sein – in der Gasse mit Riley und dieser
Frau.
Er mustert jeden, der hereinkommt. Keiner beachtet
ihn. Aber genau das wollen sie ihn glauben machen. Sie wollen seine
Wachsamkeit einschläfern.
Natürlich unterschätzen sie ihn. Er weiß genau, sie
sind überall, jeder hier kann einer von ihnen sein.
Er streicht sich vorsichtig über den Magen, bittet
die Säure, ihn zu verschonen, denn er weiß, je mehr er sich
aufregt, desto grausamer schlägt sie zu.
Eine dünne Frau im Tanktop, die Sonnenbrille ins
blonde Haar gesteckt, mit einer Hand einen Kinderwagen schiebend,
in der anderen eine Flasche grünen Tee, lässt sich in einem Sessel
keine zwei Schritt neben ihm nieder. Sie kümmert sich demonstrativ
um ihr Baby, aber dann wendet sie den Kopf, ganz zufällig, ganz
beiläufig, schaut in seine Richtung, so als wäre das keine
Absicht.
Sprich mit der Frau. Teste sie.
Er versucht es. Aber mit Worten hat er es nicht so.
Er spricht sie nicht richtig aus. Ich mag ihr Baby, will er
sagen.
Die Frau wendet sich ihm zu, lächelt. »Danke.« Ihr
Blick hat etwas Mitleidiges. »Meine hier hat mich die ganze Nacht
lang wach gehalten.«
Er versucht zu lächeln. Lange Nacht.
Nachts habe ich düstere Gedanken.
Versuch es noch mal. Wie alt ist es? Klappt
schon besser. Die Frau antwortet – »Zehn Monate« – und Leo bricht
den Blickkontakt ab, trotzdem bekommt er genau mit, wie sie eilig
ihr Kind hochnimmt und es fest an sich drückt.
Leo krümmt sich zusammen, Dolchstiche durchbohren
seinen Magen. Die Frau erhebt sich rasch und tritt an die Theke.
Gerade noch rechtzeitig sieht er aus dem Fenster und entdeckt Paul
Rileys Wagen, der rückwärts aus der Gasse hinter seinem Haus
stößt.
Die Frau starrt in seine Richtung, und er tut so,
als bemerke er es nicht. Er hat ihr was voraus. Er kann sie
beobachten, ohne dass sie es mitkriegt.
Ich weiß genau, dass du mich anstarrst, du kleine
Schlampe. Ich könnte dir die Augen rausreißen, einfach so.
Leo setzt seine Baseballkappe auf und verlässt das
Café. Kurz wendet er sich um. Die Frau späht ihm durchs
Schaufenster hinterher und streichelt dabei den Kopf ihres Babys.
Schlechtes Baby. Billige Attrappe.
Leo läuft zu seinem Auto. Eine Weile lang fährt er
durch die Gegend, dann kehrt er zu Rileys Straße zurück, nähert
sich diesmal von der anderen Seite. Er bleibt nördlich von Rileys
Haus, steht lange am Straßenrand und beobachtet die Rückund
Seitenspiegel. Kein Verkehr. Nichts. Niemand.
Er fährt einen Block weiter und parkt. Die Straße
gleicht der vor Rileys Haus, teure Villen, hohe Zäune, hübsche
Gärten, gepflegter Rasen – perfekte Häuser, perfekte Menschen,
strahlend und glücklich. Er holt seine Sporttasche aus dem
Kofferraum, läuft zur Straßenecke und biegt in Richtung Rileys Haus
ein. In der Mitte des Blocks verharrt er kurz, dann betritt er die
kleine Gasse.
Als er vor Rileys Garage und der kleinen
Gartenpforte steht, benutzt er Rileys Schlüssel von gestern Abend.
Der erste passt nicht, der zweite auch nicht, beim dritten Versuch
ist er drin.
Das Haus besitzt eine Schiebetür zum Garten, aber
keiner der Schlüssel passt. Pech. Eine Treppe führt hinab zu einer
verschlossenen Kellertür. Wenn man auf der untersten Stufe der
Treppe steht, liegt die Rasenfläche genau auf Höhe der Augen. Eines
der Glasfenster der Kellertür ist eingeschlagen und durch ein Stück
Pappe ersetzt worden.
Leo probiert einen anderen Schlüssel, weil der
erste nicht ins Schloss passt, beim zweiten klappt es, und er
schlüpft mit seiner Tasche hinein. Gut. Sehr gut.
Zwanzig Minuten später verlässt er das Haus durch
die Kellertür, schließt hinter sich ab, geht die Stufen hinauf und
blinzelt in die warme Sonne. Stimmt schon, fühlt sich gut an, echt
gut, aber andererseits ist es eine Waffe, die sie einsetzen, das
gute Wetter soll sie alle in heitere, hirnlose Menschen verwandeln.
Fröhlich grinsende, naive Roboter.
Ich kann in eurer Welt leben. Ich lebe in eurer
Welt und in meiner gleichzeitig. Das ist der Unterschied zwischen
mir und euch. Und das ist auch der Unterschied zwischen mir und
Terry.
Langsam läuft er zurück zur Gartenpforte. Draußen
auf der Gasse beschleunigt er seine Schritte, seine Augen mustern
nervös die Umgebung, denn das ist genau so ein Moment – es ist warm
und schön, man macht sich keine großen Gedanken, ist völlig
unbekümmert, ja, völlig sorglos, und während man noch so vor sich
hinpfeift, schlagen sie zu, gerade wenn man es am wenigsten
erwartet.
Aber schon ist er wieder zurück auf der breiten
Straße, bei seinem Auto, in Sicherheit. Er lässt den Motor an.
Ruhig jetzt, sein Herzschlag normalisiert sich, ein paar
Atemübungen, die Klimaanlage voll aufdrehen, einatmen, ausatmen,
kalte Luft auf seinem durchschwitzten T-Shirt, versuch’s mit einem
Lächeln. Er fährt an dem Café vorbei, die Kappe tief in die Stirn
gezogen, und späht durchs Schaufenster zu dem Platz, wo er vor
einer halben Stunde gesessen hat.
Die Frau mit dem Baby ist weg.
Im Rückspiegel betrachtet er die nachfolgenden
Wagen. Schnell fährt er an den Straßenrand, zwingt die anderen
Wagen zum Überholen, wirft einen Blick auf die Fahrer, es ist keine
dünne blonde Frau mit Baby darunter, andererseits, so primitiv
würden sie auch nie vorgehen. Er wartet ab, eins-zwei,
eins-zwei-drei, eine Lücke im Verkehr, er reißt das Steuer herum,
wendet den Wagen mitten auf der Straße. An der nächsten Ecke biegt
er scharf links, dann wieder links, und noch einmal, fährt im
Kreis, immer den Rückspiegel im Auge. Die Luft scheint rein. Um
ganz sicher zu gehen, wiederholt er die Prozedur noch zweimal. Er
hat es bis zu diesem Punkt geschafft. Kein Grund, jetzt nachlässig
zu werden.
Heute Nacht wird er Gewissheit haben.