17
Im Finnigan’s Wake, dem legendären Irish Pub an der Ecke Dritte und Spring Garden, war ziemlich viel los.
Kevin Byrne wollte offenbar seine Ruhe haben. Er saß allein an der Theke und trank seinen ersten Tullamore Dew.
Die Cops wussten immer, wer von ihren Kollegen sich unterhalten wollte, wer das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden, und wer in Ruhe gelassen werden wollte.
Byrne hatte das Gefühl, heute zur zweiten Gruppe zu gehören. Die anderen schienen es zu bemerken, denn links und rechts von ihm waren jeweils zwei Hocker frei. Margaret, eine der besten Barkeeperinnen der Stadt, schaute immer wieder zu ihm hinüber und wartete darauf, dass er sein leeres Glas hob und einen zweiten Drink bestellte. Bisher schien ihm der doppelte Tullamore Dew zu genügen.
Byrne dachte an Jeffrey Malcolm und fragte sich, wie der Mann sich wohl in den letzten Sekunden seines Lebens gefühlt hatte, als er wusste, dass er sterben würde. Menschen, die süchtig nach Pornografie waren, vor allem nach Kinderpornos, waren exzessive Sammler. In ihrem Leben gab es nichts – weder Geld, noch Besitztümer, noch Familie oder Freunde –, was wichtiger war als ihre Sammlung. Sie schienen nie in der Lage zu sein, auch nur ein einziges Bild zu löschen. Es sah fast so aus, als hätte Malcolm am Ende sogar sein Leben dafür geopfert.
Hatte der Mann mit dem Mord an Nicole Solomon zu tun? Vielleicht würden sie es nie erfahren.
Malcolms Wagen war in die Werkstatt der Polizeibehörde gebracht worden und wurde nun auf Spuren untersucht.
Byrne dachte an Valerie Beckert und die psychischen Zwänge, die sie dazu getrieben hatten, den kleinen Thomas Rule zu entführen und zu ermorden.
Schließlich legte Byrne einen Zwanziger auf die Theke.
Dreißig Minuten später bog er wider alle Vernunft auf den Expressway ab.
Die Fahrt nach Muncy würde etwa vier Stunden dauern. Byrne fuhr Richtung Nordwesten durch Allentown, Hazelton und Berwick. Obwohl auf dieser Strecke nicht viel Verkehr herrschte, hielt Byrne sich an die Höchstgeschwindigkeit. Vielleicht, weil er sich seiner Sache nicht sicher war. Immer wieder starrte er auf die Ausfahrtschilder und überlegte, ob er abfahren und umkehren sollte.
Gegen Mitternacht bog er von der Route 54 ab, hielt an einer Raststätte und bestellte sich einen Kaffee.
Er setzte sich in eine Nische und schlug die Mappe mit den Unterlagen des Mordfalles Thomas Rule auf. Byrne hatte sich jede Seite, jedes Foto und jeden Bericht der Kriminaltechnik mehrmals angeschaut. Natürlich kam es vor, dass einem auch nach Jahren plötzlich etwas Neues einfiel, was zur Aufklärung beitragen konnte, wenn man sich mit einem alten Fall beschäftigte. Byrne glaubte aber nicht, dass dies im Fall Thomas Rule geschehen würde.
Die Ermittlungen im Mord an dem kleinen Jungen waren abgeschlossen. Byrne schaute sich die Unterlagen an, weil er herauszufinden hoffte, was mit Thaddeus Woodman und den anderen Kindern geschehen war.
Zuerst warf er einen Blick auf die Laborergebnisse. Er war so müde, dass er nur noch verschwommen sah. Mit brennenden Augen betrachtete er die Fotos des Opfers. Das erste Bild war im Fairmount Park aufgenommen worden, wo Valerie Beckert den ermordeten Jungen vergraben hatte. Sie hatte die Leiche in einen alten Duschvorhang eingerollt und diesen mit Paketband umwickelt. Das erste Foto, das die Kriminaltechniker aufgenommen hatten, zeigte die kleine Gestalt des Jungen, die man durch das transparente Plastik kaum erkennen konnte.
Auf dem zweiten am Tatort aufgenommenen Foto lag das Opfer rücklings auf dem ausgebreiteten Duschvorhang, die Arme neben dem Körper. Der kleine Junge trug eine dunkle Hose und einen hellen Pullover mit rundem Ausschnitt. Wären auf seinem Hals nicht die roten Würgemale gewesen, hätte man meinen können, er schliefe.
