19

»Brandon Altschuld, bitte.«

Während Byrne darauf wartete, dass der Pflichtverteidiger an den Apparat kam, betrachtete er den Karton auf dem Beifahrersitz. Im dämmerigen Licht sah er so aus wie jeder andere Karton aus der Asservatenkammer. Wenn man den Namen, die Nummer des Falles und das Datum auf dem Aufkleber nicht sah, konnte man unmöglich wissen, was sich in dem Karton befand: einige wenige Dinge, die sie in der Nacht ihrer Verhaftung in Valerie Beckerts Wagen gefunden hatten.

»Hier Brandon Altschuld«, meldete sich der Pflichtverteidiger.

»Mr. Altschuld, mein Name ist Kevin Byrne. Ich bin Detective bei der Mordkommission des Philadelphia Police Departments.«

Eine ganze Weile herrschte Schweigen, ehe Byrne fortfuhr.

»Ich war der Polizist, der Valerie Beckert verhaftet hat.«

»Ich weiß, wer Sie sind, Detective«, erwiderte Altschuld. »Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann war nicht besonders entgegenkommend, aber damit hatte Byrne gerechnet. Zwischen Anwälten und Polizisten gab es keine Sympathie, und die würde es auch nie geben. Das hatte seine Gründe. Die Arroganz von Anwälten wurde durch hohe Spesenkonten, starke Medienpräsenz und möglicherweise durch einen Buchvertrag belohnt, wenn es ein Fall war, der großes öffentliches Interesse erregte. Zumindest war das bei Promianwälten so. Für Pflichtverteidiger mit ihren schlecht bezahlten Jobs, den langen Arbeitszeiten und kaum Chancen auf Ruhm waren die Cops Todfeinde, die einer geschützten Berufsgruppe angehörten. Sie brachen sämtliche Gesetze, die zu achten sie geschworen hatten, wenn es ihnen darum ging, die Straßen von Menschen zu befreien, die sie als Abschaum betrachteten.

»Ich rufe an, weil ich eine Bitte habe, die Valerie Beckert betrifft«, sagte Byrne.

Erneutes Schweigen. Altschuld machte es ihm nicht leicht. Auch damit hatte Byrne gerechnet.

»Ich höre«, sagte der Anwalt schließlich.

»Ich würde gern mit Ihrer Mandantin sprechen.«

Der Mann machte ein Geräusch, das sich fast wie ein Lachen anhörte, ohne dass er tatsächlich lachte.

»Habe ich richtig gehört?«, fragte er. »Was sollten Sie denn mit meiner Mandantin zu besprechen haben?«

Diese Frage hatte Byrne erwartet, allerdings zu einem späteren Zeitpunkt des Gesprächs. Er bemühte sich, durch seinen Tonfall den Respekt auszudrücken, den er dem Beruf des Anwalts entgegenbrachte. »Ich glaube, sie könnte wichtige Informationen über andere Fälle haben.«

»Ach ja? Andere Morde?«

»Nein. Diese Fälle werden offiziell nicht …«

»Warum führen wir dieses Gespräch dann überhaupt? Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung habe ich sie nicht vertreten, aber ich glaube mich zu erinnern, dass Sie, Detective, nach der Verhaftung meiner Mandantin sechs Stunden in einem Verhörraum mit ihr gesprochen haben. Wie kommen Sie darauf, dass sie Ihnen jetzt etwas erzählt, was sie Ihnen damals nicht schon erzählt hätte? Das ist zehn Jahre her.«

Darauf hatte Byrne keine Antwort. Auf jeden Fall keine, die ihn weiterbrachte. »Hören Sie, Mr. Altschuld, ich weiß, dass …«

»Sie hatten Ihre Chance. Das Commonwealth of Pennsylvania wird meiner Mandantin in weniger als zwei Wochen das Leben nehmen. Sie hat mit dieser traurigen Tatsache Frieden geschlossen. Ich schlage vor, Sie machen das am besten auch.«

»Wenn Sie vielleicht nur …«

»Schönen Tag noch.«

Ehe Byrne noch etwas sagen konnte, hatte der Mann aufgelegt. Am liebsten hätte Byrne sein Handy aus dem Fenster geworfen. In den vergangenen Jahren hatte er auf diese Weise so viele Handys zerschmettert, dass er überlegt hatte, sie im Dutzend zu kaufen. Stattdessen legte er auf, atmete tief durch und steckte das Handy ein.

