21.
Kapitel
Rechtzeitig um halb sieben treffe ich vor dem Gala
ein, einem Lokal, das vor einem Monat neu eröffnet hat. Vor dem
Eingang bildet sich bereits eine Schlange, aber ich marschiere
direkt auf den Türsteher zu, der aussieht, als habe man zwei Männer
in die Haut eines einzigen gestopft, und nenne ihm meinen Namen.
Und zur größten Verblüffung von zwanzig schick gekleideten, auf dem
Gehsteig wartenden Menschen erhalte ich augenblicklich
Zutritt.
Einfach weil ich die zwei magischen Worte kenne:
»Harland Bentley«.
Ich trage Anzug und Krawatte, bin also für diesen
Laden viel zu förmlich gekleidet. Im Erdgeschoss liegt das
vollbesetzte Restaurant. Man serviert hier »Asian Fusion Cuisine«,
was immer das sein mag. Das Personal trägt schwarze T-Shirts und
Jeans. Aus den Lautsprechern dröhnt eine Mischung aus Pop und Disco
– eine Pop-Disco-Fusion? -, obwohl diese Musik vermutlich seit
zwanzig Jahren keiner mehr »Disco« nennt. Für mich gibt es ohnehin
nur zwei Arten von Musik: Jazz – und das ganze übrige Zeug.
Heutzutage kommt es mehr darauf an, sich sexy in einem Video zu
präsentieren, als gut singen zu können. Keiner erfindet noch neue
Musik, man begnügt sich mit fantasielosen Variationen alter
Stilrichtungen und verpasst ihnen neue Namen.
Ich nenne meinen Namen einem weiteren Türsteher. Er
ist noch breiter gebaut als der andere und bewacht die Treppe zur
Bar im ersten Stock. Auf dem Weg nach oben verkündet ein Schild,
dass mich dort die »Coming-out-Party« eines begnadeten neuen
Szenekünstlers erwartet. Ich beschließe, nicht genauer
nachzufragen, was in diesem Fall mit »Coming-out« gemeint ist. Auf
der Treppe kommen mir zwei Männer in Rollkragenpullovern entgegen,
einer mit Pferdeschwanz, der andere kahl rasiert, und beide mit
einem zutiefst blasierten Ausdruck im Gesicht. Die Musik da oben
klingt, ich kann es leider nicht anders sagen, wie früher Disco.
Alle möglichen Arten computergenerierter Sounds, ein mechanischer
Beat, ein wummernder Bass. Keine Ahnung, warum Menschen sich
solchen Mist anhören. Es ist nahezu stockfinster hier, aber ich
kann erkennen, dass die Mehrzahl der Menschen sich in der Mitte des
Raumes um einen Mann drängt, der – wie nicht anders zu erwarten –
einen Rollkragenpullover trägt. Ich wage zu vermuten, dass es sich
hierbei um den Künstler handelt. Vielleicht sollte ihm jemand
sagen, dass es draußen über zwanzig Grad hat.
Mein Blick fällt auf die Bar, und ich spiele gerade
mit dem Gedanken, mir einen Martini zu holen, als jemand meinen
Name ruft. Es ist Harland, im Arm eine Asiatin, die fast so groß
ist wie er und dünn wie eine Zaunlatte. Ich schätze sie auf
höchstens dreiundzwanzig. »Lisa, das ist Paul Riley.«
Ich ergreife ihre manikürte Hand und bewundere
einen Moment ihr aufreizendes Kleid. Jesus, der Mann konsumiert
Frauen wie ich Wodka.
»Du musst unbedingt Raven kennenlernen«, sagt
er.
»Ich kann es kaum erwarten«, erwidere ich, obwohl
ich nicht den geringsten Schimmer habe, wen oder was er damit
meint. Als er jemanden herbeiwinkt, wird jedoch rasch klar, dass
»Raven« der Künstler sein muss. Ein Wink Harlands scheint hier
Gewicht zu besitzen, denn Raven kommt augenblicklich angeschossen,
legt die Hände zusammen und verbeugt sich vor Harland. Sein Haar
trägt er in der Mitte exakt gescheitelt und zu beiden Seiten steil
emporgekämmt. Er hat ein zartes spitzes Gesichtchen. Wenn dieser
Typ in seiner Kindheit nicht tagtäglich von anderen Jungs
verprügelt wurde, fresse ich einen Besen.
