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Als Jessica den Parkplatz hinter dem Roundhouse überquerte, war sie so tief in Gedanken versunken, dass sie beinahe mit einem Mann zusammenprallte.

Sie war früh aufgestanden, hatte sich um die Kinder gekümmert, damit sie rechtzeitig zur Schule kamen, hatte Frühstück für sich und Vincent gemacht und es sogar geschafft, vor sieben Uhr fünf Kilometer zu joggen. Als sie zur Arbeit fuhr, trug sie noch ihre Sportkleidung.

»Oh, tut mir leid«, sagte sie nun und trat zurück. Als sie den Mann anschaute, kam es ihr vor wie ein Déjà-vu. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, diesen Mann in einer anderen Situation, in einem anderen Leben schon einmal gesehen zu haben.

»Hallo, Detective«, sagte er.

Als er lächelte, erkannte Jessica ihn wieder. Es war Special Agent Terry Cahill vom FBI.

»Terry! Meine Güte, wie lange ist das her?«

Er lächelte. »Ziemlich lange.«

Jessica umarmte ihn. Das war nicht professionell, aber sie mochte Terry. Außerdem arbeiteten sie nicht bei derselben Behörde.

Agent Terry Cahill arbeitete im FBI-Büro in Philadelphia. Seine Dienststelle hatte im Laufe der Jahre, wenn es um aufsehenerregende Fälle ging, häufig mit dem Philadelphia Police Department zusammengearbeitet, oft mit dem Drogendezernat und der Abteilung für Autodiebstahl, aber genauso oft mit der Mordkommission. Wenn eine Leiche jenseits der Staatsgrenzen auftauchte oder jemand gekidnappt wurde, bot das FBI Unterstützung an. Oft war es gar kein Angebot, sondern eine Bitte der obersten Bosse des PPD.

Jessica und Byrne – im Grunde das gesamte PPD – hatten vor ein paar Jahren gemeinsam mit Terry Cahill und dessen Kollegen einen Verbrecher übelster Sorte zur Strecke gebracht, der als »Zauberer« bezeichnet wurde. Cahill war damals verletzt worden, aber davon war nichts mehr zu spüren. Er sah großartig aus.

»Sie sind ja richtig braun gebrannt«, sagte Jessica.

»Ich habe auch hart daran gearbeitet«, erwiderte Terry.

»Sind Sie ins Büro in Miami versetzt worden?«

»Nein, im letzten Jahr habe ich mit dem Konsulat in Mexico City zusammengearbeitet. Die Mafia hält uns ganz schön auf Trab. Aber jetzt bin ich wieder in Philadelphia und bleibe hier.«

»Hola und bienvenido

»Gracias.«

»Was führt Sie in unsere bescheidene Hütte?«

»Ich habe da etwas, das Sie sich ansehen sollten.«

Jessica wartete auf weitere Informationen, aber sie kamen nicht. »Ich? Oder das gesamte Police Department?«

»Arbeiten Sie noch mit Kevin zusammen?«

»Fürs ganze Leben. Wir sind wie Tauben. Oder Katholiken.«

»Ich glaube, Sie sollten ihn anrufen.«

Die Fahrt zur Raststätte an der I-476 südlich der Kleinstadt Emmaus im Lehigh County dauerte etwas über eine Stunde. Jessica und Byrne schwiegen fast die ganze Zeit. Nachdem sie oder vielmehr das FBI weitere Beweise im Zusammenhang mit ihrer Mordserie gefunden hatten, mussten sie ihre Ermittlungen ausweiten.

Sie fuhren hinter Cahill her, der die ganze Strecke vorschriftsmäßig nicht schneller als sechzig Meilen pro Stunde fuhr.

Schließlich bog er von der Schnellstraße ab, fuhr Richtung Süden und erreichte kurz darauf den Parkplatz der Raststätte. Hier standen ein halbes Dutzend Sattelschlepper. Es gab auch eine Tankstelle, eine Dump-Station für Campingfahrzeuge und ein kleines Schnellrestaurant namens Dot’s.

Sie stiegen aus und streiften ihre Winterhandschuhe über. Cahill setzte eine Wollmütze auf. In der letzten Stunde war die Temperatur um mehrere Grad gesunken.

Cahill führte Jessica und Byrne ans Ende des Parkplatzes, wo ein Sattelschlepper stand. Er war nicht mehr in bestem Zustand, verfügte jedoch über eine Schlafkabine hinter dem Fahrerhaus.

Zwei Staatspolizisten aus Pennsylvania saßen in ihrem Wagen neben dem Sattelschlepper. Sie hatten den Motor laufen lassen, damit die Heizung arbeitete.

