74
Als Byrne die Augen öffnete, hatte er Angst vor dem, was er sah.
Er war allein. In dem Raum herrschte Stille, und er war froh darüber. Er schaute auf die Kerzen, die fast heruntergebrannt waren.
Wie viel Zeit war vergangen?
Er wusste es nicht.
Die Puppen bewegten sich nicht mehr.
Plötzlich saß der junge Mann neben ihm.
»Wie fühlen Sie sich?«
Erschöpft, dachte Byrne. Und wie gerädert vom Alprazolam. Aber besser als vorher.
»Gut.«
»Waren Sie an einem Ort des Glücks? Oder an einem der Angst und Reue?«
Byrne erwiderte nichts. Die Rauschpilze hatten eine Tür in seinem Innern geöffnet, aber ihm fehlte der Mut, hindurchzugehen.
Marseille stand auf. »Ich glaube, wir sollten die Sache jetzt in Angriff nehmen. Es sei denn, Sie haben sich anders entschlossen.«
Byrne hatte keine Wahl. Wenn er sich weigerte oder sich verriet, sodass ein Großaufgebot der Polizei anrückte, könnte es unten ein Blutbad geben. Er musste sich konzentrieren.
»Okay«, sagte er.
»Wie fangen wir an?«
»Zuerst rufe ich Paul DiCarlo an.«
»Wer ist das?«
»Ein stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Er muss Anabelles Freilassung unterschreiben.«
Mr. Marseille nickte. »Und der nächste Schritt?«
»Paul ruft im Sheriffbüro des Countys an.«
»Warum dort?«
»Die Zellen im Roundhouse fallen in den Zuständigkeitsbereich des Sheriffs. Sobald Mr. DiCarlo mit einem Stellvertreter des Sheriffs gesprochen hat, wird Anabelle freigelassen.«
Marseille dachte darüber nach. »Was bedeutet das? Wo genau lässt man sie frei?«
»Im Roundhouse. Dann kann sie gehen, wohin sie will.«
»Das Roundhouse ist auf der anderen Seite der Stadt.«
Byrne nickte. »Ja.«
»Leider ist Anabelle nicht sehr weltgewandt. In solchen Dingen war sie immer von mir abhängig.«
Das ist nicht mein Problem, hätte Byrne am liebsten erwidert. Stattdessen schwieg er.
»Außerdem hat sie bestimmt nicht genug Geld für ein Taxi dabei«, sagte Marseille. »Sie hat gar kein Geld bei sich.«
»Ich kann dafür sorgen, dass sie dorthin gebracht wird, wohin Sie möchten.«
Marseille nickte. »Nett von Ihnen.«
Er zog sich einen Stuhl heran und nahm gegenüber von Byrne Platz. Als der Wind übers Dach fegte, klapperten die lockeren Scheiben der Mansardenfenster.
»Dieser Mr. DiCarlo, kennt er Ihre Stimme?«
Die Antwort lautete natürlich ja. Byrne hatte sehr oft mit dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt gesprochen und war von ihm Dutzende Male als Zeuge vor Gericht vernommen worden.
Byrne dachte über die Antwort nach. Wenn er nein sagte, und Marseille führte das Gespräch und gab sich als Detective Kevin Byrne aus, würde DiCarlo sofort bemerken, dass etwas nicht stimmte. Dieses Risiko konnte Byrne nicht eingehen. Er hatte keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen.
»Ja«, sagte er. »DiCarlo kennt meine Stimme.«
»Ist er um diese Zeit noch in seinem Büro?«
»Das weiß ich nicht, aber ich habe seine Handynummer.«
»Wird er sich darüber wundern, dass Sie ihn um diese Zeit auf dem Handy anrufen?«
»Nein«, antwortete Byrne. »Ich habe ihn schon zu jeder Tageszeit angerufen, auch oft auf seinem Handy. Wir arbeiten gut zusammen. Wenn wir uns an das übliche Prozedere halten, wird er tun, worum ich ihn bitte.«
»Sind Sie bereit?«
»Ja.«
Das Telefon klingelte einmal, zweimal, ein drittes Mal. An die Möglichkeit, dass die Mailbox sich einschaltete, hatte Byrne noch gar nicht gedacht.