»Raven«, brüllt Harland über die Musik hinweg, »das
ist ein Freund von mir, Paul. Paul, Raven hier ist einer der
bedeutendsten postmodernen Künstler.«
Ich schüttle seine Hand und versuche im Dämmerlicht
auszumachen, ob Raven Lidschatten trägt, oder ob ihm einfach jemand
Schläge auf beide Augen verpasst hat. Sollte sein Name wirklich
Raven sein, vermute ich eher Letzteres.
»Ich dachte, ein wichtiges Merkmal postmoderner
Kunst sei gerade, dass sie das Konzept von Bedeutung ablehnt«,
bemerke ich, beuge mich zu ihm vor und grinse zufrieden. Ich habe
das mal irgendwo gelesen. Raven versteht mich entweder nicht oder
tut zumindest so. Harland findet das Ganze offensichtlich amüsant
und flüstert Lisa etwas zu, die sich für die Umstehenden in Pose
wirft. Er küsst ihr die Hand und wendet sich dann wieder mir
zu.
»Sollen wir?«, fragt er. Offensichtlich muss Lisa
sich auf der Party alleine amüsieren, was allerdings kaum ein
Problem sein dürfte. Es gibt hier sicher eine Menge Männer, die
sich ihrer nur allzu gerne annehmen werden, und genügend Drogen, um
einen südamerikanischen Diktator damit zu finanzieren.
Harland hätte sich ebenso gut gleich unten mit mir
verabreden können, statt mich extra hoch in die Bar zu beordern.
Vermutlich war das nicht in der Absicht, mich diesem zwitterhaften
Künstler vorzustellen. Harland mag es einfach, wenn die Leute bei
ihm antanzen, selbst wenn man sich auf neutralem Boden
trifft.
Vielleicht will er mir auch demonstrieren, wie
wichtig er ist, umschwärmt von der attraktiven Kunstelite, die
meisten halb so alt wie er, und mir bei dieser Gelegenheit gleich
das neueste Schmuckstück an seiner Seite vorführen. Dass er Geld
hat, ist schließlich hinreichend bekannt. Ebenso seine
Frauengeschichten. Jetzt muss er sich auch noch als Mäzen der
Kunstwelt präsentieren, mit dem neuesten Supermodel im Arm. Der
Mann ist ein wandelndes Klischee. Er ist fast schon
bemitleidenswert.
Fast.
Im Erdgeschoss gerät das Personal bei seinem
Anblick in Verzückung. Ich dagegen ernte lediglich gelangweilte
Blicke, sobald sie mitkriegen, dass ich weder Filmstar noch
Künstler bin, sondern nur irgendein Anwalt. Ich kann mich erinnern,
in der vierten Klasse mal ein Haus gemalt zu haben. Ich hielt das
Bild für ziemlich gelungen. Aber Schwester Virginia warf nur einen
kurzen Blick darauf und meinte dann, ich sollte besser Anwalt
werden.
Eine Hostess nimmt mir meinen Aktenkoffer ab, aber
gleich drauf fällt mir siedendheiß ein, dass sich darin meine
Notizen zu den Fällen befinden. Ich verfüge nämlich über eine Akte
mit den Resümees sämtlicher Rechtsangelegenheiten, in denen meine
Firma BentleyCo und ihre Tochterfirmen vertritt. Bei Harland sollte
man nie unvorbereitet erscheinen. Wenn er sich einen Überblick
verschaffen will, dann hat das nichts mit einem sokratischen
Diskurs an der Uni zu tun, bei dem man in seinem Hirn mühsam nach
Antworten kramt, während einen der Professor mit abstrakten Fragen
bombardiert. Dieser Mann leitet die Geschicke dutzender Firmen
weltweit und hält sich trotzdem auf dem Laufenden über jedes noch
so kleine Detail seiner offenen Rechtsfälle.
