32. Kapitel
Behalte den Rückspiegel im Auge: Eine Frau führt ihren Hund spazieren, eine andere Frau joggt vorbei, es ist halb sieben, und die Sonne verschwindet gerade hinter den Häusern. Niemand beachtet Leo, wie üblich, aber das ist okay so, es macht ihn nur noch besser bei dem, was er tut.
Okay, die Straße ist leer, die Frau mit dem Hund biegt um die Ecke, keine Leute mehr, ein guter Moment. Ein letzter Blick in den Rückspiegel, dann raus aus dem Wagen, vergiss die gezerrte Sehne, kontrollier die Straße und arbeite noch mal an deinem Sprüchlein. Evelyn Pendry. Polizei. Evelyn Pendry. Polizei.
Nicht optimal, das ist nicht der perfekte Weg, aber er hat keine andere Wahl.
Er riecht den Currygeruch vom Inder die Straße runter. Er schluckt, blickt in beide Richtungen, humpelt quer über die Straße. Der kurze Gang scheint die kaputte Sehne etwas zu lockern. Er erreicht den Ziegelbau und findet Mitchum auf dem Klingelschild. Er drückt den Knopf, ein hässliches Brummen.
Ich bin cleverer als er, er wird es schlucken, ganz bestimmt.
Polizei. Evenlyn Pendry. Polizei. Evelyn Pendry.
Eine Sekunde verstreicht, dann plärrt es durch die Gegensprechanlage: »Hallo?«
Evelyn Pendry. Polizei. Evelyn Pendry. Polizei, Polizei, Polizei.
Alles, was er herausbringt, ist Polizei.
Eine Pause. Wieder Plärren. »Um was geht’s?«
»Evelyn Pendry.« Er öffnet und schließt die Hände, rollt den Kopf.
Wieder kracht der Lautsprecher. »Was ist mit Evelyn?«
»Wir müssen reden.«
Sehr gut. Perfekt. Wir müssen reden.
»Okay, in Ordnung, im dritten Stock.«
»Lassen Sie mich …«
»Das Schloss ist kaputt. Einfach fest drücken.«
Leo schnauft. Er betrachtet sich die Tür genauer, sie steht einen Spalt offen.
Er beißt sich auf die Lippen. Er hätte einfach reinspazieren können. Er hätte heimlich hineinschlüpfen können.
Egal jetzt. Nimm das erste Treppenhaus, kurzer Zwischenstopp auf dem Treppenabsatz, das Sakko richten, die Brieftasche mit der gefälschten Dienstmarke überprüfen, die Brille zurechtrücken, tief Luft holen, du bist ein Cop, du bist ein Cop -
Ich bin ein Cop, Brandon.
Polizei, Mr. Mitchum. Wir müssen reden.
Wirst du mich wiedererkennen, Brandon?
 
Sie hatten ihn aufgeweckt. Das war nicht schwer. Er hatte nicht gut geschlafen. Ein Traum, in dem dunkles Wasser in seine Lungen drang, ihn erstickte.
Aber jetzt war er wach. Die Stimmen. Gwendolyn, Gwendolyn Lake, war wieder zu Hause, das zweite Mal, seit Leo nach Amerika gekommen war, um hier zu leben.
Sein Zimmer lag hinter dem Haupthaus. Er trat zu einem der Fenster und spähte hinaus. Er beobachtete sie dabei, wie sie laut Musik hörten, tranken und rauchten, Cassie und ihre Freundin Ellie, Gwendolyn und ein Junge. Das Fenster stand offen, und ihr Lachen drang herein.
Oh, hey. Cassie winkte ihm zu. Haben wir dich geweckt?
Er schüttelte den Kopf und lächelte.
Das ist mein Freund Brandon. Sie zeigte auf den Jungen. Leo winkte und wandte sich schnell ab.
Aber er hörte sie. Ellies Stimme, er konnte sie inzwischen genau unterscheiden.
Das war Leo, wir beide gehen miteinander, sagte sie. Alle lachten. Sogar Cassie.
Er ließ sich wieder aufs Bett fallen. Aber er konnte nicht schlafen. Er lag still da und lauschte.
 
