70

Byrne wollte alleine sein und ausruhen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dennoch beschloss er, die Party nicht abzusagen.

Aufgrund der neuesten Ereignisse hatte er es ernsthaft in Erwägung gezogen. Er war überhaupt nicht in Partystimmung, aber jetzt hatte er zu viele Leute eingeladen, die nichts mit der Polizei und dem Rechtssystem zu tun hatten.

Byrne war in Bereitschaft und könnte in einer Viertelstunde im Roundhouse sein. Paddy war bereits unterwegs, Gott sei Dank, denn es gab keinen besseren Gastgeber für eine Party, falls es notwendig sein sollte, Kevin Byrne zu vertreten.

Bis jetzt hatte ihre Verdächtige Cassandra White keinen Anwalt verlangt.

Und ihre Fingerabdrücke waren nicht im System.

Byrne stand mitten im Wohnzimmer. Auf dem Kaminsims standen fünf oder sechs Kerzen, und vielleicht ein Dutzend Klappstühle waren im Zimmer verteilt. Byrne hatte sie bei einem Freund geliehen, der in Süd-Philadelphia ein Beerdigungsinstitut betrieb. Zum Glück stand der Firmenname »Grace Brothers« nicht auf den Rückenlehnen der Stühle.

Für diesen Abend hatte Byrne sich Colleens iPad ausgeliehen und mit einer Stereoanlage verbunden, die ebenfalls geliehen war. Er hatte drei bis vier Stunden Musik zusammengestellt. Traditionellen Blues, bekannte Jazz-Stücke und ein paar aktuelle Hitparaden-Titel für die Jugendlichen.

Wieder schaute Byrne auf die Uhr. Er hatte nicht erwartet, dass die Feier ihn so nervös machte. Du lieber Himmel, es kamen doch nur seine Familie und eine kleine Gruppe von Freunden.

Dennoch war er so nervös, dass er sogar die Uhr am Backofen gestellt hatte, um nicht zu vergessen, rechtzeitig zu duschen und noch ein bisschen aufzuräumen.

Um Viertel nach fünf – zwei Stunden, bevor Byrne die ersten Gäste erwartete – klopfte es an der Tür. Das musste der Auslieferungsfahrer vom Finnigan’s Wake sein. Byrne knipste das Licht im Esszimmer ein. Beim Anblick des Buffettisches, auf den das kalte Licht des alten Kronleuchters fiel, zuckte er zusammen. Der Tisch bestand aus einer Sperrholzplatte, ein Meter breit, zwei fünfzig lang, die auf vier Holzböcken stand und mit einer rot-weiß karierten Plastiktischdecke bedeckt war. Sobald er das Buffet aufgebaut hatte, würde er das Licht wieder löschen.

Byrne öffnete die Tür und sah den Transporter mit dem Logo des Finnigan’s Wake in der Einfahrt stehen. Der Motor lief.

»Hallo!«, rief jemand, der hinter dem Transporter stand.

Der Auslieferungsfahrer, ein Mann im grünen Hemd und der Baseballkappe des Finnigan’s Wake, kam mit drei großen silbernen Metallbehältern auf Byrne zu.

»Sind Sie Mr. Byrne?«

»Ja. Sagen Sie einfach Kevin. Soll ich Ihnen helfen?«

»Nein, danke. Geht schon.«

Der Mann kam ins Haus, trat sich die Füße ab und ging durch den Salon ins Esszimmer. Dort stellte er die großen silbernen Behälter auf den Tisch und schaute sich um.

»Schönes Haus«, sagte er.

»Danke. Es wird langsam«, erwiderte Byrne. »Soll ich Ihnen nicht doch helfen?«

»Im Wagen sind noch zwei Behälter mit Essen. Wäre nett, wenn Sie die holen könnten. Ich stelle schon mal die Wasserbadbehälter auf.«

»Okay.«

Als Byrne zum Transporter ging, schaute er hinauf zum wolkenlosen Himmel. Es war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Nachdem er ins Haus zurückgekehrt war, stellte er die Behälter auf den Tisch. Der Duft des gebratenen Fischs und der Pommes erinnerte ihn daran, dass er noch nichts gegessen hatte.

»So, das ist alles.«

Byrne nahm einen Zwanziger aus der Tasche und wollte dem Fahrer das Geld geben.

»Nein, danke«, wehrte der Mann ab. »Aber ich nehme gern ein Bier. Wenn Sie es meinem Chef nicht sagen.«

»Alles klar.«

Byrne holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Anschließend nahm er sein Glas Whiskey vom Tisch.

»Auf Ihr neues Haus«, sagte der Auslieferungsfahrer.

»Danke.«

Byrne hob das Glas und trank es aus. Der Whiskey war okay, aber nicht mit Black Bush oder Tullamore Dew zu vergleichen. Er nahm sich vor, die billige Sorte nicht mehr zu kaufen.

