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Jessica Balzano schaute auf die beiden Dokumente, die auf dem Esszimmertisch lagen. Sie sahen beide ähnlich aus – weißes, mit schwarzer Tinte bedrucktes Papier im DIN-A4-Format, keine Heftklammern, keine Knicke.

Als Jessica an diesem Tag ihre erste Tasse Kaffee trank, schaute sie durch das Küchenfenster auf die Berufstätigen, die am frühen Morgen zur U-Bahn eilten. Diese Tageszeit mit all ihren Versprechen und dem ersten Licht des neues Tages, das wie ein Panzer gegen alles Ungemach zu sein schien, das die Welt in den nächsten 24 Stunden bereithalten könnte, mochte Jessica am liebsten.

Nur heute nicht.

Wieder starrte sie auf die Dokumente und dachte darüber nach, welch weltbewegende Dinge durch so ein harmloses Stück Papier dokumentiert wurden: Geburtsurkunden, Sterbeurkunden, Heiratsurkunden, gute und schlechte Ergebnisse medizinischer Untersuchungen. Jessica hatte die beiden Dokumente aus dem Aktenschrank genommen, der in dem winzigen Büro gleich neben dem Wohnzimmer in ihrem Reihenhaus in South Philly stand. In dem Aktenschrank lagen sämtliche Unterlagen der wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben. Doch im Augenblick waren nur die beiden Dokumente, die vor Jessica lagen, für sie selbst, ihren Ehemann Vincent und ihre Kinder Sophie und Carlos von Bedeutung.

Die Mappe auf der rechten Tischseite stammte von Edward Jones, einem Maklerbüro, bei dem sie ihr bescheidenes Vermögen angelegt hatten. Ein paar kommunale Anleihen, ein Geldmarktkonto, das so gut wie keine Zinsen einbrachte, und ein paar Investmentfonds, die Dividenden abwarfen.

Bei dem Schriftstück auf der linken Seite handelte es sich um ein Antragsformular aus drei doppelseitig bedruckten Blättern. Jessica hatte es zigmal durchgelesen, bisher aber nicht den Mut gehabt, es auszufüllen. Oben auf der ersten Seite stand:

JURISTISCHES PRÜFUNGSAMT
DES STAATES PENNSYLVANIA

Jessica hatte an der Temple University Jura studiert und viel Zeit mit Studienkollegen verbracht, die größtenteils erheblich jünger waren als sie. Neben ihrem Job als Detective bei der Mordkommission zu studieren, war nicht einfach gewesen. Deshalb musste sie die angebotenen Seminare und Vorlesungen immer dann besuchen, wenn ihre Zeit es erlaubte – morgens, abends und an den Wochenenden. Auch ihr gesamter Urlaub ging für das Studium drauf. Dennoch machte sie ihren Abschluss an der Temple University in Rekordzeit. An dieser Uni hatte sie auch ihr Bachelorstudium in Strafrecht absolviert.

Nach dem Studium an der juristischen Fakultät hatte sie den schwersten Teil der Ausbildung hinter sich. Von Beginn an hatte Jessica angestrebt, später bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Philadelphia zu arbeiten. Diesen Wunsch hatte sie schon als Teenager gehabt, als sie manchmal dabei gewesen war, wenn Peter Giovanni, ihr Vater, als Zeuge vor Gericht ausgesagt hatte.

Jedes Jahr stellte die Bezirksstaatsanwaltschaft Absolventen eines Prüfungsjahrgangs aus dem ganzen Land als neue Assistenten ein. Bevorzugt wurden offenbar frisch gebackene Juristen aus dem Großraum Philadelphia. Das hatte verschiedene Gründe. Unter anderem waren sie mit dem Strafgesetzbuch von Pennsylvania vertraut. Außerdem kannten sie die Menschen hier, die Straßen und die Streitigkeiten der Bürger in der Stadt der brüderlichen Liebe.

Jessica, die ihr Studium als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte, wusste aus zuverlässiger Quelle, dass sie den Job bekam, wenn sie sich darum bewarb. Aber sie wusste auch, dass sie als neue Assistentin bei der Bezirksstaatsanwaltschaft nur ungefähr die Hälfte ihres derzeitigen Gehalts bekommen würde. Die Detectives der Mordkommission gehörten zu den bestbezahlten Ermittlern des PPD. Letztendlich sah Jessica ein, dass ihr Schuldenberg mit ihrem hohen Studiendarlehn, ihren Hypothekenzahlungen und den Krediten für zwei Autos einfach zu hoch war. Hinzu kamen das Schulgeld für die Privatschule, die Sophie und Carlos besuchten, sowie die Honorare der Kieferorthopäden und alle anderen Rechnungen, die ins Haus flatterten, wenn man mit einer Familie mit zwei kleinen Kindern in einer teuren Stadt wie Philadelphia wohnte.

Wäre sie Single gewesen oder verheiratet und kinderlos, hätte Jessica eine Zeit lang nur Nudelsuppe gegessen und Leitungswasser getrunken, aber in dieser Situation war sie nicht.

Nach vielen schlaflosen Nächten kam sie zu dem Schluss, dass sie es sich im Augenblick nicht leisten konnte, die Mordkommission zu verlassen. Die Frist, sich für die Anwaltsprüfung im Februar anzumelden, lief in zwei Monaten ab.

Sie hörte, dass Vincent, ihr Ehemann, die kleine Küche durchquerte und zu ihr kam. Er legte die Arme um ihre Taille und schaute ihr über die Schulter.

»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst diesen Kram nicht vor dem Frühstück lesen?«

»Ich weiß«, sagte Jessica.