Nein, Brandon, du wirst dich nicht an mich erinnern. Niemand erinnert sich an mich. Beug die Hüften, um die Sehne zu lockern, dann weiter, bis zum Treppenabsatz im dritten Stock.
Die Tür rechts klafft einen Spalt weit auf. Ein Gesicht lugt hervor.
»Um was geht’s denn, Officer?«
Officer. Gut.
»Ist Evelyn was zugestoßen?«
Tot. Ein Wort, das er gut beherrscht.
Streck ihm die Brieftasche hin, lenk seine Aufmerksamkeit auf die Brieftasche …
Mitchum wirft einen kurzen Blick auf die Dienstmarke und dann einen längeren auf Leo.
Erinnerst du dich an mich, Brandon?
Ich jedenfalls erinnere mich an dich.
Mitchum öffnet die Tür, blockiert aber den Durchgang. »Was ist passiert?«
Jetzt kann er nicht mehr zurück. Er weiß, so darf man einen Job nicht erledigen, aber hier ist er nun mal, eine zweite Chance gibt es nicht.
Ermordet. Noch so ein Wort, das ihm leicht über die Lippen geht.
Mitchum mustert Leo gründlich, dann späht er erneut auf die Brieftasche, die inzwischen wieder geschlossen ist. »Wie, sagten Sie gleich, war Ihr Name?«
Ich hab ihn dir nicht gesagt, Brandon.
Leo reicht ihm die Brieftasche, es ist ein Ablenkungsmanöver, so wie bei der Frau auf dem Parkplatz, Brandon, und während du die Brieftasche öffnest und die Marke betrachtest, zieh ich das Rasiermesser, klappe es auf, trete dir auf den Fuß, damit du nicht weg kannst, dann hoch mit der Klinge unters Kinn, und wenn du nur einen Laut von dir gibst, nur einen Laut, Brandon …
Mitchums Augen sind starr vor Angst. Er hat es kapiert. Pack seine Haare mit der freien Hand, um ihn dirigieren zu können, dräng ihn rückwärts, ein unbeholfener Tanz, bis du drin bist, schließ die Tür, werf sie mit dem Fuß hinter dir zu, dieser Geruch, Marihuana, ja, genau wie in Lefortovo, reingeschmuggelt, sollte helfen, die Zeit zu vertreiben, aber alles schien nur noch langsamer abzulaufen, langsam, ganz langsam, wie die letzte Stunde deines Lebens, Brandon, ganz langsam.
 
Wieder erinnere ich mich an Stolettis Bemerkung, sie überrasche Zeugen gerne unangemeldet, unvorbereitet. Da die Haustür unten offen steht, verzichte ich darauf, zu klingeln und mein Kommen anzukündigen. Als ich den letzten Treppenabsatz erreiche, dringen Stimmen aus Brandon Mitchums Apartment. Ich klopfe an die Tür, höre kurz ein unterdrücktes Flüstern, dann Stille.
Mein Atem stockt. Meine Brust beginnt zu brennen.
»Brandon Mitchum?«, rufe ich laut. Rasch trete ich neben die Tür und klopfe erneut. Wieder bewegt sich drinnen etwas. Ein lautes Krachen, dann poltern Schritte über den Holzboden.
Ich hole tief Luft und gebe meiner Stimme einen harten Klang, damit die aufsteigende Angst darin nicht zu hören ist.
»Polizei!«, brülle ich.
Energisch drehe ich am Griff. Die Tür ist unverschlossen. Ich spähe in das Loft mit seinen vier Meter hohen Wänden, bemerke eine Couch und ein großes Fenster zur Straße hin. Ein Mann liegt auf dem Teppich in der Nähe der Couch, Blut spritzt aus seinem Gesicht.
Jemand rennt zum Hinterausgang, mit flatterndem Mantel. Ohne lange zu überlegen, jage ich ihm hinterher. Der Mann ist kleiner als ich, etwas kräftiger gebaut, aber er kann sich nicht schnell bewegen, schleift ein Bein nach, und Adrenalin pumpt durch meine Adern, als mir klar wird, dass mich nur noch ein, zwei Sekunden von ihm trennen.
Während er versucht, die Hintertür aufzureißen, werfe ich mich mit einem Klammergriff auf ihn und presse seine Arme an die Seiten, in der Hoffnung, ihn bewegungsunfähig zu machen. Er wirft sich nach rechts und versucht mich abzuschütteln. Ich umfasse ihn mit aller Kraft, trotzdem schafft er es, den rechten Arm hochzureißen und mir den Ellbogen ins Gesicht zu rammen, ein Schlag mitten auf die Stirn, der mich beinahe umhaut. Sternchen tanzen vor meinen Augen, trotzdem schlingt sich mein linker Arm um seinen Hals. Er versucht es erneut mit dem rechten Ellbogen, aber jetzt bin ich schon zu weit links. Mein Schlag trifft ihn von unten am Schädel. Ich weiche ein Stück zurück, und er wirbelt blitzschnell herum, steht mir jetzt frontal gegenüber, schließt seine Hände um meine Kehle und stößt mich zurück.
Plötzlich muss ich an Shelly denken. An das erste Mal, als ich sie im Gericht sah, als Anwältin der Gegenpartei: ihre kämpferische Einstellung, ihre Überzeugungskraft. Ich war schon in sie verliebt, bevor ich sie überhaupt näher kennenlernte.
Mein Kopf donnert gegen die Wand. Ich sacke zu Boden. Mit verschwommenem Blick schiele ich zu dem Mann hoch, es ist derselbe Mann wie auf diesem Foto, hinter Harland Bentley und den Reportern. Seine Augen wirken leblos, tot, aber dann legt er den Kopf schief und blinzelt.
»Du«, sagt er.
Instinktiv nehme ich eine Verteidigungshaltung ein, aber er hinkt bereits zur Tür und die Feuertreppe hinunter. Ich kämpfe darum, bei Bewusstsein zu bleiben, konzentriere mich auf den Gedanken an das Telefon und suche danach vom Küchenboden aus, während ich die Schritte des Mannes die Metallstufen hinuntertrampeln höre. Aus dem Nebenraum dringen die Schreie von Brandon Mitchum.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich auf den Beinen halten kann, und probiere es erst gar nicht mit Aufstehen. Krieche einfach über den Küchenboden, taste mit der Hand die Küchentheke ab, verliere dabei schon fast die Balance. Ein Stift, ein Block und das Telefon stürzen zu Boden. Die Rückseite des Telefons platzt ab, der Akku ist zu sehen, es scheint aber noch intakt. Ich reiße es an mich und lasse mich dabei rücklings zu Boden fallen. Ich drücke die drei Ziffern, ringe um die wenigen Sekunden, die ich dafür noch brauche. Die Worte quellen hervor, in ungeordneter Reihenfolge – Eindringling, Angreifer, jemand ist verletzt, Rettungswagen, Polizei -, dann wird alles schwarz.
 
