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Am Tag darauf um zehn Uhr früh bekam Byrne einen Anruf vom Chef des Sicherheitsdienstes des Home Depot in der Cheltenham Avenue. Während Jessica versuchte, mehr über die Puppe herauszubekommen, die sie am Tatort der Gillen-Morde gefunden hatten, fuhr Byrne noch einmal zu dem großen Baumarkt.
Der Zwischenbericht am nächsten Morgen beinhaltete auch die Informationen, die Jessica und Vincent Balzano am Abend zuvor bekommen hatten. Dazu gehörten der Name »Mercy«, ein Phantombild und eine Telefonnummer. Es handelte sich um ein Münztelefon an einer Tankstelle in der Nähe der Ausfahrt West Ridge Pike.
Das alles waren keine heißen Spuren, dennoch mussten sie ihnen nachgehen. Natürlich war es möglich, dass der Mann, der das Zubehör zum Anbau von Rauschpilzen von dem Dealer gekauft hatte, nicht der Mann war, den sie suchten. Es könnte sich um jemanden handeln, der die Pilze züchtete und verkaufte. Doch sie mussten jeder Spur nachgehen. Jetzt saß ein Detective aus einem Revier im Westen der Stadt an dem Münztelefon, und die Ermittler suchten den Namen »Mercy« in der nationalen Verbrecherdatenbank.
Als Byrne zum Baumarkt fuhr, um sich die Filme der Überwachungskameras anzuschauen, beschloss er, zehn Eimer Farbe für den Außenanstrich seines neuen Hauses zu kaufen. Josh Bontrager, der einen Subaru Forester fuhr, erbot sich, die Farbe später abzuholen.
Byrne sprach auch mit Donte Williams, dem jungen Mann, der den Eimer mit dem Lichtgelb gemischt hatte. Donte erinnerte sich zwar, die Farbe gemischt zu haben, nicht aber an den Kunden. Vermutlich aus dem Grund, meinte er, weil der Kunde genau wusste, was er wollte. Wenn er ihn noch hätte beraten müssen, hätte er sich möglicherweise an ihn erinnert. Wäre es eine Frau gewesen, hätte er sich ebenfalls erinnert, sagte Donte.
Er wurde gebeten, sich den Film der Überwachungskamera gemeinsam mit Byrne und dem Sicherheitschef anzusehen.
Der Chef des Sicherheitsdienstes von Home Depot hieß Tony Walton, ein Afroamerikaner Mitte fünfzig. Trotz des schwierigen Jobs war Walton ein umgänglicher Mann. Wer glaubte, man könne in einem Baumarkt mit über zehntausend Teilen in den Regalen, von denen viele in eine Hosentasche passten, Bagatelldiebstähle völlig verhindern, hätte vermutlich sofort das Handtuch geworfen.
Dass Walton umgänglich war bedeutete nicht, dass man ihm etwas vormachen konnte. Sogar in der kurzen Zeit, die sie miteinander sprachen, sah Byrne, dass Tony Walton nichts entging.
Sie trafen sich im beengten Dienstraum der Sicherheitsabteilung, in dem ein halbes Dutzend Monitore standen. Sie zeigten Bilder, die von den Überwachungskameras im meist gut besuchten Baumarkt und rund um das Gebäude aus zwei Dutzend Blickwinkeln aufgenommen wurden.
Walton bot Byrne einen Becher Kaffee an. Für Kaffee, den man in einem Baumarkt angeboten bekam, schmeckte er erstaunlich gut. Die Männer setzten sich vor einen der Monitore. Walton nahm aus einem DVD-Album eine DVD, auf die er mit schwarzem Marker das Datum geschrieben hatte.
Als er sie ins Laufwerk des Computers unter dem Tisch schob, fragte Byrne: »Waren Sie früher bei der Polizei?«
Walton nickte. »Ja.«
»Hier in Philadelphia?«
»Nein, in Pittsburgh.«
»In welchen Abteilungen haben Sie gearbeitet?«
»Ich war Detective im Polizeibezirk drei.«
»Vermissen Sie den Job?«, fragte Byrne.
»Ja, jeden Tag.«
Die beiden Männer sprachen noch einen Augenblick über die Herausforderungen im Job, dann kamen sie auf die Filme zu sprechen.
