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Von allen Leuten, die sich sein neues Haus ansehen würden – viele waren es nicht –, fürchtete Byrne sich besonders vor dem Urteil seiner Tochter Colleen. Als sie in ihrem Kia Rio 5 in die Einfahrt fuhr, trat Byrne hinaus auf die Veranda. Colleen hatte den Wagen von ihrem eigenen Geld gekauft, obwohl Byrne angeboten hatte, ihn zu bezahlen.
Er hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Durch die Windschutzscheibe konnte er Colleens Gesicht sehen. Wie bei vielen Gehörlosen war die Mimik seiner Tochter, die von Geburt an gehörlos war, ein wichtiger Teil der Kommunikation.
»Oh Dad, ist das schön«, gab Colleen ihm zu verstehen.
Byrne war unsagbar erleichtert. »Danke, mein Schatz«, gestikulierte er. »Es wird allmählich.«
Seit Byrne das Haus gekauft hatte, hatte er sich angewöhnt, »Es wird so langsam« zu sagen, wenn Leute sich positiv zu seiner neuen Bleibe äußerten. Falls das Haus ihm in zwanzig Jahren noch immer gehörte und er alle Böden, Türen, Armaturen, Einbauschränke und elektrischen Leitungen erneuert hatte, würde er vermutlich noch immer dasselbe sagen.
Colleen öffnete den Kofferraum ihres Wagens und nahm eine große, prachtvolle Grünpflanze heraus. Um den Keramiktopf war ein rotes Band mit Schleife gebunden. Colleen schloss den Kofferraum und ging den Weg hinunter.
Byrne lächelte. »Du weißt, dass du gerade das Todesurteil für die Pflanze unterschrieben hast, oder?«
Colleen lächelte ebenfalls. »Ich prophezeie dir, dass das Berufungsverfahren viele Jahre dauern wird.«
Die junge Frau studierte Wirtschaftswissenschaften an der Gallaudet University. Es war die erste und beste Universität im Lande für Gehörlose und Studenten mit vermindertem Hörvermögen. Doch als Tochter eines Polizisten kannte Colleen die Herausforderungen in Byrnes Job, die Fachbegriffe und die Scherze, die Cops gern machten.
Byrne nahm Colleen die Pflanze ab und stellte sie auf die Veranda. Dann umarmten sich Vater und Tochter. Byrne freute sich wahnsinnig. Er hatte Colleen ein paar Monate nicht gesehen und war beinahe zu Tränen gerührt. Das passierte ihm in letzter Zeit häufiger.
Er lehnte sich zurück, musterte seine Tochter mit ihren hübschen blauen Augen.
»Ich habe dich vermisst«, sagte er laut. Diese Bemerkung brauchte er nicht in Gebärdensprache zu übersetzen.
Colleen lächelte. Byrne sah, dass sie feuchte Augen bekam.
»Was ist los?«, fragte er.
Die junge Frau schüttelte den Kopf und umarmte ihn noch einmal. Kaum hatte sie sich aus der Umarmung gelöst, drehten sich beide zur anderen Seite der Veranda um, wo sich etwas bewegt hatte.
Es war Tuck. Die Katze saß da, als gehörte ihr dieser Platz. Vielleicht war es tatsächlich so.
Colleen strahlte. »Ist das deine?«
»Ich weiß nicht«, gab Byrne ihr zu verstehen und erzählte ihr von der ersten Begegnung mit dem Tier.
»Und die Katze mag dich noch immer, obwohl du ihr mit den Steinen den Schädel eingeschlagen hast?«, fragte Colleen.
»Die Geschworenen haben das Urteil noch nicht gesprochen. Außerdem, wenn die Katze wüsste, dass ich beim Tierarzt zweihundertsechzig Dollar bezahlt habe, könnte sie ein bisschen dankbarer sein.«
Als Tuck auf die Brüstung sprang und sich streckte, sahen sie, was das Tier versteckt hatte: Es hatte zwei tote Mäuse wie ein Geschenk unter die Fensterbank gelegt.
Ein ehemaliger Kollege, mit dem Paddy Byrne damals am Hafen zusammengearbeitet hatte, brachte ihn mit dem Wagen bei seinem Sohn vorbei. Mit einem Sixpack Lagerbier in der Hand stieg Paddy aus.
