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Am letzten Apriltag hielt sich Nancy Brisbane seit zwei Wochen in diesem Haus auf. Thaddeus Woodman war schon einen Tag länger hier als sie.
Nancy war ein verwöhntes kleines Mädchen, das nie mit irgendetwas zufrieden war. Egal, was Valerie dem Mädchen zu essen machte – Frühstück, Mittagessen, Abendessen, sogar einen leckeren Snack am späten Abend –, Nancy stocherte im Essen herum, warf es manchmal sogar auf den Boden. Im Grunde hatte sie die zwei Wochen, die sie nun hier war, nur geweint. Selbst wenn Valerie eine Schallplatte für sie auflegte, begeisterte Nancy sich nicht für den Song und ließ nicht zu, dass die Musik sie aufmunterte.
Thaddeus schien das genaue Gegenteil zu sein. Er war ein ruhiger, höflicher Junge. Ein paar Stunden, nachdem er vermisst worden war – er wohnte nur drei Straßen weiter –, war die Polizei erschienen und hatte Fragen gestellt. Ein junger und ein älterer, wesentlich erfahrenerer Cop waren durch den strömenden Regen zum Haus gekommen.
»Was kann ich für Sie tun?«, hatte Valerie gefragt.
Der jüngere Polizist hatte mit dem Finger gegen den Schirm seiner Dienstmütze getippt. Valerie gefiel sein höfliches Auftreten. Die Mütze des Cops wurde von einer durchsichtigen Regenhaube bedeckt. »Verzeihen Sie die Störung, Ma’am. Wir suchen einen Jungen.«
»Einen Jungen?«
»Ja, Ma’am. Er heißt Thaddeus Woodman, sechs Jahre alt. Kennen Sie ihn vielleicht?«
Valerie bemühte sich, den Polizisten mit einer Miene anzuschauen, die erkennen ließ, dass sie nachdachte. Sie war keine Schauspielerin; deshalb war sie sicher, dass die Cops sie durchschauten, vor allem der ältere, der sie ein wenig misstrauisch musterte. Aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. »Würden Sie den Namen bitte wiederholen?«
»Thaddeus«, sagte der jüngere Cop. »Thaddeus Woodman.«
»Hmmm. Ich glaube, ich kenne ihn nicht. Er wohnt hier in der Nachbarschaft?«
»Ja.«
»Ach du meine Güte!«, rief Valerie. »Wie unhöflich von mir. Sie müssen doch nicht im Regen stehen! Möchten Sie hereinkommen?«
Valerie hörte ein Klopfgeräusch im Haus. Es kam aus dem verschlossenen Raum im ersten Stock. Vermutlich diese Nancy Brisbane. Sobald sie das Gefühl hatte, vernachlässigt zu werden – und das war fast immer der Fall –, stampfte sie mit den Füßen auf.
Valerie musterte die beiden Polizisten. Sie schienen nichts zu hören. Vielleicht übertönten die vorbeifahrenden Autos das Geräusch.
»Nein, Ma’am«, sagte der jüngere Cop. »Vielen Dank.« Er zeigte ihr ein Foto, das in einer Plastikhülle steckte.
»Darf ich?«, fragte Valerie.
»Bitte.«
Valerie nahm das Foto in die Hand und betrachtete es aufmerksam. Es war eine Aufnahme von Thaddeus aus der Schule. Auf dem Bild trug er ein weißes Hemd und eine schmale schwarze Krawatte. Seine Mutter hatte es irgendwie geschafft, seine Schmachtlocke zu zähmen. »Das ist der Junge, der vermisst wird?«
»Ja, Ma’am.«
Valerie betrachtete das Bild noch eine Weile, ehe sie es dem Polizisten zurückgab. »Tut mir leid. Den habe ich nicht gesehen.«
Der junge Cop steckte das Bild ein und zog einen kleinen Notizblock aus der Tasche.
»Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen, Ma’am?«
»Valerie. Valerie Beckert.«
Er schrieb es sich auf. »Hat hier nicht früher jemand anders gewohnt?«
Das Klopfen wurde lauter. Valerie war sicher, dass der ältere Polizist darauf reagierte. Tatsächlich warf er einen Blick über ihre Schulter und spähte in den dunklen Eingangsbereich.
»Sie meinen sicher meine Tante Josephine«, antwortete Valerie auf die Bemerkung des Cops. »Sie ist vor Kurzem gestorben.«
»Das tut mir leid.« Der Polizist reichte ihr seine Karte. »Ich bin Officer Cooper. Meine Telefonnummer steht auf der Karte. Es wäre nett, wenn Sie mich anrufen, falls Sie Thaddeus sehen.«
Valerie nahm die Karte entgegen. »Glauben Sie, es ist alles in Ordnung mit ihm?«
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte der Cop. »Er spielt bestimmt mit Freunden und hat nicht auf die Zeit geachtet. Sie wissen ja, wie Kinder sind.«
Oh ja, dachte Valerie, das weiß ich.
»Ich werde immer mal wieder aus dem Fenster schauen«, versprach sie. »Wenn ich etwas sehe, rufe ich auf jeden Fall an.«
Als Valerie den beiden Polizisten kurz darauf hinterherschaute, als sie den Weg hinuntergingen, hörte sie, dass Nancy Brisbane wieder auf den Boden stampfte. Valerie wollte ihr böse sein, aber das konnte sie nicht.
Obwohl es gleich Abendessen gab, ging sie in die Küche und backte eine große Portion Haferkekse mit Rosinen.