8
Als Byrne das obere Ende der Treppe erreichte, neigte er den Kopf zur Seite und lauschte in die Stille.
»Mr. Solomon?«
Nichts.
»Sir?«
Nichts. Völlige Stille. Byrne hörte nur ein Klingeln in den Ohren wie nach einem lauten Knall in einem geschlossenen Raum. Vorsichtig spähte er um die Ecke und zog den Kopf sofort wieder zurück. Ein Flur mit drei Türen. Nur eine der Türen war geöffnet – die letzte auf der linken Seite.
Byrne richtete die Mündung der Waffe nach unten, betrat den Flur und rief noch einmal den Namen.
»Mr. Solomon?«
Wieder keine Antwort. Byrne hob die Waffe, wirbelte herum und warf einen raschen Blick in das erste Zimmer.
Bett, Kommode, Nachttische, Lampen. Auf einem der beiden Nachttische stand eine Ladestation für ein schnurloses Telefon. Byrnes Blick schweifte durchs Zimmer. Hier war niemand.
»Mr. Solomon?«, rief er noch einmal.
Keine Antwort.
Keine Vorhänge, hinter denen man sich verstecken konnte. Sämtliche Möbel standen an den Wänden.
Byrne kniete sich hin, schaute unter das Bett.
Nichts.
Er stand auf, ging zum Wandschrank. Das Knattern von Jessicas Funkgerät hallte von unten herauf. Abgesehen von Byrnes lautem Herzklopfen war es das einzige Geräusch im Haus.
Die Schranktür stand einen Spalt offen. In dem Schrank war es dunkel. Byrne versuchte, ruhiger zu werden und lauschte angestrengt, ob im Wandschrank Geräusche zu hören waren – das Knacken einer Holzdiele, das Klimpern zweier Drahtbügel, die aneinanderstießen, das schnelle Atmen eines Menschen.
Nichts.
Als er den Schrank erreichte, zögerte er kurz, ehe er die Tür mit dem Fuß weit öffnete. Ein paar Jacketts, Hemden, Hosen – das war alles.
Im Schlafzimmer war niemand.
Byrne richtete die Waffe nach oben, drückte den Rücken gegen den Türpfosten und drehte sich zum Flur um. Dann stieß er die Tür des zweiten Zimmers mit dem Fuß auf. Es war offenbar Adinah Solomons Zimmer. Hier roch es wie in einem Krankenzimmer, und über dem Bett hing ein Haltegriff an einer Stange. Auf einem kleinen Beistelltisch in einer Zimmerecke lagen mehrere Tablettenschachteln neben Wasserkrügen und Wasserflaschen. Byrne überprüfte den Schrank. Leer.
Nicht weit entfernt hörte er die Sirenen mehrerer Streifenwagen. Hier in Süd-Philadelphia waren die Streifenwagen nie weiter als ein paar Straßen voneinander entfernt und daher immer in der Nähe eines Tatorts. Sobald über Funk eine Meldung einging, dass Schüsse gefallen waren und sich Polizisten am Tatort aufhielten, eilten sie alle herbei.
Die dritte Tür führte in Nicoles Zimmer. Poster von Boygroups an den Wänden, ein Laptop auf einem kleinen Schreibtisch aus Sperrholz, ein Kleiderständer in einer Ecke, auf dem Schals, Mützen und Jacken hingen. Der Schrank hatte keine Türen.
Das Bett war gemacht, und auf dem Kissen lagen drei Plüschschildkröten.
Der letzte Raum war das Badezimmer.
Die Tür stand einen Spalt offen.
Eigentlich hätte Byrne warten müssen, aber diese Geduld brachte er nicht auf. Er atmete tief ein, stieß mit der Schulter die Tür auf und richtete die Waffe in den Raum.
Im Badezimmer sah es aus wie nach einem Gemetzel.
David Solomon lag nackt in der Wanne. Die linke Seite seines Schädels war weggeblasen. Die weißen Kacheln waren voller Blutspritzer und Hirnmasse. Eine Waffe aus Edelstahl, Kaliber .357, lag auf dem Boden neben der Badewanne. Vor der Tat hatte Solomon seine Kleidung ordentlich auf den Toilettendeckel gelegt.
So etwas hatte Byrne schon viel zu oft gesehen. Manchmal stiegen Selbstmörder, die vorhatten, sich zu erschießen, in eine Badewanne, um die spätere Reinigung des Tatorts zu erleichtern. David Solomon wollte offenbar vermeiden, dass seine Kleidung etwas abbekam.
Byrne hatte sich, was das Kaliber betraf, nicht getäuscht. Kaum eine Waffe ist so laut wie eine .357er oder .44er, vor allem in einem kleinen Zimmer. Byrne ging einen Schritt ins Bad und zog die Waffe mit dem Fuß zu sich heran, obwohl von dem Mann in der Badewanne keine Gefahr mehr ausging.
Im Bad roch es nach Eisen, Blut und verbranntem Fleisch. Der Geruch des Todes hing in der Luft.
Byrne steckte seine Waffe ins Holster und drückte auf die Sprechtaste an seinem Funkgerät.
»Jess«, sagte er.
Keine Antwort.
»Jess«, sagte er noch einmal.
Ein paar qualvolle Sekunden später meldete sie sich: »Ich bin hier.«
»Der erste Stock ist sauber.«
»Solomon?«
»Ja.«
»Tot?«
»Ja.«
»Bei dir alles in Ordnung?«
Byrne wusste, was sie meinte. Dennoch zögerte er. Es war nicht fair. »Ja, alles in Ordnung«, sagte er schließlich.
»Die Unterstützung ist da«, sagte Jessica. »Sie haben den Keller durchsucht.«
»Die Mutter?«, fragte Byrne.
Rauschen.
»Ist in Sicherheit«, sagte Jessica dann.