Jetzt saß Byrne mit seinen engsten Familienangehörigen am kleinen Tisch in der großen Küche. Es gab Essen aus einem indischen Mitnahme-Restaurant. Byrne hatte noch nie Chicken Tikka Masala gegessen. Colleen langte ordentlich zu, als hätte sie seit Tagen nichts in den Magen bekommen. Byrne konnte sie verstehen. Es schmeckte hervorragend.
Während des Essens hob Paddy Byrne, der schon ein bisschen angeheitert war, seine Flasche Bier. »Ich trinke darauf, dass wir noch viele Jahre und sehr oft in dieser Runde zusammensitzen«, sagte er. »Sláinte chuig na fir, agus go mairfidh na mná go deo.«
Die drei stießen miteinander an.
Den Trinkspruch brauchten sie für Colleen nicht in die Gebärdensprache zu übersetzen: »Mögen die Männer gesund bleiben und die Frauen ewig leben.« Es war der einzige Trinkspruch ihres Großvaters.
Als Colleen das Geschirr spülte, holte Byrne ein neues Sixpack für sich und seinen Vater. Dann setzte er sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Paddy ließ sich in den Lehnsessel sinken, das einzige Möbelstück im Wohnzimmer.
Nach ein paar Minuten des Schweigens sagte Paddy: »So ein Haus hat deine Mutter sich immer gewünscht.«
Da Paddy Byrne früher Hafenarbeiter gewesen war, hatten sie in verschiedenen kleinen Wohnungen der Nähe von Pennsport gewohnt, als Byrne aufgewachsen war. Byrne erinnerte sich gut, dass sie nie genug Platz gehabt hatten.
»Weißt du, ich habe dich nie gefragt …«, begann er, verstummte dann aber.
»Was gefragt?«
»Wie ihr euch kennengelernt habt.«
»Ich und deine Mutter?«
Byrne nickte. »Ich verstehe gar nicht, warum ich es nicht weiß. Erinnerst du dich, als du sie das erste Mal gesehen hast?«
»Das werde ich nie vergessen.«
Byrne öffnete die nächste Flasche Bier und reichte sie seinem Vater. Er ließ ihm einen Moment Zeit, um sich die erste Begegnung in Erinnerung zu rufen. Byrne war achtunddreißig Jahre alt gewesen, als seine Mutter an Krebs gestorben war. Er und sein Vater hatten nie richtig darüber gesprochen, und sie würden es wohl auch nie. Trotz ihrer Leidenschaft und ihres ungestümen Temperaments trauerten die Iren lieber für sich allein.
»Ich war zwanzig«, begann Paddy. »Damals arbeitete ich mit deinem Onkel Michael an Pier zweiundachtzig. Mit Davys Vater.«
Byrne lächelte. »Ich weiß, wer Onkel Mike ist.«
Paddy funkelte ihn an. »Soll ich weitererzählen oder nicht?«
Byrne tippte auf den Flaschenhals, was bedeutete: Tut mir leid. Erzähl weiter.
»Jedenfalls arbeiteten wir am Pier zweiundachtzig. Das war, bevor der Packer Avenue Terminal gebaut wurde. Wir gingen immer in diese kleine Kneipe drüben in der West Oregon Avenue. Sie hieß Katie’s. Das Essen schmeckte furchtbar, aber das Bier war immer kalt.« Er trank einen Schluck. »Jedenfalls war da dieses kleine Bekleidungsgeschäft auf der anderen Straßenseite. Jeden Tag, wenn wir in die Kneipe gingen – so gegen halb sechs –, bereiteten sich die Mädels in dem Laden auf ihren Feierabend um sechs Uhr vor. Wir gingen drei Jahre lang in diese Kneipe, und ich hatte mich nie für dieses Bekleidungsgeschäft interessiert.«
Byrne hörte ihm zu.
»Als ich eines Tages im Katie’s sitze und in den Daily News blättere, werfe ich einen Blick auf die andere Straßenseite und sehe, dass diese Frau den Laden abschließt. Ich hab sie nur von hinten gesehen, verstehst du? Sie hatte wunderschönes rotblondes Haar. Und sie trug diesen hübschen roten Mantel.«
»Ich erinnere mich an den Mantel«, sagte Byrne lächelnd.