Byrne schlug die zweite Akte auf. Sie gehörte nicht zu den offiziellen Ermittlungsakten des Philadelphia Police Departments, sondern war Byrnes eigene Akte, in der er chronologisch sämtliche Fakten im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Thaddeus Woodman dokumentiert hatte.
Er betrachtete das Bild des lächelnden Thaddeus, das in einem Fotostudio aufgenommen worden war. Der dunkelhaarige Junge befand sich in dieser schwierigen Phase zwischen Milchgebiss und bleibenden Zähnen – eine Zeit, in der ein neuer Haarschnitt unangenehm war und nichts mit Eitelkeit zu tun hatte. Er hatte neugierige Augen und eine unbezähmbare Schmachtlocke.
Byrne versuchte sich den Jungen als Kind von zehn, zwölf Jahren vorzustellen, als Jugendlichen und als jungen Mann.
Wie groß wärst du geworden, Thaddeus?
Welchen Beruf hättest du ergriffen?
Für welche Sportart hättest du dich entschieden? Baseball? Football? Basketball? Hockey?
Hättest du geheiratet und Kinder gehabt?
Wärst du ein guter Mensch geworden?
Byrne wünschte sich oft, er wäre in der Lage, sich noch Hoffnungen zu machen, eines Tages Antworten auf diese Fragen zu bekommen. Aber er sah keine Hoffnung mehr. Nachdem er seit mehr als zwei Jahrzehnten die dunkelsten Triebe der menschlichen Seele aufgedeckt hatte, war ihm diese Fähigkeit für immer abhandengekommen.
Thaddeus Woodman war tot.
Und in zwei Wochen würde seine Mörderin ebenfalls tot sein.
Als Byrne zu seinem Wagen auf dem Parkplatz vor der Raststätte zurückkehrte, war er sicher, dass er zurück nach Philadelphia fahren würde. Was er vorhatte, war völlig unsinnig. Um drei Uhr heute Nachmittag würde er so erschöpft sein, dass er bei den Ermittlungen, die jetzt oberste Priorität genossen, keine große Hilfe mehr sein konnte. Aber sie mussten den sinnlosen, brutalen Mord an Nicole Solomon aufklären.
Byrne fuhr weiter, angetrieben von einer seltsamen Energie, die der Überzeugung entsprang, dass Valerie Beckert eine Massenmörderin war.
Um kurz nach zwei erreichte Byrne die Justizvollzugsanstalt Muncy. Barbara Wagner, die stellvertretende Leiterin, hatte heute Nacht frei. Vor allem aus diesem Grund hatte Byrne sich entschlossen, die fast zweihundert Meilen nach Muncy zu fahren. Barbara war eine ehemalige Kollegin, die er sehr schätzte. Er wollte auf keinen Fall, dass es negative Auswirkungen für sie hatte, sollte sein Plan nicht funktionieren.
Byrne kannte nicht alle Bestimmungen und Vorschriften des Strafvollzugsystems. Allerdings wusste er, dass zu diesem Zeitpunkt, kurz vor der Vollstreckung der Todesstrafe, nur wenige Personen berechtigt waren, Insassin Nr. 209871, Valerie Beckert, zu besuchen. Dazu gehörten ihr Anwalt, der Pfarrer und ihre Familie.
Sein Status als Detective des Philadelphia Police Departments würde hier kaum jemanden beeindrucken. Tatsächlich bestand zwischen der Polizei und den Bediensteten in den Gefängnissen oft Rivalität und Misstrauen. Dennoch wusste Byrne aus Erfahrung, dass es schwieriger war, ihn abzuweisen, wenn er persönlich vorsprach, als wenn er sich am Telefon meldete. Deshalb hatte er vorher nicht angerufen.
Er hätte es tun sollen. Denn wie sich herausstellte, hatte er die Fahrt umsonst gemacht.
Fast vier Stunden war Byrne auf den immer stärker verschneiten Straßen Pennsylvanias Richtung Muncy gefahren, erfuhr jedoch nach seiner Ankunft, dass Valerie Beckert bereits nach Rockview verlegt worden war, wo das Todesurteil vollstreckt werden sollte.
Byrne hatte mit der Gefängnisleiterin, einer freundlichen Frau namens Gretchen Allenby, persönlich gesprochen. Zum Trost bot sie ihm ein kleines Apartment an, wo er duschen und ein paar Stunden schlafen konnte, ehe er die Rückfahrt nach Philadelphia antrat. Beides hätte Byrne gutgetan, doch er lehnte ab.