Er starrte aus dem Beifahrerfenster und versuchte sich zu beruhigen. Das Gespräch war schlechter gelaufen, als er erwartet hatte – und er hatte damit gerechnet, dass es ziemlich schlecht laufen würde.

Dieser Teil des Fairmount Parks war am frühen Morgen fast wie ausgestorben. Byrne sah zwei Jogger auf dem gewundenen Weg. Eine Jugendliche spielte mit ihrem Golden Retriever Frisbee.

Byrne stieg aus und schlug den Mantelkragen hoch. Es war kalt, windig und nebelig. Er überquerte die Wiese. Als er die Stelle erreichte, an der Valerie Beckert damals die Leiche von Thomas Rule vergraben hatte, blieb er stehen. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, schloss die Augen …

Und sah Valerie auf der Bank sitzen. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Der Polizist, der sie festgenommen hatte, stand ein paar Meter entfernt. Thomas’ Leichnam lag neben dem Weg auf der Erde – ein kleiner Körper, steif und starr. Das Bild der drei Personen sah er jetzt so deutlich vor sich wie in jener Nacht.

Als Valerie den Blick hob und Byrne ihr zum ersten Mal in die Augen schaute, sah er etwas darin, was er erst wenige Male gesehen hatte. Er erkannte keine Angst, keine Scham, keine Schuldgefühle und keine Gewissensbisse. Stattdessen schien es ihm, als wollte das Mädchen sagen, dass sie ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet hatte.

Es kam Byrne so vor, als hätte sie auf ihn gewartet.

Die Bekrönung – ein Raubvogel auf dem Ast einer stattlichen Eiche – ragte in den Nachthimmel.

Der Garten vor dem Haus war völlig verwildert und der Weg mit Laub, Zweigen und Müll übersät, die der Wind im Laufe der Zeit auf das Grundstück geweht hatte. Das Schild der Immobilienfirma war verrostet, Telefonnummer und Namen nicht mehr zu entziffern, nachdem das Schild zehn Jahre lang Regen, Schnee und Ruß ausgesetzt war.

Als Byrne den Schlüssel im Schloss drehte, dachte er zuerst, es wäre der falsche. Er hatte den Schlüssel in einer kleinen Plastiktüte im Karton mit den Beweismitteln gefunden, den er aus der Asservatenkammer in der City Hall geholt hatte.

Er versuchte es noch einmal, drehte den Schlüssel nach rechts, dann nach links, ohne dass die Tür sich öffnen ließ. Offenbar war das Schloss verrostet. Byrne ließ nicht locker, bewegte den Schlüssel mehrmals von einer Seite zur anderen. Schließlich drehte er sich im Schloss, und Byrne öffnete die Tür.

Als er den Eingangsbereich betrat, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er spürte, dass wieder dieses beunruhigende Gefühl in ihm aufstieg, das er nur zu gut kannte.

Die Diele war leer, der Boden von einer dicken Staubschicht bedeckt. In einer Ecke sah Byrne zerfetztes Papier, die Reste einer Haushaltsrolle. Mäuse hatten die zerfressene Papprolle in einem anderen Teil des Hauses verteilt und überall ihre kleinen schwarzen Köttel hinterlassen.

Geradeaus ging es durch einen bogenförmigen Durchgang ins Wohnzimmer. Es war groß, sogar für eine herrschaftliche Villa in Wynnefield. An der hinteren Wand stand ein Kamin. Er war mit Ziegelsteinen zugemauert und dann gestrichen worden. Linker Hand standen leere Bücherregale, doch die Hälfte der Regale fehlte.

Byrne versuchte einen vernünftigen Grund zu finden, warum er hierhergekommen war. Er wusste, dass die Erklärung in seinem Herzen zu finden war, nicht in seinem Verstand, doch die Emotionen, die ihn in dieses Haus gelockt hatten, trübten sein Urteilsvermögen. Aber das war ihm im Augenblick egal. Es ging um seine felsenfeste Überzeugung, an der er seit zehn Jahren festhielt.

Die Überzeugung, dass die ehemalige Bewohnerin dieser Villa mehr als ein Kind getötet hatte.