»Der Sattelschlepper stand schon ungefähr drei Wochen hier«, sagte Cahill. »Der Besitzer des Schnellrestaurants hat das Grundstück vom Commonwealth gemietet. Er wollte das Kennzeichen überprüfen lassen, um festzustellen, ob er den Besitzer kontaktieren kann, damit der Sattelschlepper vom Parkplatz verschwindet, aber er hat keine Nummernschilder.«

»Ist so was schon mal vorgekommen?«

Cahill schüttelte den Kopf. »Normalerweise stellt keiner so einen Sattelschlepper einfach irgendwo ab. Nicht wie einen verrosteten Pkw. Sogar ein Sattelschlepper in diesem Zustand bringt noch locker achtzigtausend.«

»Wann hat der Mann vom Schnellrestaurant Verdacht geschöpft?«, fragte Byrne.

»Gestern Abend wollte er sich den Truck genauer ansehen. Er hat die Tür geöffnet und bekam den Schreck seines Lebens.«

Cahill öffnete die Tür des Fahrerhauses.

»Lenkrad und Türgriff waren voller Blut. Die Spurensicherung sagt, dass eine Blutspur auch zu dem Weg führte, aber die Blutmenge reichte nicht, um zu untersuchen, ob es übereinstimmt.«

Cahill ging zu seinem Wagen, griff hinein und nahm einen großen Umschlag heraus. Er öffnete ihn, zog ein Blatt heraus und reichte es Byrne.

Als Jessica auf die Fotokopie schaute, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Dieser Ort war über vierzig Meilen von den anderen Tatorten entfernt.

Das Datum stimmte mit Nicole Solomons Ermordung überein.

EINLADUNG!
WIR SEHEN UNS BEI UNSEREM THÉ DANSANT
AM 16. NOVEMBER!

»Die Ermittlungsergebnisse über Ihre laufenden Fälle standen auf unseren sicheren Seiten. Als die Staatspolizei sich eingeloggt und die Informationen eingegeben hat, schrillten bei denen die Alarmglocken«, sagte Cahill. »Die Staatspolizei hat uns angerufen, und wir haben Sie angerufen.«

»Vielen Dank«, sagte Byrne.

»Sieht wie dieselbe Handschrift aus«, meinte Cahill.

Er erklärte Jessica und Byrne, er habe Kopien zur Dokumentenabteilung des FBI in Quantico geschickt. Deren Datenbanken waren viel umfangreicher als die jeder städtischen Polizeibehörde. Außerdem standen ihnen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung.

»Wir lassen das von unserem Spezialisten überprüfen, aber es sieht tatsächlich wie dieselbe Handschrift aus«, sagte Byrne und hielt die Fotokopie ins Licht. »Wo wurde das gefunden?«

»Hinter der Sonnenblende auf der Fahrerseite.« Cahill klappte die Blende herunter. Auf der Rückseite war ein fleckiger, billiger Spiegel, hinter dem eine Karte mit einem Firmenlogo steckte, einer Zunge, die aus dem Heck eines Sattelschleppers herausgestreckt wurde. Unter dem Logo stand: Rolling Stoned, LLC.

»Rolling Stoned«, murmelte Byrne.

»Wir sind an der Sache dran«, sagte Cahill.

»Und der Truck war nicht verschlossen?«, wollte Byrne wissen.

»Nein.«

Jessica sah das schwarze Pulver auf der Sonnenblende. Also war der Truck bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden.

»Der Besitzer des Schnellrestaurants heißt Richard Kendall«, fuhr Cahill fort. »Nachdem er das Blut auf der Tür und dem Sitz gesehen hatte, rief er die Staatspolizei. Als die nach zehn Minuten noch nicht da waren, konnte er seine Neugier nicht mehr zügeln und ging den Weg da drüben runter. Der Schnee war zum Teil geschmolzen, deshalb fand er die Leichen.«

»Wie lange lagen sie schon da?«, fragte Byrne.

»Ungefähr drei Wochen, meint unser Rechtsmediziner.«

»Können Sie uns zeigen, wo genau sie lagen?«

Sie überquerten den Parkplatz und drangen in den Wald ein. Der Pfad war etwa einen Meter breit und nicht gepflastert – ein ausgetretener Waldweg.

»Ist da hinten etwas?«, fragte Jessica und zeigte zum Ende des Weges.

»Ein Gasthaus, das nicht zum Stadtgebiet gehört«, sagte Cahill. »Da bekommt man Bier. Im Umkreis von einer Meile um die Raststätten ist der Verkauf von Alkohol verboten, aber das gilt nur für Lokalitäten desselben Stadtgebiets.«

Ein Bereich von ungefähr fünfzehn mal fünfzehn Metern, wo man die Leichen gefunden hatte, war mit gelbem Flatterband abgesperrt.