Wir werden an einen für uns reservierten Tisch
gelotst. Eine Stufe führt zu ihm hinauf, wodurch wir einen
angemessenen Überblick über die anderen Speisenden haben. Ein
Kellner kommt mit zwei Papierrollen an unseren Tisch geeilt, die in
diesem Etablissement offensichtlich als Speisekarten dienen.
Allerdings weiß ich bereits, dass Harland nie von der Karte
bestellt.
Das Wort, das Harland am treffendsten beschreibt,
ist entschlossen. Bei ihm gibt es keine faulen Kompromisse.
Sein Händedruck gleicht einem Schraubstock. Er trägt sein Haar fast
militärisch kurz. Seine Augen sind klein, durchdringend und
beweglich, als wären sie beständig auf der Suche nach neuen
Herausforderungen. Seine Kiefermuskeln befinden sich in einer Art
Dauerspannung. Er kleidet sich in gestärkte Hemden und in die
elegantesten Anzüge, die ich kenne, und dabei trage ich selbst
gerne edlen Zwirn. Der Mann war nie in der Armee, trotzdem ist sein
Tagesablauf straff durchorganisiert. Er steht um fünf Uhr in der
Früh auf, schwimmt tausend Meter in seinem Pool – im Sommer unter
freiem Himmel -, isst dann ein gesundes Frühstück und schafft es,
rechtzeitig um Viertel vor sieben im Büro zu sein. Bekäme ich einen
Vierteldollar für jede Nachricht, die Harland vor meinem Eintreffen
im Büro auf meiner Mailbox hinterlassen hat, wäre ich reich.
Ich meine: noch reicher.
»Schön, dass Sie kommen konnten, Paul.«
»Ist mir stets ein Vergnügen, Harland.«
»Henry«, sagt er zu dem Kellner, der erneut
augenblicklich aus dem Nichts auftaucht. »Perrier mit Zitrone für
mich. Paul?«
Keine Ahnung, warum Harland den Namen eines
Kellners in einem Lokal kennt, das gerade mal ein paar Wochen
geöffnet hat. Vermutlich hat ihn diese Detailbesessenheit zum
Milliardär gemacht. Das, oder die zwanzig Millionen Startkapital,
die er bei seiner Scheidung einsackte.
Ich habe Lust auf das Übliche. Harland mustert mich
kurz, als missbillige er meine Bestellung. Er selbst trinkt nicht
und raucht nicht. Sein einziges Laster ist, wie ich – und viele
andere – schon am eigenen Leib erfahren haben, seine ungehobelte
Ausdrucksweise. Dieser Mann pflegt die kultivierten Umgangformen
der Superreichen, aber wenn ihm jemand quer kommt, kann er fluchen
wie ein Taxifahrer.
Also vermeide ich es tunlichst, ihm quer zu kommen.
Trotzdem bestelle ich mir einen Martini, schön schmutzig, mit
anständig Wodka und schwarzen, käsegefüllten Oliven.
Ach ja, ein zweites Laster habe ich vergessen: die
Frauen. Jedes Mal, wenn er in den Klatschspalten bei einem
gesellschaftlichen Ereignis auftaucht, ist es eine andere. Blond,
brünett, rothaarig, kurvenreich, zierlich, langbeinig – der Mann
lässt sich auf keine spezifischen Vorlieben festlegen,
vorausgesetzt, man betrachtet Jugend und umwerfendes Aussehen nicht
als solche.
Eine Frau mit kunstvoll frisiertem Haar und Perlen
um den Hals, die gerade frisch vom Laufsteg heruntergestiegen
scheint, begrüßt Harland. Küsschen hier, Küsschen da, kurzes Nicken
in meine Richtung.
Harland lehnt sich einen Moment zurück und sonnt
sich in seinem Glanz. Der Mann ist ein Rockstar. Immer noch die
Spur eines selbstzufriedenen Lächelns auf den Lippen wendet er sich
mir zu.
»Sagt Ihnen der Name Evelyn Pendry etwas?«, fragt
er.