»Du solltest etwas lesen, was beruhigt. Die Bibel zum Beispiel.«

Jessica lächelte. »Du meinst die Stelle, als Jesus die Geldwechsler aus der Temple University wirft?«

Vincent lachte. »Ja, geradewegs auf die Straßen von Philadelphia.«

Sie schwiegen einen Moment. Vincent wusste, dass seine Frau ihre Entscheidung in dieser Sache so gut wie getroffen hatte. Er wusste aber auch, dass es ihr nicht leichtgefallen war.

»Bist du sicher?«, fragte er.

Nein, Jessica war sich nicht sicher. »Ja«, sagte sie.

»Wir würden das schon irgendwie hinbekommen.«

»Nein. Es ist zu viel, Vince. Unsere finanziellen Belastungen sind einfach zu hoch.«

Vincent legte die Hände auf Jessicas Hüften und zog sie an sich.

»Wir können alles abzahlen«, sagte er. »Ich arbeite beim Drogendezernat, schon vergessen? Ich nehme ein oder zwei Dealer hoch. Dann schwimmen wir in Geld und sind fein raus.«

»Ich bin sicher, das Finanzamt hätte nichts dagegen.«

»Ach so, das Finanzamt.«

Jessicas Blick schweifte durch die Küche zu den ordentlich aufgestapelten Tellern im Spülbecken und den zusammengefalteten Servietten auf der Küchenzeile. Als sie in die samtbraunen Augen ihres Mannes schaute, spürte sie ein Kribbeln im Bauch, obwohl sie schon so lange zusammen waren.

»Danke, dass du dich darum gekümmert hast, dass die Kinder rechtzeitig zur Schule kommen«, sagte sie.

Vincent wusste, dass ein schwerer Tag vor ihr lag. Er war früh aufgestanden, hatte dafür gesorgt, dass Sophie und Carlos sich anzogen, hatte ihnen Frühstück gemacht, ihre Schultaschen gepackt und sie zum Bus gebracht. Inzwischen hatte Jessica heiß geduscht, bis das Wasser kalt wurde.

»Hab ich gern gemacht«, sagte Vincent.

»Du hättest auch noch Spülen können.«

Vincent lachte. »Jetzt treib’s nicht zu weit.«

Jessica dachte noch einmal über ihre Möglichkeiten nach. Nein, sie hatte keine andere Wahl.

»Ich komme damit klar«, sagte sie. »Wirklich.«

Vincent küsste sie auf die Stirn, dann auf den Mund. »Wenn du damit klarkommst, komme ich auch damit klar.«

»Außerdem könnten wir es nicht vor den Kindern geheim halten. Sie würden herausbekommen, dass wir in finanziellen Schwierigkeiten stecken.«

»Sie wissen es.«

Jessica trat einen Schritt zurück und riss die Augen auf. »Was meinst du damit, sie wissen es? Woher sollen sie es wissen? Hast du es ihnen gesagt?«

»Natürlich nicht.«

»Woher wissen sie es dann?«

»Sie spüren es. Sie wissen, wenn wir uns streiten. Sie wissen, wenn wir glücklich sind. Sie wissen, wenn wir Geldsorgen haben. Sie wissen es einfach. Sie wissen immer alles.«

Jessica atmete tief ein und versuchte sich zu beruhigen. »Solche Geldsorgen hatten wir noch nie.«

Vincent wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Sie hatte recht.

Jessica schaute auf die Uhr. Sie wurde im Roundhouse erwartet.

»Ich muss los. Ich habe in zwanzig Minuten einen Termin beim Captain.«

»Ross ist in Ordnung«, sagte Vincent. »Er wird begeistert sein. Sie wollten dich sowieso nicht gern gehen lassen. Das weißt du doch, oder?«

»Ja, ich weiß.«

»Du wirst sehen, es geht alles gut.«

Jessica spürte, dass ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und nahm sich vor, nüchtern an die Sache heranzugehen.

Wo war das selbstbewusste Mädchen aus Süd-Philadelphia, jetzt, da sie es brauchte?

»Ja«, sagte sie. »Du hast recht. Ich krieg das hin.«

Jessica griff nach einer der zusammengefalteten Servietten auf der Küchenzeile, um sich die Augen zu tupfen, falls sie auf dem Weg zur Arbeit ein paar Tränen vergoss. Dabei bemerkte sie, dass unter der Serviette etwas lag.

»Was ist das?«

Vincent erwiderte nichts.

Jessica hob eine Ecke der Serviette an und sah ein kleines Lederportemonnaie. Das Portemonnaie eines fünfjährigen Jungen. Das Portemonnaie ihres fünfjährigen Sohnes. Jessica wusste genau, wie viel Geld in dem Portemonnaie war. Vier Dollar und sechsundsechzig Cent.

Carlos’ gesamtes Vermögen.

Er schenkt mir sein Geld, das er gespart hat.

Jessica war überwältigt.

Jetzt stand sie auf dem Platz vor dem Roundhouse. Im Grunde hatte sie gewusst, dass es so sein würde. Sie dachte an den Auftrag des Philadelphia Police Departments und seine Geschichte. Fast dreihundert Polizisten waren seit der Entstehung der Polizeibehörde im Dienst für die Stadt und deren Bürger ums Leben gekommen.

Jessica blickte zu der großen Statue des Polizisten mit dem Kind auf dem Arm, die dem Franklin Park zugewandt war. Sie hatte diese Statue unzählige Male gesehen und schenke ihr meistens keine Beachtung, maß ihr keinerlei Bedeutung zu. Heute war es anders. Heute bedeutete ihr der Anblick des namenlosen Polizisten sehr viel.

Tanz der Toten
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