Byrne glaubte, dass die verborgenen Winkel dieses Hauses Valerie Beckerts Geheimnisse bargen.

Er machte die Tür zu, stieg die Treppe hinauf, den Beweismittelkarton unter dem Arm. Er hielt sich am Treppengeländer fest. Irgendwoher wusste er, dass die fünfte Stufe von unten knarren würde und dass der obere Teil des Geländers wackelte. Nicht, dass er sich daran erinnert hätte. Es hatte nichts mit seinem ersten Besuch in diesem Haus zu tun; es war ein Wissen, das in einem dunklen Winkel seines Innern schlummerte.

Damals, beim ersten Besuch, hatte er es eilig gehabt, sich in dem Haus umzusehen. Mit seiner Erfahrung und seiner guten Beobachtungsgabe hatte er sich darauf konzentriert, Hinweise zu finden, die ihn zu den anderen Kindern führten – jene Kinder, die Valerie Beckert seiner Meinung nach ebenfalls ermordet hatte.

In jener Nacht hatten sie nichts gefunden, keine Kleidung, keine Mordwaffe, keine Haare oder Fasern, nichts, was darauf hinwies, dass irgendein Kind – einschließlich Thomas Rule – jemals in diesem Haus gewesen war. Damals hatte Byrne sich gefragt, ob Beckert noch einen anderen Wohnsitz hatte, den sie nutzte, um die Kinder dort zu töten. Aber auch dafür hatten sie keine Beweise gefunden.

Als Byrne nun das Ende der Treppe erreichte, setzte er sich auf die oberste Stufe und öffnete den Karton mit den Beweismitteln. Er enthielt nur drei Dinge.

In einer bunten Schachtel, einem Happy Meal von McDonald’s, lag etwas, über das Byrne in den letzten Jahren oft nachgedacht hatte. Er öffnete die Schachtel, nahm das Spielzeug heraus, eine orangerote Plastikfigur. Es war die fast originalgetreue Nachbildung von Nemo aus dem Film Findet Nemo. Auf dem Spielzeug haftete ebenso wie auf den anderen Gegenständen im Karton noch immer das schwarze Pulver, mit dem Fingerabdrücke sichtbar gemacht wurden.

Aufgrund der Obduktion wusste Byrne, dass Thomas Rule am Tag seiner Ermordung nichts von McDonald’s gegessen hatte. Nun fragte er sich, welches der anderen Kinder das Happy Meal gegessen und verängstigt, weinend und einsam mit dem kleinen Plastikspielzeug in der Hand auf der Rückbank des Wagens gesessen hatte. Nachdenklich bewegte Byrne die Schwanzflosse der Figur. Hatte Thaddeus Woodman das ebenfalls getan?

Byrne legte das Spielzeug zurück in die Schachtel und nahm ein anderes Teil heraus, eine kleine Flasche Aspirin für Kinder. Wie schon damals in der Nacht vor zehn Jahren schüttelte er die Flasche. Sie enthielt nur noch eine Tablette. Byrne fragte sich noch immer, warum diese Tablettenflasche in Valerie Beckerts Wagen gelegen hatte. Hatte sie den Kindern helfen wollen, wenn sie im Sommer erkältet waren, um sie dann brutal zu ermorden?

Byrne schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine Empfindungen. Beinahe glaubte er, Thomas Rules Schluchzen zu hören, hier, in diesem Haus, und die Schritte des Jungen, als er versucht hatte, vor dem Monster Valerie Beckert zu fliehen.

Byrne schlug die Augen wieder auf, ließ den Blick durch das dämmerige, zugige Haus gleiten, ehe er den dritten Gegenstand aus dem Karton nahm. Es war ein Schlüsselring, an dem drei Schlüssel hingen: der von Valeries Auto, der für die Eingangstür dieses Hauses sowie ein alter Buntbartschlüssel.

Was konnte man mit diesem Schlüssel aufschließen?, fragte Byrne sich einmal mehr. Welche Geheimnisse, welche grässlichen Entdeckungen bringt er ans Licht?

Byrne legte die Schlüssel zurück in den Karton, machte ihn zu und stand auf.

Bei dieser Bewegung knarrten die Holzdielen unter seinem Gewicht.

Tanz der Toten
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