Epilog
Es kam ihr vor, als wären seit dem Tag, als sie an einem Novembermorgen vor dem Roundhouse stand und nicht gewusst hatte, wie ihre Zukunft aussah, erst ein paar Tage verstrichen. Tatsächlich waren fünf Monate vergangen.
Sie dachte an die entsetzliche Nacht auf dem Pier 82.
In den Tagen darauf hatte Sophie nicht schlafen können. Zwei Nächte lang saß Jessica bei ihrer Tochter und hielt sie eng umschlungen. In der dritten Nacht war Sophie so erschöpft, dass sie endlich ein paar Stunden schlief. Dann wurde es von Nacht zu Nacht besser. Jedenfalls nach außen hin.
Jessica erinnerte sich an die kleine Miranda Stovicek, die zweijährige Tochter der Frau, die Nicole Solomons Leiche am Bahnhof in Shawmont gefunden hatte. Sie erinnerte sich, dass sie sich damals gefragt hatte, ob sich solch entsetzliche Dinge kleinen Kindern ins Gedächtnis brannten. Jessica war ganz sicher, dass Sophie sich bis ans Ende ihres Lebens daran erinnern würde, vom Bug der SS Clermont-Ferrand ins Wasser gefallen zu sein.
Sophie war ein versöhnlicherer Mensch, als Jessica es jemals sein würde. Und weil der Mann und die Frau, die sich Anabelle und Mr. Marseille nannten, noch immer nicht gefunden worden waren, sagte Sophie eines Tages zu Jessica, sie habe den beiden vergeben und wünsche ihnen alles Gute.
Weil Sophie eine Balzano war, fügte sie hinzu: »Jedenfalls, solange sie den Rest ihres Lebens im Knast verbringen.«
Nun hob Jessica den Blick zu dem hohen Gebäude am Penn Square und zum Schild über dem Eingang:
BEZIRKSSTAATSANWALTSCHAFT
Am nächsten Montagmorgen würde sie dieses Gebäude betreten und sich neuen Herausforderungen stellen. Sie wusste, dass man sie dank ihrer Erfahrungen auf den Straßen dieser Stadt und den vielen Jahren in der Mordkommission sehr schnell einer Abteilung zuteilen würde, in der die besten Staatsanwälte die schwierigsten Fälle bearbeiteten. Sie hoffte nur, dass sie dabei nicht zu vielen Leuten auf die Füße trat.
Hatten sie ihre Kredite abgezahlt? Nein, daran war bislang nicht einmal im Traum zu denken.
Aber das würden sie schon schaffen. Sie würden einen Weg finden. Dank der hervorragenden Arbeit, die der kleine Carlos Balzano leistete, indem er den Autoschwamm für seinen Vater festhielt, besaß er bereits Ersparnisse im unteren zweistelligen Bereich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder flüssig waren.
Als Jessica im Schatten des imposanten Gebäudes stand, dachte sie an ihren verstorbenen Bruder Michael, dem sie sich nach all den Jahren noch immer eng verbunden fühlte. Sie dachte an ihre verstorbene Mutter, die beim Kochen stets gesungen hatte. Jessica würde diese Lieder niemals vergessen. Sie dachte an ihren Vater, seinen guten Ruf bei der Polizei und in der Stadt.
Vor allem dachte sie an Kevin Byrne, der für immer ihr Partner bleiben würde. Lief alles nach Plan, würde sie bald wieder mit ihm zusammenarbeiten, beide als Hüter des Gesetzes, aber in unterschiedlichen Funktionen.
Und dann Gnade Gott den Verbrechern in der Stadt der brüderlichen Liebe.