44. Kapitel
»Ich verlange einen Anwalt.«
Professor Frank Albany, gekleidet in ein helllila Hemd mit passender Krawatte und dunklem Sakko, verschränkt die Arme vor der Brust, als McDermott und Stoletti den Vernehmungsraum betreten.
»Das ist Freiheitsberaubung.«
Polizeibeamte haben Albany aus seinem Büro geholt, in ihren Wagen verfrachtet und ihm Handschellen angedroht. Keine spaßige Art, ins Revier zu gelangen. Also der beste Weg, einem Zeugen ordentlich Angst einzujagen.
»Sagen Sie mir, wo Leo Koslenko ist«, fordert McDermott, »und ich lasse Sie gehen.«
»Wer?« Albany neigt den Kopf zur Seite. Seine Lippen öffnen sich, aber er sagt nichts.
»Verscheißern Sie mich nicht, Professor.«
Albany springt aus seinem Stuhl auf, zeigt mit dem Finger auf McDermott. »Sie haben kein Recht …«
McDermott schnappt nach seinem Handgelenk, lässt eine Hälfte der Handschellen zuschnappen und befestigt die andere Hälfte an einem Ring in der Mitte des Tisches. Während Albany noch jammert und protestiert, streckt McDermott Stoletti die Hand entgegen, und sie reicht ihm ein Verbrecherfoto von einer von Leo Koslenkos Verhaftungen.
McDermott klatscht das Foto auf den Tisch und tritt zurück. Er bemerkt sofort den kurzen Moment des Wiedererkennens in Albanys Augen. Der Blick des Professors wandert von der Aufnahme zu McDermott. Er versucht nicht mal, es abzustreiten.
»Leo Koslenko«, wiederholt McDermott.
»Ich verlange einen Anwalt.«
McDermott zieht aus einem Aktenordner eine Kopie des Briefes, den sie in Leo Koslenkos Schlafzimmer gefunden haben, und schiebt sie über den Tisch.
Ich weiß, dass Sie von meiner Beziehung zu Ellie wis sen. Und ich weiß von Ihrer Beziehung zu meiner Toch ter. Wenn Sie etwas ausplaudern, werde ich das auch tun. Aber wenn Sie schweigen, richte ich auf Ihren Na men einen Lehrstuhl am Mansbury College ein. Ich be nötige Ihre Antwort sofort.
Albany beginnt zu lesen, dann verfärbt sich sein Gesicht dunkelrot. Er schließt die Augen und wendet den Kopf ab.
Das ist so gut wie ein Geständnis. Er kann in der kurzen Zeit nicht mehr als eine Zeile gelesen haben. Und hätte er nicht gewusst, was in dem Brief steht, hätte er weitergelesen.
McDermott hockt sich Albany gegenüber auf einen Stuhl. Stoletti tut das Gleiche.
»Danke für Ihre Antwort«, sagt McDermott. »Sie lautet also ja. Sie haben über seine Affäre geschwiegen, und er im Gegenzug über Ihre. Außerdem warf er noch einen gut besoldeten Lehrstuhl mit in den Topf.«
Der Professor fällt langsam in sich zusammen, seine Züge sind angstvoll verzerrt, die Haut glänzt vor Schweiß. Seine ganze Haltung ist merkwürdig verdreht, da er sich nun völlig vom Tisch abgewandt hat, aber mit einer Hand an seine Mitte gefesselt ist.
McDermott kann ihn jetzt buchstäblich riechen, den durchdringenden Geruch nackter Panik. Einige sind leichter zu knacken als andere. Der Professor hier ist ein Weichling.
»Harland Bentley hat bereits gegen Sie ausgesagt«, fügt er hinzu. McDermott tappt ziemlich im Dunkeln. Ein Täuschungsmanöver gehört zu den wenigen Möglichkeiten, die ihm bleiben; daher wendet er diese klassische Verhörtechnik gern bei Fällen mit mehreren Verdächtigen an – man behauptet einfach, der eine habe gegen den anderen ausgesagt. Der Letzte, der auspackt, ist der Verlierer.
»Ich will einen Anwalt«, stammelt Albany mit zittriger Stimme.