»Ich habe die Aufnahmen aus der Zeitspanne herausgesucht, als die Farbe gemischt wurde, nach der Sie gefragt haben«, sagte Walton. »Dieser Film beginnt drei Minuten, nachdem die Farbe gemischt wurde.«
»Sind Sie sicher, dass der Kunde dieses Lichtgelb gekauft hat?«
»Nein. Ich habe die Kassenbelege von dem Augenblick, als die Farbe gemischt wurde, und die der nächsten dreißig Minuten überprüft. In diesem Zeitraum wurden acht Eimer Farbe gekauft, und nur vier davon waren Fünflitereimer. Zwei dieser Kunden haben noch andere Dinge gekauft – Sperrholz und Gipskarton. Einer hat ein Heizgerät erworben. Von den beiden anderen hat nur einer ausschließlich Farbe gekauft.«
Byrne dachte darüber nach, dankbar, dass Walton sich die Arbeit gemacht und alles genau überprüft hatte. Einmal Polizist, immer Polizist.
»Könnte sein, dass das zu nichts führt, aber wenn das Ihr Mann ist, dann ist er es«, fügte Walton hinzu.
»Okay«, sagte Byrne.
Donte Williams stürmte in den Raum.
»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Walton zu ihm. Dann wandte er sich wieder Byrne zu. »Sind Sie bereit?«
»Ja.«
»Okay. Dann los.«
Walton drückte eine Taste auf seiner Computertastatur, woraufhin ein Bild auf dem Monitor erschien. Es war aus einem hohen Winkel links von der Kasse aufgenommen worden, die den Türen am Nordeingang am nächsten lag. Es war eine von zwei geöffneten Kassen.
Der erste Mann in der Reihe hatte ein halbes Dutzend einen Meter lange PVC-Kabelkanäle und einen Plastikeimer von Home Depot. Der Baumarkt bot den Kunden aus irgendeinem Grund keine Einkaufskörbe an. Vielleicht war man der Meinung, Einkaufskörbe wären nicht das Richtige für die größtenteils männliche Kundschaft.
Der Kunde mit den Kabelkanälen, der aussah wie ein Handwerker, nahm alles aus dem Eimer, legte es aufs Band und stellte den Eimer darunter.
Byrne interessierte das nur am Rande. Stattdessen konzentrierte er sich auf den nächsten Kunden, erfüllt von dem vertrauten Gefühl erwartungsvoller Unruhe, dass er gleich zum ersten Mal einen Verdächtigen erblickte.
Byrne tippte auf den Monitor. »Ist er das?«
»Das ist er«, sagte Walton.
Byrne drehte sich zu Donte um. »Meinen Sie, das könnte der Mann sein, für den Sie das Lichtgelb gemischt haben?«
Donte beugte sich vor, spähte mit zusammengekniffenen Augen auf den Monitor. »Könnte sein. Ich weiß es nicht. Ich mische eine Menge Farbe.«
Auf dem Monitor sah der Mann mit der Farbe jung aus, jedenfalls von hinten, aus der Kameraperspektive. Vielleicht war er Anfang zwanzig. Er hatte sein dunkles Haar nach hinten gekämmt und trug einen gut sitzenden dunklen Mantel.
Als der Kunde mit den Kabelkanälen bezahlt hatte, trat der Mann hinter ihm vor. Er stellte den Eimer Farbe auf das Band. Die junge Frau an der Kasse scannte mit ihrem Handscanner den Barcode auf dem Deckel ein. Sie stellte den Eimer nicht in eine große Tüte, sondern klebte einen BEZAHLT-Aufkleber auf den Deckel.
Byrne fiel auf, dass der Mann sein Portemonnaie nicht aus der Hosentasche zog, sondern aus einer Innentasche des Mantels, vielleicht auch des Jacketts. Als er bezahlte, sagte er irgendetwas zur Kassiererin, das sie lächeln ließ. Byrne sah, dass sie den rechten Fuß um die Wade des linken Beins schlang, ein sicheres Zeichen, dass er mit ihr geflirtet oder ihr zumindest ein Kompliment gemacht hatte.
Jetzt nahte der Augenblick, der für die Ermittler einen Durchbruch bedeuten könnte. Wenn der Mann mit einer Kreditkarte bezahlte, hätten sie eine heiße Spur.
Aber so viel Glück hatten sie nicht.
Der Mann zahlte bar und steckte das Portemonnaie wieder in die Innentasche.
Ehe er oben aus dem Bild verschwand, als er zum Ausgang ging, blieb er kurz stehen. Er stellte den Eimer Farbe auf den Boden, knöpfte seinen Mantel zu und griff in die Manteltasche. Er zog Handschuhe heraus, streifte sie über und nahm den Eimer wieder auf.
In der linken Ecke des oberen Bildrands war zu sehen, wie eine Frau auf ihn zukam. Byrne sah fast nichts, nur dass sie einen knielangen Mantel und flache Schuhe trug.