Als er sein Glas geleert hatte, bot er dem Fahrer noch einmal den Zwanziger an. »Wollen Sie das Geld wirklich nicht?«

»Nein.«

Byrne steckte den Schein weg, drehte sich zum Buffet um und überlegte, ob er genug zu essen bestellt hatte.

»Ehrlich gesagt, es gibt doch etwas, was Sie für mich tun können.«

»Klar«, sagte Byrne.

»Sie können Anabelle freilassen.«

Im ersten Moment glaubte Byrne, er hätte sich verhört.

Dann aber wurde ihm schlagartig alles klar. Jetzt wusste er auch, weshalb der junge Mann ihm auf Anhieb bekannt vorgekommen war, als er ihn in der dunklen Einfahrt hatte stehen sehen. Byrne hatte geglaubt, ihn im Finnigan’s Wake gesehen zu haben.

Jetzt wusste er, woher er den jungen Burschen kannte. Er hatte ihn auf dem Film der Überwachungskamera gesehen. Er hatte ihn auch als sechsjährigen Jungen gesehen, der vom Jugendamt den Namen Martin White bekommen hatte.

Der Mann war Mr. Marseille.

Als Nächstes schoss Byrne der Gedanke durch den Kopf, dass seine Dienstwaffe und die Ersatzwaffe oben lagen, im ersten Stock, in einer verschlossenen Stahlkassette auf dem Nachttisch.

»Anabelle?«, fragte Byrne und drehte sich langsam um.

Wie erwartet richtete der junge Mann eine Waffe auf ihn.

»Sie wissen, wen ich meine.«

»Sie meinen Cassandra White.«

»Ich kenne niemanden mit diesem Namen.«

»Sie sind Martin White.«

Der junge Mann schwieg.

Byrne zeigte auf das Logo auf dem grünen Poloshirt. »Ist er tot?«

Es dauerte einen Moment, bis der Mann sagte: »Ich möchte, dass Sie sich setzen.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Sie sind nur eine von vielen Puppen. Sie bedeuten mir nichts. Kaputt oder unversehrt. Wenn Sie sich weigern, drücke ich ab.«

Byrne dachte fieberhaft nach. Er musste eine Möglichkeit finden, sich aus dieser Situation zu befreien. Er blickte dem jungen Mann über die Schulter in der vagen Hoffnung, Scheinwerfer auf der Fassade des Hauses zu sehen, und dass die ersten Gäste Polizisten waren. Aber da war nichts und niemand.

Byrne zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Sie sind also Mr. Marseille.«

»Ja.«

»Ich wusste, dass wir uns eines Tages begegnen.«

»Jetzt ist es so weit.«

»Vielleicht erklären Sie mir genau, was ich machen soll«, sagte Byrne. »Dann sage ich Ihnen, ob es möglich ist.«

»Ich möchte, dass Sie Ihre Vorgesetzten anrufen und denen mitteilen, dass es ein Fehler war, Anabelle festzuhalten. Sie sollen sie auf der Stelle freilassen.«

»So einfach ist das nicht.«

»Das ist nicht mein Problem.«

»Sie zögern das Unvermeidliche nur hinaus. Selbst wenn sie Anabelle gehen lassen und sie beide wieder zusammen sind, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir Sie schnappen.«

»So wie Sie mich heute Abend geschnappt haben?«

»Ja. Aber Sie haben mindestens vier Menschen auf dem Gewissen. Das nimmt kein gutes Ende.«

»Machen Sie sich keine Sorgen um Mr. Marseille und Anabelle.«

Er spricht in der dritten Person über sich, dachte Byrne. Das war nie ein gutes Zeichen. »Es geht um Valerie Beckert, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete er. »Als sie uns aufnahm, waren wir Kinder. Jetzt sind wir Sauveterres.«

»Valerie Beckert ist die Tochter von Jean Marie Sauveterre, nicht wahr?«

»Sie ist jede Sauveterre, die jemals gemacht wurde. Sie ist perfekt. Trotzdem wird sie in Kürze sterben.«

»Ich glaube nicht, dass meine Vorgesetzten Ihrem Wunsch entsprechen werden.«

»Dann müssen Sie sie überzeugen.«

Byrne dachte über seine Möglichkeiten nach. Viele waren es nicht. »Wenn es noch mehr Blutvergießen gibt, wird es keinen Ort für Sie geben, an dem Sie sich verstecken können.«

»Wir verstecken uns seit Jahren vor den Augen aller. Niemand achtet auf Puppen auf einem Regal.«

»Warum heute Nacht?«, fragte Byrne. »Weil sie heute um Mitternacht sterben wird?«

Mr. Marseille zog sich einen Klappstuhl heran, stellte ihn ans Fenster und spähte durch die Vorhänge nach draußen. Dann drehte er sich wieder um und setzte sich.