»Jetzt ist nur noch eine einzige Fragen offen«, fährt McDermott fort. »Wer von Ihnen beiden hat die Mädchen umgebracht?«
Albanys Kopf fährt herum, seine feuchten, blutunterlaufenen Augen zucken zwischen den beiden Detectives hin und her.
»Er hat gesagt, es sei Ihre Idee gewesen.« McDermott lässt sich in seinen Stuhl zurückfallen, jetzt hat er die Oberhand. »Möchten Sie uns vielleicht Ihre Sicht der Dinge erläutern?«
»Ich möchte einen Anwalt.«
»Ich will Ihnen sagen, warum das keine so gute Idee ist, Professor. Das Ganze hier ähnelt einem Rennen. Ich nehme an, Sie beide tragen hier Mitschuld. Aber einer von Ihnen wandert in die Todeszelle. Mir ist egal wer. Aber Bentley hat diese ganzen teuren Anwälte, er wird irgendwas aushandeln und vielleicht nur kurze Zeit im Gefängnis abreißen. Fühlen Sie sich einem Schlagabtausch mit Harland gewachsen? Wer, glauben Sie, wird gewinnen?«
»Das ist doch -« Der Professor hat jetzt völlig die Fassung verloren und seine Spucke fliegt quer durch den Raum, während er brüllt. »Das ist doch alles gelogen! Wie soll das Ganze denn meine Idee gewesen sein? Er hat mir doch diesen Brief geschrieben!«
McDermott erwidert nichts, aber einen kleinen Treffer hat er schon erzielt. Albany hat zugegeben, die Nachricht von Bentley empfangen zu haben.
»Wer von Ihnen hat Cassie getötet?«, fragt er.
Albanys Arm fliegt in die Höhe. »Von was zum Teufel reden Sie da?«
»Wer von Ihnen hat Ellie umgebracht?«
»Was?«
»Bentley sagt, Sie waren es. Sie zogen einen Nutzen aus Cassies Tod. Wäre herausgekommen, dass Sie eine Studentin vögeln, hätten Sie Ihren Job verloren. Und in diesem speziellen Fall stand es nicht einfach Aussage gegen Aussage. Stimmt’s?«
Albany schüttelt wütend den Kopf.
»Doch«, fährt McDermott fort. »Denn sie war schwanger. Und das ist ein ziemlich handfester Beweis, oder, Professor? Sie waren der Scheißvater. Selbst ohne DNS-Test hätte man damals die Vaterschaft nachweisen können. Sie wussten, Sie würden sich nicht rausreden können. Der Vaterschaftstest würde eindeutig auf Sie hinweisen.«
»Das ist doch alles gar nicht wahr«, beharrt Albany. »Sie täuschen sich.«
»Sie dachten, wenn Cassie erst mal beseitigt ist, dann gibt es keinen mehr, der etwas über Schwangerschaft, Vaterschaftstest oder Abtreibungen ausplaudern kann.«
»Nein …«
»Aber Sie haben nicht damit gerechnet, dass sie auch noch anderen davon erzählen würde.«
»Nein!« Albany donnert mit der Faust auf den Tisch und wirft sich auf seinem Stuhl hin und her, unfähig, seinen Arm vom Tisch zu lösen.
»Sie haben eine Abmachung getroffen«, sagt McDermott. »Zwei tote Mädchen, die zwei Geheimnisse mit ins Grab nehmen.«
»Nein. Nein. Das stimmt nicht. Ich meine, was – was ist denn mit Terry?«
»Oh, die ganze Sache Terry in die Schuhe zu schieben, war die leichteste Übung bei der Geschichte. Sie waren schließlich so was wie sein Mentor, richtig? Sie hatten sein Hirn bereits völlig verwirrt, indem Sie ihm all diese Gedichte über das Verstümmeln von Frauen zu lesen gaben, und wie sehr die Bibel so etwas befürwortet. Und Sie wussten, dass er auf Ellie Danzinger stand.«
Albanys Augen, die wild durch den Raum huschen, richten sich jetzt auf McDermott.