Nach dem vierten Klingeln meldete sich Paul.
»DiCarlo.«
»Paul, hier Kevin Byrne.«
»Hey, Detective. Wie läuft die Party?«
Byrne hatte ganz vergessen, dass auch eine Einladung an die Bezirksstaatsanwaltschaft gegangen war. Paul hatte sich allerdings höflich entschuldigt und gesagt, es werde sich bestimmt mal eine andere Gelegenheit zum gemeinsamen Feiern ergeben.
»Die Party hat erst vor zwei Stunden begonnen, und die Gäste tanzen schon auf den Tischen.«
DiCarlo lachte. »Tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, aber ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Das organisierte Verbrechen macht uns das Leben schwer. Außerdem trauern wir um Marvin Skolniks Tochter.«
»Verstehe. Ich will Sie auch nicht lange aufhalten, Paul. Ich rufe wegen Cassandra White an.«
Als Byrne den Namen genannt hatte, kam ihm der Gedanke, dass es möglicherweise ein Fehler war, sie Cassandra White zu nennen und nicht Anabelle. Doch er hatte keine andere Wahl. Cassandra White war ihr offizieller Name. Paul DiCarlo hätte nicht gewusst, wer Anabelle ist.
»Was ist mit ihr?«, fragte DiCarlo.
»Ich möchte, dass sie freigelassen wird.«
Schweigen. Das war zu erwarten, aber dennoch nervenaufreibend. »Warum?«
»Ich glaube, wir haben nichts Schwerwiegendes gegen sie in der Hand. Und die sechs Stunden sind bereits um.«
Das Gesetz schrieb vor, dass ein Verdächtiger nach sechs Stunden entweder angeklagt oder freigelassen werden musste.
DiCarlo zögerte einen Moment, ehe er sagte:
»Ich rufe an.«
»Danke, Paul«, erwiderte Byrne. »Sie haben etwas gut bei mir.«
»Hab’s mir notiert.«
»Machen Sie es gut.«
»Sie auch.«
Marseille beendete das Gespräch. »Danke, Detective.«
Byrne erwiderte nichts.
»Was jetzt?«
»In ein paar Minuten rufe ich die Polizistin am Empfang im Roundhouse an. Wenn Anabelle das Gebäude betritt, erwartet die Kollegin sie bereits. Ich sage ihr, einer der Cops soll Anabelle fahren, wohin Sie möchten.«
Ehe Marseille etwas erwidern konnte, klingelte Byrnes Handy. Die beiden Männer schauten beide gleichzeitig auf den Namen des Anrufers.
Es war Jessica.
»Wenn ich nicht rangehe, weiß sie, dass etwas nicht stimmt«, sagte Byrne.
»Vielleicht meint sie nur, Sie sind beschäftigt und können nicht ans Telefon.«
»Da kennen Sie meine Partnerin schlecht. Die gibt nicht auf.«
Mr. Marseille dachte darüber nach. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was auf dem Spiel steht.«
»Nein«, entgegnete Byrne. »Ich weiß es auch so.«
Mr. Marseille nahm das Gespräch an und schaltete den Lautsprecher ein.
»Hey, Partner«, sagte Byrne.
»Selber hey«, sagte Jessica. »Wo steckst du?«
»Frag mich nicht.«
»Zu spät.«
»Bist du … bei mir zu Hause?«, fragte Byrne und zuckte zusammen. Beinahe hätte er sie gefragt, ob sie unten im Haus sei.
»Ich sitze mit Sophie im Auto. Wir sind nur noch zwei Straßen entfernt. Vince versucht, später noch vorbeizukommen. Wo bist du?«
Byrne musste diese Frage beantworten. »Ich fahre gleich nach Hause. Im Moment bin ich noch bei den Kollegen von den Spezialermittlungen.«
»Warum?«
Es wurde immer komplizierter. Er hätte etwas anderes sagen sollen. Jessica konnte alles überprüfen, falls sie Verdacht schöpfte.