»Es wird noch einen Tanztee geben«, sagte er. »Wenn er vorbei ist, werden wir beide unsere Augen dem Licht zuwenden, und dann können Sie uns für immer aufs Regal stellen.«

»Sie waren alle bei der Anhörung, in der es um Valerie Beckerts Schuldfähigkeit ging«, sagte Byrne. »Sie geben ihnen die Schuld, dass Beckert zum Tode verurteilt wurde.«

Der junge Mann schwieg eine Weile, ehe er fragte: »Haben Sie jemals eine Puppe verloren, Mr. Byrne?«

Er sprach über Verlust. Schweren Verlust. Byrne dachte an seine Mutter, die an Krebs gestorben war, wie dünn sie in den letzten Wochen ihres Lebens geworden war, und wie sehr er sie vermisste. Das würde für immer so bleiben.

»Ja«, sagte er.

»Dann kennen Sie den Schmerz der Trauer.«

»Ja.«

Mr. Marseille schaute auf die Treppe, die in den ersten Stock führte. »Ich erinnere mich noch daran, wie ich diese Treppe zum ersten Mal hinaufgestiegen bin. Ich dachte, sie führt bis in den Himmel.«

Byrne musste versuchen, das Gespräch wieder auf das Problem zu lenken, für das sie dringend eine Lösung brauchten.

»Und wenn es mir nicht gelingt, Ihrer Forderung nachzukommen? Was passiert, wenn ich meine Vorgesetzten anrufe, und sie sagen nein?«

»Dann begrüße ich jeden einzelnen Ihrer Gäste an der Tür und schicke sie in ihre Zimmer.«

Ich schicke sie in ihre Zimmer, dachte Byrne. So drückte der Mann sich aus, wenn er über kaltblütigen Mord sprach.

»Bis dahin kann ich Sie hier unten nicht gebrauchen«, fuhr Mr. Marseille fort. »Stehen Sie bitte auf.«

Byrne gehorchte zögernd.

Gefolgt von Mr. Marseille stieg er die Treppe hinauf. Als sie den zweiten Stock erreichten, öffnete Marseille den Wandschrank und griff unter den untersten Einlegeboden. Byrne hörte, dass er einen Riegel aufschob. Dann packte er das unterste Brett und zog daran. Das gesamte Schrankinnere schwang nach links und öffnete sich.

Vor Byrne lag ein langer Gang.

»Was ist das?«, fragte er.

»Willkommen in meinem Zuhause«, erwiderte Mr. Marseille.

Er drückte auf einen Lichtschalter. Ein halbes Dutzend eiserne Wandleuchter erstrahlten und tauchten den Gang in gelbes Licht. Zu beiden Seiten dieses Gangs waren Puppen an die Wände genagelt worden, manchmal drei übereinander. Es mussten Hunderte sein.

Als sie das Ende des Gangs erreichten, schloss Marseille eine Stahltür auf und schob die beiden massiven Riegel zur Seite. Sie betraten ein fensterloses Schlafzimmer mit zwei Betten, in dem sich weitere Puppen befanden. Poster und Fotos hingen an den Wänden. Es waren Bilder von Nicole Solomon, Robert und Edward Gillen, Andrea Skolnik und zahllosen anderen, darunter viele Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die im Laufe der Zeit vergilbt waren.

»Setzen Sie sich.« Marseille zeigte auf einen Stuhl neben einem kleinen Rolltop-Schreibtisch.

Ehe Byrne Platz genommen hatte, hörte er einen Piepton. Es war die Uhr am Backofen, die er gestellt hatte. Es klang, als wäre die Küche ganz in der Nähe. Doch schon eine Sekunde später wurde Byrne alles klar: Er schaute auf das Lüftungsgitter unten an der Wand, dicht neben seinen Füßen.

»Deshalb wissen Sie alles«, sagte Byrne. »Sie haben alles gehört, was in der Küche gesprochen wurde. Alle meine Gespräche.«

Der junge Mann sagte nichts dazu. Stattdessen forderte er Byrne noch einmal auf, Platz zu nehmen. »Setzen Sie sich bitte.«

Mr. Marseilles Stimme klang mit einem Mal fremd. Zuerst dachte Byrne, es wäre die Musik, die von unten heraufklang. Dann wurde ihm klar, dass es nicht die Musik war, sondern etwas ganz anderes.

Deshalb hatte der Whiskey so schlecht geschmeckt.

Deshalb hatte Marseille ein Bier trinken wollen, um mit ihm anzustoßen.

Mr. Marseille hatte die Zeit genutzt und Byrnes Drink mit Rauschpilzen versetzt, als Byrne zum Transporter gegangen war.

Als Mr. Marseille kurz darauf den Raum verließ und die dicken Riegel vor die Stahltür schob, veränderte sich für Byrne die Welt. Jede Ecke, jeder Winkel des Raumes schien ihn mit toten Augen zu beobachten.

Dann öffneten sich nacheinander jeweils zwei dieser Augen und wurden lebendig.

Die vierundvierzig Minuten in jener Nacht, an die Byrne keine Erinnerungen hatte …

Er war schon einmal hier gewesen.

Tanz der Toten
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