Er fühlt sich wohl in der Dunkelheit, warm und
geborgen, nachts sind alle Katzen grau, du kannst mich nicht sehen,
trotz des schmalen Lichtstrahls, der durch den Spalt zwischen den
beiden Türen fällt, hier drin ist es dunkel, sehr dunkel im
Kleiderschrank … Plötzlich das Schnappen des Schlosses an der
Eingangstür.
Leo zückt sein Messer und erhebt sich aus der
Hocke.
Bumm, irgendwas ist neben der Eingangstür zu
Boden gefallen. Der Türriegel wird wieder vorgeschoben. Schnelle
Schritte auf dem Teppich. Der Fernseher geht an, Stimmen erfüllen
den Raum.
»Und nun wichtige Kurznachrichten vom Tage«, sagt
Evelyn Pendry und imitiert dabei den präzisen Tonfall ihrer Mutter,
die im Hintergrund die Nachrichten verliest. Sie tritt ins
Schlafzimmer, streift ihre Ohrringe ab, wiederholt, was ihre Mutter
im Fernsehen sagt. Sie knöpft ihre Bluse auf, kickt die Pumps weg,
windet sich aus dem Rock.
Der Duft von Beeren schwebt durch den Raum. Leo
atmet ihn tief ein. Es ist lange her, seit er so was gerochen hat
-
»Senator Almundo«, spricht Evelyn ihrer Mutter
nach, »hat alle Anschuldigungen zurückgewiesen.«
Sie steht vor dem Spiegel, in ihrer cremefarbenen
Seidenunterwäsche, akzentuiert ihre Worte mit entschlossenen
Kopfbewegungen. »Senator Almundo … hat sämtliche Vorwürfe
zurückgewiesen.«
Leo starrt durch den Spalt zwischen den
Schranktüren, während Evelyn den Satz wiederholt und dabei an der
Betonung feilt. Ihr Körper ist fest und hübsch geformt, aber statt
zu Fantasien regt er ihn nur zu der Überlegung an, wie heftig sie
sich wehren wird, denn sie wirkt kräftig, jung und athletisch,
nicht wie Freddie, der alte Knacker in seinem Bett, nicht wie das
Mädchen in der Gasse mit Riley. Nein, die hier wird kämpfen.
Er packt das Messer fester, schluckt mühsam.
Nachdem er tief durchgeatmet hat, entspannt er sich
wie immer sofort.
Sie ist unerwartet früh nach Hause gekommen. Er
wird bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, bis sie im Bett
liegt.
Er schließt die Augen und hält den Atem an.
Als er sie wieder öffnet, starrt Evelyn Pendry
direkt auf den Schrank.
Harland Bentley verschränkt die Hände. »Sie hat
also behauptet, sie will Informationen für eine
Hintergrundstory.«
»Damit hat sie versucht, mich zu ködern«, erkläre
ich. »Angeblich wollte sie einen Artikel über den Public Trust,
Senator Almundo und mich schreiben. Aber dann fing sie an, mir
Fragen über meine Vergangenheit zu stellen. Und irgendwann
wollte sie dann wissen, ob ich in Kontakt mit Nat und Ihrer Nichte
Gwendolyn stehe.«
»Gwendolyn. Ja, Gwendolyn.« Offensichtlich hat
Evelyn sich auch bei Harland nach den beiden Frauen erkundigt. Er
neigt den Kopf. »Ich hab schon seit Jahren nichts mehr von
Gwendolyn gehört. Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn es so
bleibt. Ein bösartiges Geschöpf.«
»Sie beide kamen nicht gut miteinander aus«,
schlussfolgere ich messerscharf.
Harland wirft mir einen finsteren Blick zu,
befeuchtet die Lippen und sagt dann gelassen: »Sie war Cassies
einzige Cousine. Ihre nächste Verwandte. Und sie …« Kurz verzerrt
sich sein Gesicht, ein Aufflackern von Wut, bevor sich seine Züge
wieder verhärten. »Sie war nicht mal bei Cassies Beerdigung.