Nun stand er auf dem fast leeren Besucherparkplatz des Gefängnisses und hoffte, dass die eisige Nachtluft seine Müdigkeit ein wenig vertrieb. Kurz darauf fuhr ein Auto auf den Parkplatz und hielt ein paar Plätze neben Byrnes Wagen. Es war eine große, viertürige, um die zehn Jahre alte Limousine, auf deren Lack Streusalz klebte. Ehe der Fahrer das Licht ausschaltete, konnte Byrne einen Blick auf das Nummernschild und das kleine Kruzifix in einer Ecke werfen.
Der Mann, der ausstieg, war Ende fünfzig, Anfang sechzig und ziemlich fit für sein Alter. Er trug einen dunkelblauen Mantel, einen dunkelgrauen Filzhut und einen Priesterkragen. In den Händen hielt er einen dicken Stapel Akten.
Byrne ging auf den Wagen des Priesters zu. »Guten Morgen, Herr Pfarrer.«
Der Mann erschrak und hob den Blick, musterte Byrne und fragte sich offenbar, ob er ihn kannte. Nein, er kannte ihn nicht.
»Guten Morgen. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Tut mir leid.«
»Kein Problem.« Der Geistliche zeigte auf das Gefängnis. »In dem Gebäude ist es noch unheimlicher.«
Obwohl Byrne den Pfarrer um mehr als einen halben Kopf überragte und der Parkplatz in Dunkelheit getaucht war, sah Byrne im Gesicht des Mannes keine Angst. Trotz des düsteren Lichts entdeckte er auf der rechten Wange ein paar kleine Narben, doch die Nase des Priesters war unversehrt. Offenbar hatte er mehr Kämpfe gewonnen als verloren. Byrne hätte sich gewünscht, dasselbe von sich behaupten zu können.
Er reichte dem Priester die Hand. »Kevin Byrne.«
Der Mann lächelte und rückte die Akten unter seinem Arm zurecht. »Hört sich nach einem Iren aus Philadelphia an.«
Byrne erwiderte das Lächeln. »Geboren und aufgewachsen.«
Der Priester streckte die Hand aus. »Tom Corey.«
»Angenehm.«
»Ich war früher Pfarrer in St. Anthony’s. Wird das Viertel da immer noch Devil’s Pocket genannt?«
»Nur von Oldies wie mir.«
Sie schwiegen ein paar Augenblicke, aber es war nicht unangenehm, denn beiden Männern waren solche Situationen vertraut. Byrne überlegte, wie er das Gespräch am besten beginnen sollte.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte er schließlich.
Tom Corey schloss den Kofferraum und legte die Akten darauf ab. »Ja, hab ich.«
Byrne, der immer noch nicht wusste, wo er beginnen sollte, fing einfach an. »Ich bin Detective bei der Mordkommission des Philadelphia Police Departments. Ich habe mich in einen Fall verbissen und komme einfach nicht weiter.«
Corey hörte ihm zu.
»Ich bin hergekommen, um mit einer Gefängnisinsassin zu sprechen, nur ist sie leider nicht mehr hier. Ich weiß ohnehin nicht genau, was ich gesagt hätte, wenn ich sie hätte sprechen können.«
Corey wartete auf weitere Informationen. Da Byrne schwieg, erkundigte er sich: »Darf ich fragen, wen Sie besuchen wollten?«
Es gab keinen Grund, es ihm nicht zu sagen. »Die Frau heißt Valerie Beckert.«
Auf dem Gesicht des Geistlichen zeigte sich keine Verwunderung. Obwohl es in der Bevölkerung anders wahrgenommen wurde, wurden Todesurteile selten vollstreckt, vor allem in Pennsylvania. Bei Frauen noch seltener als bei Männern. Es waren kaum Fälle bekannt. Für einen Gefängnisseelsorger bedeutete das zu einem solchen Zeitpunkt eine schwere Last. Es war eine Sache, einen Menschen in einem Krankenhaus oder einem Hospiz auf das Ende seines Lebens vorzubereiten. In einem so tristen, abschreckenden Umfeld musste es noch viel schwieriger sein. Byrne beneidete Corey nicht um diese Aufgabe.
»Ich habe die Frau damals verhaftet«, fügte Byrne hinzu.
Alles, was Valerie dem Priester anvertraut hatte, falls sie ihm überhaupt etwas erzählt hatte, fiel unter das Beichtgeheimnis. Aus verschiedenen Gründen – nicht zuletzt, weil er selbst im katholischen Glauben erzogen worden war –, stellte Byrne die Frage nicht.