Die beiden zögerten einen Augenblick; dann waren sie verschwunden.
Walton stoppte den Film.
»Haben Sie Aufnahmen von den beiden, wie sie das Geschäft verlassen?«, fragte Byrne.
Walton schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben Kameras auf dem Parkplatz, aber die nehmen nur auf, wenn es Zwischenfälle gibt. Es ist zu teuer, den Parkplatz rund um die Uhr zu überwachen. Tut mir leid. Das ist alles, was wir bieten können.«
Er spulte den Film zurück und spielte ihn noch einmal ab. Es bestand kein Zweifel. Der Mann wartete kurz, bis die Frau auf ihn zukam.
Byrne fragte sich: Ehefrau? Freundin? Schwester?
Es sah nicht so aus, als würden sie Hand in Hand zum Ausgang gehen, also konnte alles zutreffen.
Walton spielte den Film noch einmal ab und stoppte ihn, als der Mann sich von der Kasse entfernte. Er drehte sich kurz nach links um, und sie sahen ein sehr undeutliches Profil. Es war ein gut gekleideter weißer Mann, vermutlich nicht älter als fünfundzwanzig. Genau konnte man es zwar nicht sehen, aber es hatte den Anschein, als würde er ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte tragen.
»Was meinen Sie, Donte?«, fragte Walton.
Byrne wandte sich ebenfalls dem jungen Mann zu. Der checkte die Twitter-Nachrichten auf seinem Handy. Byrne hätte ihn am liebsten ein paar Stunden in eine Zelle im Keller des Roundhouse gesperrt, damit er begriff, wie wichtig das hier war. Er beschloss, im Augenblick nicht darauf zu reagieren.
»Sie können gehen und Ihre Farbe mischen«, sagte Walton.
»Jetzt?«
»Jetzt.«
Donte schniefte und verließ langsam den Raum.
Als er verschwunden war, fragte Byrne: »Könnte ich einen Ausdruck von dem Bild haben?«
»Na klar.« Walton drückte auf ein paar Tasten. Sekunden später begann der Laserdrucker unter dem Schreibtisch zu arbeiten. Walton nahm den Ausdruck und reichte ihn Byrne.
»Danke sehr.« Byrne ging zur Tür, blieb dort noch einmal stehen. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
»Ja, sicher«, sagte Walton.
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
Walton sagte es ihm. Er war jünger, als Byrne zunächst vermutet hatte, nur ein paar Jahre älter als er selbst.
»Wie gefällt Ihnen dieser Job?«, fragte Byrne.
Walton zuckte mit den Schultern. »Ich würde mich lieber mit hübschen Frauen auf den Bahamas vergnügen, aber das Geld reicht gerade mal, um die Rechnungen zu bezahlen. Einige jedenfalls.« Er musterte Byrne mit vielsagendem Blick. »Sie überlegen, was Sie selbst mal machen, wenn Sie nach zwanzig Jahren aufhören, nicht wahr?«
»Genau genommen nach dreißig.«
Walton schien beeindruckt zu sein. »Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass ich mal einen Job wie den hier machen würde. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Diebstähle hier täglich begangen werden. Man lernt schnell, was wichtig ist und was nicht. Zuerst gefiel mir der Gedanke nicht, dass ich den ganzen Tag nicht hier rauskomme, aber man gewöhnt sich daran.«
Als Byrne am Kundenservice-Schalter seine Farbe bezahlte, hob er den Blick zu den Überwachungskameras mit den getönten Kuppeln an der Decke und fragte sich, ob Tony Walton ihn beobachtete. Dann warf er einen Blick auf die Kasse, an der der Verdächtige die Farbe bezahlt hatte, und auf die Tür, durch die der junge Mann mit seiner Begleiterin den Baumarkt verlassen hatte.
Auf der Kassette mit der Klaviermusik hatte eine junge Frau gesprochen.
Waren die Gesuchten ein Mann und eine Frau?
An diesem Nachmittag hatte Byrne frei, doch er musste immerzu an das Pärchen denken, das er auf dem Überwachungsvideo des Baumarkts gesehen hatte.
Mit diesem Bild im Kopf stand er in der Einfahrt seines Hauses und maß die schmalen Blumenbeete aus. Die Kosten für die Gestaltung des Gartens hatte er gar nicht berücksichtigt.
Ehe er die Maße aufschreiben konnte, hörte er einen dumpfen Schlag. Gleich darauf folgte ein zweiter, lauter als der erste.
Dann hörte er den Schrei.
Den Schrei eines Babys? Oder war es etwas anderes?