Offensichtlich hielt dieses Mädchen es nicht für nötig, ihr wildes
Treiben rund um den Globus auch nur für einen Tag zu unterbrechen,
um Cassandra die letzte Ehre zu erweisen. Das werde ich ihr nie
verzeihen.«
Harland hatte Natalia Lake geheiratet, als sie
neunzehn war und gerade – rein zufällig, da bin ich sicher – eine
Milliarde Dollar von ihrem Vater Conrad Lake geerbt hatte. Die
beiden ließen sich nach knapp zwanzig Ehejahren wieder scheiden,
kurz nach der Ermordung ihre Tochter Cassie. Harland nahm die
zwanzig Millionen und ging seiner eigenen Wege, investierte erst in
Hotels – Bentley Suites – und baute dann eine Reihe weiterer Firmen
auf, die alle seinen Namen trugen, darunter Bentley Manufacturing,
Bentley Bearings, Bentley International und Bentley
Financial.
Es kursierte das Gerücht, Harlands Vorliebe für
junge Frauen habe sich nicht erst nach der Scheidung entwickelt,
sondern schon viel früher. Die Beziehung der Ehepartner war längst
erkaltet, sie verband nur noch eines – ihre Tochter. Kaum war
Cassie tot, so heißt es, zögerten sie keinen Moment und kehrten
einander auf Nimmerwiedersehen den Rücken. Anstatt zu prozessieren
– es gab wohl einen Ehevertrag, auch wenn mir dessen Details nicht
bekannt waren – nahm Natalia einen Teil ihres Vermögens und warf es
Harland als Abschiedsgeschenk hinterher. Ein Zyniker könnte
behaupten, in den letzten fünfzehn Jahren sei es Harlands größter
Ehrgeiz gewesen, seine Ex-Frau an Reichtum noch zu überflügeln, und
ich wage sogar die Vermutung, dass er erfolgreich damit war.
Jedenfalls hat meine Firma dabei entsprechend mitkassiert.
»Wo steckt Gwendolyn im Augenblick?«, will ich
wissen.
Er breitet fragend die Hände aus. »Angeblich hat
sie sich oben im Norden bei Lake Coursey ein Grundstück gekauft.
Außerdem besitzt sie wohl immer noch ihr Haus in Frankreich. Aber
Genaueres weiß ich nicht. Und es ist mir auch egal.« Er fixiert
mich mit durchdringendem Blick. »Hat Ihnen diese Reporterin
verraten, weshalb sie das alles wissen will?«
Ich schüttle den Kopf. »Dazu ist es nie gekommen.
Ich hab sie mir vom Hals gehalten.«
Der Kellner bringt die Getränke und fragt, ob er
uns die Spezialität des Tages empfehlen darf. Harland verneint, ich
ebenfalls. Wie immer wird er irgendwas bestellen, das im Wasser
lebt. Normalerweise tue ich das auch, aber heute steht mir der Sinn
mehr nach etwas, das auf dem Land grast.
»Sie hatten neulich dieses Karioka, Henry«,
sagt er zum Kellner. »Mit Rohrzucker.«
»Ja, Sir, Mr. Bentley.«
»Das wäre doch was für den Anfang. Danke. Und sagen
Sie bitte Homaro, er soll mal kurz vorbeischauen, wenn er Zeit
hat.«
Ich bin eigentlich nicht hier, um dieses Zeugs zu
essen, dieses Karioka. Ich weiß nicht mal, was
Karioka ist, aber ich bin sicher, dass es nicht auf der
Speisekarte zu finden ist. Jemand wie Harland ordert einfach,
worauf er Lust hat, und weiß, dass sie es für ihn machen werden,
einfach weil er danach fragt. Ebenso wie er weiß, dass sie ihm ihre
Bemühungen entsprechend in Rechnung stellen werden.
»Also.« Harland faltet die Hände und wendet sich
wieder mir zu. »Diese Reporterin hat mich angerufen, und ich habe
den Fehler begangen, mit ihr zu sprechen. Sie war ziemlich
aufdringlich, fast aggressiv. Ich habe in dieser Hinsicht ein
ziemlich dickes Fell, Paul. Jemand in meiner Position ist permanent
Zielscheibe der Medien.«
»Das stimmt.«
»Aber Cassandra geht die Öffentlichkeit nicht das
Geringste an.«
»Richtig.« Das war meines Wissens nach auch der
Grund dafür, warum er damals Cassies Mord nicht vor Gericht
verhandeln lassen wollte. Burgos’ Schuldunfähigkeits-Antrag
basierte auf dessen Überzeugung, er handle in Gottes Auftrag und
bestrafe die Sünder. Daher war es während des Prozesses
unumgänglich, den wenig mustergültigen Lebenswandel seiner Opfer
öffentlich auszubreiten.