Byrne spürte, dass der junge Mann mit der Waffe ungeduldig wurde.
»Ich erkläre es dir später«, sagte er. »Ich glaube, wir haben einen Durchbruch.«
»Ich bin gleich bei dir«, erklärte Jessica. »Ich setze Sophie bei dir zu Hause ab und fahre sofort weiter.«
»Nein«, sagte Byrne ein wenig energischer als beabsichtigt. »Ich verlasse gerade das Gebäude. Das kann warten. Ich erklär’s dir später.«
Jessica schwieg.
»Maria kümmert sich um die Gäste, bis ich zurückkomme. Könntest du sie unterstützen?«
»Klar. Ich dachte nur …«
»Danke«, sagte Byrne. »Ich beeile mich.«
»Wann bist du ungefähr hier?«
»Nach Mitternacht«, sagte er.
»Nach Mitternacht? Dann bin ich bestimmt schon …«
»Ich sitze jetzt im Wagen.«
»Okay«, sagte Jessica. »Wenn du mich brauchst …«
Marseille legte auf.
»Ich möchte, dass Sie diese Polizistin am Empfang anrufen. Sagen Sie ihr, sie soll Sie auf dieser Nummer anrufen, sobald Anabelle in die Eingangshalle kommt.«
Byrne gab Mr. Marseille die Nummer von der Rezeption im Roundhouse. Marseille wählte die Nummer und schaltete den Lautsprecher ein. Als die Polizistin am Empfang sich meldete – eine erfahrene Kollegin namens Tina Willis –, gab Byrne ihr die Information.
Sie warteten.
Byrne wusste, wie langsam die Räder in einer solchen Behörde sich manchmal drehten. Er konnte Paul DiCarlo aber nicht anrufen und ihn bitten, die Sache zu beschleunigen. Dann wäre Paul, von Natur aus misstrauisch, noch misstrauischer geworden. Byrne war sicher, dass Jessica ihm seine Geschichte nicht glaubte.
Es dauerte fünf Minuten, bis das Telefon klingelte. Byrne wäre beinahe vom Stuhl aufgesprungen. Beide schauten auf das Display. Da stand: ANRUFER UNBEKANNT.
Mr. Marseille drückte auf das entsprechende Icon, um das Gespräch entgegenzunehmen, und schaltete den Lautsprecher ein.
»Hier Kevin«, sagte Byrne.
»Detective Byrne. Hier Sergeant Willis.«
»Hey, Tina. Danke für den Rückruf.«
»Kein Problem. Cassandra White steht vor mir.«
Es würde sich sonderbar anhören, aber Byrne musste sie trotzdem fragen. »Haben Sie den Lautsprecher eingeschaltet, Tina?«
Wie erwartet zögerte sie einen Moment, ehe sie antwortete: »Nein, Detective.«
»Okay, danke. Würden Sie ihr bitte den Hörer geben?«
Wenige Sekunden später sagte sie: »Mr. Marseille?«
Byrne hörte die Vorfreude in ihrer Stimme. Sie klang wie die eines Kindes.
»Ja.«
Sie hörten, dass die junge Frau zu weinen begann.
»Bitte nicht weinen, mon Cœur«, sagte Marseille.
»Okay. Es ist nur …«
»Was?«
»Wir waren noch nie so lange getrennt.«
»Ich gebe dir jetzt eine Adresse, zu der die Polizei dich bringen soll. Sie wissen, wo das ist.«
Die Adresse war nur eine Straße von Byrnes Haus entfernt.
Was hat dieser Mann vor?, fragte er sich.
»Au revoir«, sagte die junge Frau am Telefon.
»A bientôt.«
Mr. Marseille legte auf und zog seine Waffe. »Es ist nicht immer einfach, das Richtige zu tun.«
»Und Sie glauben, das alles ist richtig?«, fragte Byrne.
»Es ist bald vorbei, Detective.«