»Sie wissen sicherlich«, sagte Corey, »dass Kontakte zur Außenwelt zu diesem Zeitpunkt nur in sehr begrenztem Maße erlaubt sind.«
»Ich weiß«, sagte Byrne. »Es ist nur …«
Corey wartete einen Augenblick, dann fragte er: »Eine Sache des Glaubens?«
Aus dieser Warte hatte Byrne die Sache noch gar nicht betrachtet, nahm aber an, dass es tatsächlich so war. »Ich glaub schon, ja.«
Corey nickte und schaute auf den Gefängniskomplex mit den hohen Steinmauern. »Letztendlich hat alles, was wir tun, etwas mit dem Glauben und mit Vertrauen zu tun, nicht wahr? Damit will ich sagen, dass ich diesem System vertrauen muss. Ich muss glauben, dass alle in dieser Sache ihren Job gut gemacht haben, und dass keine Fehler begangen wurden. Ich muss darauf vertrauen können, dass alle diese Frauen zu Recht im Gefängnis sitzen. Vor allem eine Frau in Valerie Beckerts Situation.«
Byrne verstand den Priester. Viele Menschen, denen er im Job begegnete, hatten gegen Gesetze verstoßen, und es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, ihnen das Leben leichter zu machen. Genau das Gegenteil war der Fall. Sein Job bestand darin, das Leben aller anderen ein wenig sicherer zu machen, indem er dafür sorgte, dass Verbrecher ins Gefängnis kamen.
Der Job eines Pfarrers in der Gefängnisseelsorge war etwas vollkommen anderes. Seine Aufgabe bestand darin, den Häftlingen zu helfen, einen Weg der Erlösung zu finden, egal, was für ein abscheuliches Verbrechen sie begangen hatten. Bis zu diesem Augenblick hatte Byrne noch nie darüber nachgedacht, was für eine schwierige Aufgabe das war.
»Wollen Sie mit mir über Ihre Sorgen sprechen?«, fragte Corey.
Byrne skizzierte kurz, was sie über die Fälle der anderen vermissten Kinder wussten.
»Aber Sie haben keine Beweise?«, fragte Corey.
»Nein.«
Der Pfarrer schaute wieder auf das Gefängnis. »Die Hebräer sagen, dass der Glaube die Substanz der Dinge ist, auf die wir hoffen … der Beweis für Dinge, die wir nicht sehen können.«
»Ich glaube, dass Valerie Beckert diese Verbrechen begangen hat, Herr Pfarrer. Aber wenn sie nicht gesteht, bevor sie stirbt, werden die Familien niemals Frieden finden. Ich finde, sie verdienen es zu wissen, egal wie schmerzhaft es ist. Denn die Last, es nicht zu wissen, ist noch schlimmer.«
»Und was ist mit Ihrer eigenen Last?«
»Bitte?«
»Die Last, die auf Ihren Schultern ruht, um diese Antworten zu finden. Wie lange wollen Sie die noch mit sich herumtragen?«
Darauf hatte Byrne keine Antwort.
Corey schloss seinen Wagen ab und drehte sich wieder zu Byrne um.
»Darf ich Sie etwas fragen, Detective?«
»Natürlich.«
»Haben Sie Frieden damit geschlossen, dass Sie getan haben, wozu Ihre Aufgabe Sie verpflichtet, als Sie Valerie Beckert verhaftet haben? Dass Sie Ihren Job ohne Hass und Vorurteile erledigt haben?«
Eine gute Frage. Byrne war sicher, dass er seinen Job vernünftig gemacht hatte. Vor und nach Beckert hatte es viele andere Fälle gegeben. Byrne hoffte, dass er am Ende sagen konnte: Du hast deine Sache so gut gemacht, wie du konntest.
»Das habe ich«, antwortete er.
»Gut. Mehr kann keiner von uns tun.«
Der Priester griff in seine Tasche, zog eine Visitenkarte heraus und reichte sie Byrne.
»Ich weiß, dass Philadelphia ziemlich weit von Muncy entfernt ist, aber Sie können mich jederzeit anrufen.« Er zeigte zum Himmel, der allmählich heller wurde. Byrne hatte es gar nicht bemerkt. »Sie können mich jederzeit erreichen.«
Byrne nahm die Karte entgegen. »Danke.«
»Gute Fahrt.«
Byrne schaute dem Priester nach, der zum Seiteneingang ging, sich an der Sicherheitsschleuse anmeldete und im Gebäude verschwand. Er fragte sich, welchen Menschen dieser Mann heute begegnete und ob es ihm gelang, auch nur eine einzige Seele zu retten.
Ist so etwas überhaupt möglich?
Als die verschleierte Sonne ein paar Minuten später hinter dunkelgrauen Wolken aufging, stieg Byrne in seinen Wagen und fuhr zurück nach Philadelphia.