»Ich musste ständig an sie denken. Ein paar Tage später sitze ich am Fenster und sehe rechts von mir einen Schatten. Als ich den Blick hebe, steht sie da. Nie zuvor hatte ich eine schönere Frau gesehen. Sie stand da in diesem roten Mantel auf dem Bürgersteig und benutzte die Fensterfront des Katie’s als Spiegel, als sie den Lippenstift auftrug.«
»Und du bist rausgegangen und hast sie angesprochen?«
Paddy schüttelte den Kopf. »Ich hätte kein Wort herausbekommen. Wie du bestimmt weißt, spielte sie in einer ganz anderen Liga als ich, Junge, und ob du’s glaubst oder nicht, damals war ich nicht besonders gut im Flirten.«
»Kaum zu glauben.«
»In den nächsten drei Monaten lief ich ständig auf dem Bürgersteig vor dem Bekleidungsgeschäft auf und ab und versuchte den Mut aufzubringen, sie anzusprechen. Schließlich habe ich’s getan.«
»Hat sie sofort ja gesagt, als du sie gefragt hast, ob sie mit dir ausgeht?«
Paddy lächelte. »Ja, hat sie. Sie hatte sich schon lange gefragt, wann der verrückte Mann, der die Straße ständig rauf und runter lief, endlich das Geschäft betreten und sie ansprechen würde. Sie hat mir auch erzählt, dass sie sich schon gefragt hätte, ob es eine gute Idee gewesen war, genau vor dem Fenster, an dem ich saß, ihren Lippenstift aufzutragen.«
Byrne lächelte und schaute aus dem Fenster.
Zweimal im Jahr, irgendwann im Frühling und im Spätherbst, war in Philadelphia das Licht der Dämmerung perfekt. Heute war einer dieser Abende. Vielleicht war es aber auch nur das Lagerbier und dieser Augenblick mit seinem Vater.
»Manchmal sehe ich ihr Gesicht«, sagte Paddy.
Byrne rechnete damit, dass sein Vater noch etwas hinzufügte, aber er tat es nicht. »Wie meinst du das?«, fragte er.
»Wenn ich dich anschaue, sehe ich das Gesicht deiner Mutter. Nicht immer, aber manchmal.«
Byrne erwiderte nichts.
»Du hast diesen Blick, wenn etwas nicht so läuft, wie du es dir vorgestellt hast«, sagte Paddy. »Deine Mutter hat dann genauso geguckt. Immer wenn ich diesen Blick sah, wusste ich, dass ich in Schwierigkeiten stecke.«
»Ich erinnere mich, dass du oft in Schwierigkeiten gesteckt hast.«
»Stimmt.« Paddy trank einen Schluck Bier. »Siehst du auch Donnas Gesicht, wenn du Colleen anschaust?«
Ständig, dachte Byrne. »Ja«, sagte er. »Das tue ich.«
»Seltsam, nicht wahr?«
Nicht zum ersten Mal musste Byrne daran denken, dass er und sein Vater vermutlich die einzigen irisch-katholischen Männer in Philadelphia waren – vielleicht sogar in der ganzen Welt –, die nur ein Kind hatten. Paddy Byrne liebäugelte noch immer mit dem Gedanken, dass sein Sohn eines Tages eine andere Frau kennenlernen, sie heiraten und noch ein paar Kinder bekommen würde. In Paddy Byrnes Augen blieb Kevin offenbar für alle Zeiten fünfundzwanzig.
Byrne stand auf. »Einen Whiskey, Dad?«
»Okay«, sagte Paddy. »Einen kleinen vielleicht.«
Byrne holte die Flasche Black Bush, die er in die Besenkammer neben dem Vorratsraum gestellt hatte.
In dem Moment, als er die Tür öffnete – er wollte die Vase mit den gelben Blumen nicht hinunterwerfen –, wusste er, dass in dieser Kammer einst jemand eingesperrt worden war.
Byrne strich über den Messingschlüssel in seiner Hosentasche.
Er fühlte sich an wie ein Talisman.