Byrne trat in die Einfahrt und versuchte festzustellen, woher der Schrei gekommen war, als er den dritten Schlag hörte, und dieses Mal war er ziemlich laut. Es folgte sofort ein noch lauterer Schrei.
Byrne trat auf das Blumenbeet neben dem Haus.
Dort in den Sträuchern, nur ein paar Schritte entfernt, entdeckte er eine Katze. Oder vielmehr sah es aus der Entfernung so aus, als wäre es eine Katze gewesen. Mehrere Steine waren ihr auf den Kopf gefallen. Jetzt lag sie ausgestreckt auf dem Mulch unter dem Spierstrauch.
Die Steine wären vermutlich Byrne auf den Kopf gefallen, hätte er sich nicht in die Einfahrt gestellt. Er trat ein Stück zurück und brachte sich rasch in Sicherheit, als erneut ein paar Steine vom Dach prasselten.
Der Schornstein stürzte ein.
Byrne ging zu der Katze und nahm vorsichtig die Steine weg. Das Tier war offenbar tot.
»Scheiße.«
Er sah sich nach etwas um, womit er die Katze bedecken konnte. Kurz entschlossen holte er eine kleine Plane aus dem Kofferraum seines Wagens. Als Byrne sie auf die Katze legen wollte, schlug sie die Augen auf. Sie streckte alle vier Pfoten aus, fuhr die Krallen aus und machte sich zum Angriff bereit.
»Wie geht es ihr?«
Byrne hatte einen Freund beim Tierschutzverein angerufen und erfahren, wo der nächste Tierarzt seine Praxis hatte.
Nun blickte der Tierarzt ihn von der Seite an. »Den Umständen entsprechend. Sie hat eine Gehirnerschütterung.«
»Katzen können eine Gehirnerschütterung bekommen?« Byrne hatte beschlossen, dem Tierarzt nicht anzuvertrauen, wie es zu der Begegnung zwischen ihm und dem Tier gekommen war.
»Natürlich. Katzen haben ein Gehirn wie wir Menschen, nur funktioniert es bei manchen Katzen besser als bei vielen von uns.«
»Punkt für Sie«, sagte Byrne. »Wird sie sich wieder erholen?«
»Ich nehme es an.«
Zehn Minuten später fuhr Byrne die Auffahrt zu seiner Garage hinauf und warf einen Blick auf die Katze. Sie sah noch ein bisschen mitgenommen aus. Vielleicht fragte sie sich, wer sie mit Steinen beworfen hatte.
»Ich war es nicht, mein Freund«, sagte Byrne.
Als er die Tür öffnete, sprang die Katze aus dem Auto und folgte ihm. Er holte zwei Pappbecher und eine Flasche Jameson aus der Küche, ging damit auf die Veranda und goss einen winzigen Schluck Whiskey in einen Becher.
»Hier«, sagte er zu der Katze und hielt ihr den Becher hin. »Trink einen mit.«
Die Katze, die auf der Veranda lag, sprang hoch und schnüffelte. Byrne stellte den Becher ab und schob ihn dem Tier zu.
»Das ist bestimmt aus tausend Gründen falsch, aber wenn heute jemand einen kleinen Schluck Whiskey verdient hat, dann du.«
Byrne goss sich ebenfalls einen Whiskey ein und stieß mit dem Becher der Katze an. Beide tranken einen Schluck. Die Katze schaute Byrne an. Keine Reaktion. Keine Katzen-Grimasse. Byrne fragte sich, ob das Tier schon mal Alkohol getrunken hatte.
Ein paar Minuten später stellte er sich in die Einfahrt und schaute hinauf zum Schornstein. Der Mörtel, mit dem die Ritzen zwischen den Ziegelsteinen verfugt waren, war so stark zerbröselt, dass die Steine sich gelockert hatten und der Mörtel jetzt auf den Dachziegeln lag.
Byrne nahm die Katze auf den Arm und zeigte auf den Schornstein, um ihr alles zu erklären, doch die Katze interessierte es nicht.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide uns noch einmal begegnen, ist nicht sehr groß, aber falls doch, nenne ich dich Tuck.« Byrne stellte die Katze dorthin, wo er sie gefunden hatte. Anfangs machte es ihr Probleme, sich auf den Beinen zu halten, aber es dauerte nicht lange, dann warf die Katze Byrne einen Blick zu und flitzte mit einer Geschwindigkeit davon, die Byrne ihr angesichts der Gehirnerschütterung durch den Steinschlag und den Schluck irischen Whiskey gar nicht zugetraut hätte.
»Tja dann, Tuck«, sagte Byrne. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Die nächste Runde geht auf dich.«