Leo biegt in die Gasse ein und bleibt stehen, die Hände um sein Knie geklammert. Dann dreht er um und humpelt so schnell wie möglich zurück zu Mitchums Haus. Sie könnten hier überall sein, aber er hat keine Wahl.
Verräter. Verfluchter Verräter.
Er bleibt dicht an der Hauswand, damit man ihn von Brandons Wohnung aus nicht sehen kann. Aber nein, sie haben ihn ja schon gesehen, sie haben ihn gesehen.
Ich versteh nicht. Ich versteh das nicht.
Er lässt den Wagen an und fährt los, hält sich genau an das Tempolimit.
Hände. Er weiß es. Abdrücke. Keine Zeit, sie abzuwischen. Er hat seine Fingerabdrücke hinterlassen. An der Tür. Jetzt wissen sie es. Wissen, dass ich es bin.
Na gut, Paul Riley, du hast dich für die andere Seite entschieden.
Aber ich weiß, wie ich dich treffen kann.
 
»Brandon«, sage ich und bemühe mich verzweifelt, mir die Dunkelheit aus den Augen zu reiben. Schwer hieve ich mich hoch und stolpere in Richtung der Schreie, die aus dem Hauptraum der Wohnung kommen. Er liegt dort zusammengekrümmt wie ein Fötus, Blut quillt durch die Finger, die sein Gesicht bedecken.
»Wo hat er Sie erwischt?«, frage ich.
»Die Wange«, stöhnt er mit erstickter Stimme. »Helfen Sie mir!«
»Der Rettungswagen ist unterwegs. Halten Sie durch, Brandon, Sie schaffen das.« Ich wanke zurück in die Küche und finde im Waschbecken ein feuchtes Handtuch. Ich schleppe mich zurück zu Brandon und presse es auf sein Gesicht. Er versucht sich aufzusetzen, das Handtuch gegen die Wunde gepresst. Überall ist Blut, auf seinem Hemd und dem Teppich. Ich hocke mich neben ihn, inspiziere seine Wunden. Sieht so aus, als wäre es nur die Wange. Keine lebensgefährliche Verletzung, aber durch das Gesicht verlaufen eine Menge Adern und er verliert höllisch viel Blut. »Drücken Sie weiter fest drauf.«
»O mein Gott«, murmelt Brandon und packt mich mit seiner freien Hand am Arm. »O mein Gott, danke, ich danke Ihnen.«
»Kennen Sie ihn?« Ich setze mich auf die Couch neben ihn.
»Ein … Cop«, bringt er keuchend hervor, unfähig, seinen Atem zu kontrollieren.
Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Er ist weg, Brandon, okay? Sie sind in Sicherheit. Der Kerl war ein Cop? Hat er das behauptet?«
Brandon nickt, sein ganzer Körper zittert, er drückt jetzt beide Hände auf das Handtuch in seinem Gesicht. Der Typ muss sich als Cop ausgegeben haben. Ich spähe zurück zur Tür, dann schaue ich mich im Apartment um.
»Er trug keine Handschuhe«, sage ich.
»Er wusste, er wusste Bescheid über den Va... den...«
Draußen donnern Schritte das Treppenhaus hoch.
»Über was wusste er Bescheid, Brandon?«, frage ich, mein Gesicht dicht bei seinem. Er wird wohl nicht sterben, aber vermutlich ist das meine letzte Chance, allein mit ihm zu sprechen. »Brandon, das ist wichtig. Er wusste etwas über …«
»Den Vater«, sagt er, und im gleichen Moment stürmen zwei Polizeibeamte durch die Tür.
In Gottes Namen
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