Cahill zeigte den beiden Detectives die Fotos vom Tatort. Es waren grässliche Aufnahmen. Die tote Frau war Mitte oder Ende vierzig. Sie trug keine Bluse, sondern ein kurzes Jeanshemd und eine Jacke. Ihr Gesicht war stark verbrannt. Sie hatte keine Augen mehr.

»Weiß man, wer die Frau ist?«, fragte Byrne.

Cahill schaute in seine Notizen. »Deirdre Emily Reese, sechsundvierzig, wohnhaft in Richlandtown. Wir haben mit dem Geschäftsführer des Gasthauses gesprochen. Miss Reese wurde dort am Abend des neunten November in Gesellschaft des anderen Opfers gesehen.«

»Vielleicht ist die Frage jetzt taktlos, aber ich würde gern wissen, ob sie Prostituierte war«, sagte Byrne.

»Der Barkeeper sagt ja. Er meinte aber, dass er sie vor diesem Abend Anfang November fast ein Jahr nicht gesehen hatte. Ich habe die Frau überprüft und herausgefunden, dass sie neun Monate wegen Prostitution und Drogenbesitzes im Gefängnis saß. Sie wurde erst im Oktober entlassen.«

»Was ist mit dem anderen Opfer?«

»Der Mann hatte keine Papiere bei sich. Im Truck haben wir auch keine gefunden. Wir überprüfen die Fahrzeugidentifikationsnummer.«

»Wo sind die Leichen jetzt?«

»In der Rechtsmedizin des Countys. Aus Quantico ist ein Team von Experten mit dem entsprechenden Equipment unterwegs. Das County ist nicht richtig ausgestattet, um bei Leichen in diesem Zustand eine Autopsie vorzunehmen.«

Jessica schaute noch einmal auf die Fotos. Vom Gesicht des Mannes war fast nichts mehr zu erkennen. Mehrere Tiere hatten an ihm genagt. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass der Mörder die Arme und Beine des Mannes vom Körper abgetrennt und ordentlich neben dem Leichnam aufgestapelt hatte.

Jessica zeigte auf das Foto. »Kann man schon sagen, womit die Glieder abgetrennt wurden?«

»Der Rechtsmediziner meint, mit einer Axt oder vielleicht einer Machete«, antwortete Cahill.

»Hübsch«, sagte Jessica und hielt die Fotos hoch. »Können wir Kopien davon haben?«

»Das sind Ihre Kopien.«

»Rufen Sie uns an, sobald Sie den Toten identifizieren konnten«, sagte Byrne. »Wir versuchen ebenfalls etwas herauszubekommen.«

»Mach ich«, versprach Cahill.

»Danke, Terry«, sagte Jessica. »Lassen Sie sich mal wieder im Roundhouse blicken.«

»Auf jeden Fall. Passen Sie auf sich auf.«

Sie hatten den Motor bereits angelassen und saßen einen Augenblick schweigend im Auto.

»Rolling Stoned, LLC«, sagte Jessica.

Byrne hielt es nicht für notwendig, zu sagen, was sie beide wussten. »Sollen wir zuerst anrufen oder zuerst nach Shawmont fahren?«

»Wir rufen ihn an«, sagte Jessica. »Das sind wir ihm schuldig.«

»Ich sag Terry Bescheid.«

Während Byrne ausstieg und den Parkplatz überquerte, suchte Jessica die Visitenkarte in ihrer Tasche. Sie nahm ihr iPhone heraus und rief Detective Jack Paris in der Mordkommission des Cleveland Police Departments an.

Sie hatten Ezekiel Moss gefunden.

Jessica und Maria Caruso standen auf dem Bahnsteig und starrten in den dunklen Wald rings um sie herum. Weil Byrne heute seine Familie zum Essen erwartete, hatte Maria sich einverstanden erklärt, zum Bahnhof in Shawmont zu kommen, um Jessica bei der Suche zu unterstützen.

Jessica hatte überlegt, weitere Detectives zu bitten, ihnen zu helfen, sich aber dagegen entschieden. Von diesem Ort ging keine Gefahr mehr aus. Jetzt nicht mehr.

Sie verließen den Bahnsteig und bewegten sich hinein in die Dunkelheit. Es war schwierig, sich einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. Als Jessica vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte, hörte sie Tiere durch die Düsternis huschen. Eichhörnchen oder Kaninchen. Sie drehte sich immer wieder um, warf einen Blick auf den Bahnsteig.

Gerade als Jessica zwanzig Minuten später die Suche aufgeben wollte, um sie am nächsten Tag fortzusetzen, stieß sie mit dem Stiefel gegen irgendeinen Gegenstand.

Sie hockte sich hin, strich mit den Händen die oberste Schicht Erde weg und sah, was es war.

Auf dem Boden lag eine Puppe, die Ezekiel Moss ähnelte.

Neben ihr waren abgetrennte Puppenarme und -beine aufgestapelt.

Tanz der Toten
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