»Und was wollte Evelyn von Ihnen wissen,
Harland?«
Er schiebt sich einen Fingernagel zwischen die
Zähne und wirkt einen Moment in Gedanken versunken. »Ich will dem
Ganzen einen Riegel vorschieben«, sagt er. »Darüber möchte ich mit
Ihnen reden.«
Typisch Harland, nie beantwortet er eine Frage. Ich
weise ihn auf einen simplen Fakt hin. »Sie ist Reporterin.« Seine
Reaktion zeigt mir, dass er die Pressefreiheit für kein sonderlich
hochrangiges Gut hält. »Was haben Sie im Auge – eine Klage, um sie
einzuschüchtern?«
»Oder ein Gespräch mit Lyman.«
Lyman Kruger ist Herausgeber der Watch. Ein
zweischneidiges Schwert. Lässt man den Herausgeber einer Zeitung
wissen, dass man einen diffamierenden Artikel befürchtet, kann das
durchaus dazu führen, dass er den Reporter dazu bringt, entweder
anständig zu recherchieren oder die Sache sein zu lassen.
Andererseits kann es aber auch nach hinten losgehen und die Neugier
der Zeitung erst so richtig wecken.
Ich teile Harland meine Bedenken mit. »Es könnte
die ganze Geschichte noch schlimmer machen«, sage ich.
Harland wischt meinen Einwand beiseite. Männer in
seiner Position mögen es nicht, wenn man ihnen die Grenzen ihrer
Handlungsfreiheit aufzeigt. »Ich will, dass das aufhört, Paul.
Homaro!«, ruft er einem ganz in Weiß gekleideten Mann zu,
vermutlich der Chefkoch, der sich soeben mit der Vorspeise nähert –
ein paar köstlich duftenden, frittierten Fleischbällchen. Sie
tauschen Nettigkeiten auf Japanisch aus, dann lässt uns der Koch
wieder allein.
»Ich will, dass es aufhört«, wiederholt er, während
er sich mit der Vorspeise bedient, und die kleine Gabel landet
etwas zu vehement im nächsten Fleischbällchen.
Sofort nachdem Evelyn Pendrys Schultern heftig zu
zucken begonnen haben, stürmt Leo aus dem Schrank. Kein guter
Moment, nicht der richtige Zeitpunkt -
Du kannst mich sehen.
- aber er hat keine andere Wahl, und das
Überraschungsmoment ist immer noch auf seiner Seite. Er stürzt auf
sie zu, aber sie bemerkt ihn aus dem Augenwinkel und flüchtet ins
Wohnzimmer. Er kommt von unten und packt sie am Fußgelenk. Sie
knallt auf den Teppich.
Stopf. Ihr. Das. Maul.
Leo verdreht ihr das Gelenk mit einem heftigen Ruck
und hört es krachen. Ihr Ausdruck wechselt von Angst zu Schmerz,
ihr Schrei ist nur ein Reflex, dient nicht dazu, jemanden zu
alarmieren.
Er wirft sich auf sie, presst das Messer gegen ihr
Gesicht. Sie erstarrt, atmet schwer, gibt aber keinen Mucks von
sich. Sie rechnet sich ihre Chancen aus, überlegt, welche
Möglichkeiten ihr noch bleiben, sie weiß, das Messer ist nahe
genug, alles auf einen Schlag zu beenden. Wenn sie schreit – wenn
sie versucht, Hilfe zu rufen -, ist es vorbei.
Er packt ihr seidiges blondes Haar, atmet kurz
dessen Duft ein, dann reißt er daran. Sie versteht. Er dreht sie
auf den Rücken, Gesicht nach oben. Er hockt sich mit den Knien auf
ihre Arme und drückt das Messer gegen ihre Kehle.
Sie riecht nach Erdbeeren.