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Zwanzig Minuten später war das Gespräch mit Captain John Ross und ihrer unmittelbaren Vorgesetzten Dana Westbrook zu Ende, und Jessica verließ Ross’ Büro. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen. Zugleich hätte sie am liebsten ihre Sachen gepackt und das Gebäude verlassen – einen Wunsch, der ihr bisher fremd gewesen war.

Sie schaute sich nach einem freien Schreibtisch um. Die Detectives der Mordkommission hatten keine eigenen Schreibtische. Die neunzig Beamten des Departments, die hier sieben Tage die Woche in drei Schichten arbeiteten, mussten sich die Schreibtische und Computer teilen. Außerdem war jedem Detective eine Schublade in einem Aktenschrank zugewiesen, in die er seine Dienstwaffe legen sollte, während er sich im Büro aufhielt. Das war sinnvoll, denn durch diesen Raum gingen häufig unangenehme Zeitgenossen, von denen viele noch keine Handschellen trugen. Doch nur wenige Detectives hielten sich an diese Regel.

Als Jessica um die Ecke bog, wusste sie sofort, welcher Schreibtisch heute ihrer war. An beiden Seiten hing ein großer, mit Gas gefüllter Folienballon. Auf der Schreibtischplatte stand ein Pappteller mit einem Plunderteilchen, auf dem eine winzige Kerze brannte. Jessica schaute auf die Beschriftung der roten Ballons:

Hals- und Beinbruch!
Zeig ihnen, was eine Harke ist!

Hinter dem Schreibtisch stand ihr Partner Kevin Byrne, zwei große Kaffeebecher in den Händen.

Sie suchten sich eine ruhige Ecke im Großraumbüro, was jedes Mal eine gewisse Herausforderung darstellte. Unter anderem, weil das Büro halbrund war, wie fast alle Räume im Roundhouse. In einer Welt rechteckiger Schreibtische und Aktenschränke keine besonders glorreiche Idee.

Jessica erzählte Byrne von ihrer Entscheidung, die Anwaltsprüfung später abzulegen. Zum Glück gelang es ihr dabei, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Wann hast du das beschlossen?«, fragte Byrne.

Jessica schaute auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde.«

»Hast du schon mit dem Captain gesprochen?«

Jessica nickte. »Alle sind einverstanden.«

Byrne schaute aus dem Fenster. Es war ein schöner Herbsttag. Die Blätter an den Bäumen im Park auf der anderen Straßenseite hatten sich bunt gefärbt. »Wie kommt’s? Ich dachte, es wäre schon alles geregelt.«

Jessica zuckte die Schultern. Dachte ich auch. Alle Kollegen hatten damit gerechnet, dass sie heute ihre wenigen Sachen abholen und sich verabschieden würde.

Jessica wollte ihrem Partner gerade alles erklären, als Dana Westbrook das Büro durchquerte. Sie hielt ein Blatt Papier in der Hand und machte ein grimmiges Gesicht. Jessica und Byrne ahnten, was auf sie zukam.

»Wir reden später darüber«, sagte Jessica.

Westbrook reichte Byrne das Formular.

In Philadelphia war wieder ein Mord verübt worden, und die Detectives Byrne und Balzano würden die Ermittlungen übernehmen.

»Das ist ein schlimmer Fall«, sagte Westbrook. »Schnappen Sie sich zwei Kollegen, und fahren Sie sofort los. Informieren Sie mich spätestens in einer Stunde über den Stand der Dinge.«

Als Jessica und Byrne ihre Jacken anzogen, schaute Jessica sehnsüchtig auf das Plunderteilchen. Die winzige Kerze war bereits abgebrannt. Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen, dachte Jessica und zeigte auf das Teilchen. »Kann ich das mitnehmen?«

Byrne zog ein paar Blätter von der Rolle Haushaltstücher, die an einer Seite eines Metallschreibtisches hing, nahm die Kerze von dem Teilchen und wickelte es ein. »In dieser Abteilung ist der komplette Service inbegriffen.«

Jessica lächelte. »Danke, Partner.«

Auf dem Weg zu den Aufzügen fragte sie: »Ach, übrigens, wo hast du Folienballons gefunden, auf denen ›Hals- und Beinbruch!‹ und ›Zeig ihnen, was eine Harke ist!‹ steht?«

Byrne drückte auf den Knopf. »Ich bin Detective. Ich habe gute Beziehungen.«

Während sie auf den Aufzug warteten, stieß Jessica Byrne freundschaftlich in die Seite. »Hast du sie zufällig in dem netten kleinen Geschenkeshop in der Zweiten gekauft?«

Byrne hatte sich ein paar Mal mit einer Frau getroffen, die an der Ecke Zweite und Race einen Geschenkeshop besaß, der sehr auf Touristen ausgerichtet war. Die Beziehung hatte begonnen, als Byrne das Geschäft betreten hatte, um dort angeblich Stadtpläne von Philadelphia zu kaufen.

Sie stiegen in den Aufzug.

»Ich habe die Nase voll von Beziehungen«, sagte er.

»Ah, daher weht der Wind.«

»Das kannst du mir glauben. Ich bin ein Lorbeerblatt.«

Die Tür schloss sich. Jessica starrte Byrne an. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass noch etwas kam. Aber wann, wusste sie nie. Da Byrne nichts sagte, hakte sie nach.

»Was soll das heißen?«

Byrne zögerte einen Moment, ehe er antwortete. Er schaute auf die zerkratzten Wände des Aufzugs und las das Schild, auf dem die maximale Traglast angegeben war.

»Du kennst das doch sicher«, sagte er dann, »wenn man etwas kocht, und im Rezept steht, dass ein Lorbeerblatt hineinmuss, und du …«

Jessica hob eine Hand. »Moment mal. Du kochst?«

Byrne nickte.

»Seit wann?«

»Ein paar Gerichte hab ich drauf.«

»Zum Beispiel?«

»Kartoffel-Grünkohl-Eintopf.«

»Das ist ein irisches Gericht.«

»Wie bitte?«

Das war anscheinend die falsche Antwort. »Ich bin ein großer Fan von irischen Gerichten«, sagte Jessica schnell und versuchte, ihre Aussage zu relativieren. »Deshalb esse ich im Finnigan’s Wake immer Shepherd’s Pie.«

»Ich glaube, das ist ein traditionelles britisches Gericht, aber gut. Es stimmt.«

»Siehst du? Okay, weiter im Text.«

Byrne ließ sie ein paar Sekunden zappeln. »Jedenfalls steht in diesen Rezepten am Schluss: ›Nehmen Sie das Lorbeerblatt heraus.‹«

»Stimmt. Habe ich auch schon gelesen.«

»Genauso geht es mir. Der Meister der dreimonatigen Liebesbeziehungen. Wenn die Frauen die Nase voll haben von mir, rangieren sie mich aus. Ich bin ein menschliches Lorbeerblatt.«

Jessica versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, um nicht die Gefühle ihres Partners zu verletzen. Es gelang ihr nicht.

Tanz der Toten
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