»Er fuhr jede Nacht mit seinem Suburban zu Ihrer Druckerei, Professor. Es war überhaupt kein Problem, sich die Schlüssel zu schnappen. Sie haben seinen Pick-up benutzt und vermutlich auch seinen Keller. Mich interessiert nur, wie Sie es geschafft haben, sein Hirn so zu verwirren, dass er glaubte, er hätte die Mädchen getötet?«
»O Jesus. Gott im Himmel.« Albany bedeckt die Augen. »Schicken Sie mir einen Anwalt. Schicken Sie mir sofort einen verdammten Anwalt!«
»Bentley hat schon ziemlich vorgelegt«, bemerkt Stoletti. »Wenn Sie uns was zu sagen haben, tun Sie es besser gleich.«
»Wenn wir diesen Raum verlassen«, sagt McDermott, »dann ist die Sache für Sie gelaufen. Wir schicken Ihnen einen Anwalt, aber dann ist es zu spät.« Nach einem kurzen Schweigen nickt er Stoletti zu. »Gehen wir, Detective. Besorgen wir uns das unterschriebene Geständnis von Harland Bentley.«
Ein kurzes Luftschnappen, ein bitteres Lächeln, dann schüttelt Albany den Kopf.
McDermott und Stoletti, die sich schon aus ihren Stühlen erhoben haben, setzen sich wieder. Albany ist nicht dumm, vielleicht durchschaut er ihre Finte.
Zum Teufel, er hat bereits mehrmals einen Anwalt verlangt. Aber er ist bloßgestellt worden, mit Informationen, von denen er nie erwartet hätte, dass sie je ans Tageslicht gelangen. McDermott hat schon miterlebt, dass viel härtere Kandidaten weiche Knie dabei bekamen.
»Gottverdammter Harland Bentley«, murmelt er. »Das hätte ich mir denken können.«
»Schildern Sie uns Ihre Seite«, sagt McDermott.
Albany blickt zu den Detectives auf, ein Gesicht wie eine verrottete Frucht, nur noch eine lächerliche Karikatur des überheblichen Mannes, der diesen Raum betreten hat. »Wissen Sie, was noch schlimmer ist, als die beste Freundin der eigenen Tochter zu ficken?«, fragt er.
McDermott antwortet nicht.
Albany holt tief Luft. Sein Mund verzieht sich zu einem wütenden Grinsen. »Dann wissen Sie noch nicht alles.«
 
Während ich auf die Detectives warte, studiere ich noch einmal die Briefe.
BENÖTIGE ERNEUT IHRE BEIHILFE
WERDE ZWEITEN VERS BENUTZEN.
ZEIT ZU OPFERN. ALBANI
ANDERE WISSEN UM UNSER GEHEIMNIS
 
Was für ein Geheimnis ist hier gemeint? Welche Art von Hilfe hatte ich ihm gewährt?
Ich habe in diesem ganzen verfluchten Fall die Anklage vertreten. Ich habe Burgos vor Gericht gezerrt und ihn im Prozess geschlagen. Welche Art von Gefallen soll ich ihm da getan haben?
Ich lehne mich im Stuhl zurück, schließe die Augen und gehe die Geschichte des Falls noch einmal durch. Der erste Tag, an dem wir die Leichen fanden, Burgos festnahmen und das Geständnis erhielten. Dann der Kampf um die Zulassung des Geständnisses vor Gericht. Burgos plädierte auf Schuldunfähigkeit. Und am Ende drehte sich alles um den Nachweis, dass er bei klarem Verstand und im vollen Bewusstsein seiner Schuld gehandelt hatte.
Hat sich Koslenko mir je gezeigt? Hat er durch irgendetwas meine Aufmerksamkeit erregt? Hat er mir damals schon einen Brief geschickt -
Ich öffne die Augen, Adrenalin schießt durch meine Adern. Ich greife nach meinem Handy und rufe in der Kanzlei an.
»Betty«, sage ich, »damals beim Burgos-Prozess. Erinnerst du dich noch an die vielen Briefe, die bei uns eintrafen?«
»Klar doch«, sagt sie.
»Haben wir die aufgehoben?«
»Sicher. Für das Buch, das du schreiben wolltest.«
»Such sie schon mal raus«, sage ich. »Ich bin gleich da.«
In Gottes Namen
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