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Die Justizvollzugsanstalt in Rockview lag in der Nähe von State College, Pennsylvania, ungefähr zweihundert Meilen nordöstlich von Philadelphia.
Das 1915 eröffnete Gefängnis war das einzige im Commonwealth of Pennsylvania, in dem die Todesstrafe vollstreckt wurde.
Das Männergefängnis selbst war eine Justizvollzugsanstalt mit mittleren Sicherheitsstandards. Beim Hinrichtungsraum hingegen, der sich außerhalb der Hauptgebäude des Gefängniskomplexes auf der ehemaligen Krankenstation befand und 1997 renoviert worden war, handelte es sich um eine Hochsicherheitseinrichtung.
Zwischen 1915 und 1962 wurde in Rockview bei dreihundertachtundvierzig Männern und zwei Frauen die Todesstrafe vollstreckt. Da es hier keinen Todestrakt gab, wurden die Gefangenen ein paar Tage vor der Vollstreckung des Urteils nach Rockview verlegt.
Als Marvin Skolnik, Valerie Beckerts ehemaliger Anwalt, erfuhr, dass die Polizei bei einem Gespräch mit Valerie möglicherweise wichtige Informationen erhalten könnte, rief er bei der Bezirksstaatsanwaltschaft in Philadelphia und bei der für den Osten Pennsylvanias zuständigen Bundesstaatsanwaltschaft an.
Dank seiner Bemühungen wurde dem Philadelphia Police Department ein fünfminütiges Gespräch mit der zum Tode verurteilten Frau bewilligt.
Da Rockview gut zweihundert Meilen von Philadelphia entfernt war, sollte das Gespräch per Videoschaltung geführt werden.
Als die Videoverbindung hergestellt war, blieben Valerie Beckert nur noch achtundzwanzig Stunden bis zu ihrer Hinrichtung.
Byrne saß an dem langen Tisch in der Videoüberwachungsabteilung. Vor ihm stand eine Kamera auf einem Stativ.
Auf dem riesigen Monitor vorne in dem großen Raum wurden Datum und Uhrzeit angezeigt. In der rechten oberen Ecke stand: Justizvollzugsanstalt Rockview. Rechts neben Byrne stand ein digitaler Kurzzeitmesser, der auf fünf Minuten eingestellt war.
Mehr als dreißig Polizisten hielten sich in dem Raum auf, waren aber nicht im Bild zu sehen. Dazu gehörten Jessica, Josh Bontrager, Maria Caruso, Dana Westbrook, Captain John Ross sowie Anwälte der Bezirksstaatsanwaltschaft.
Um Punkt zwanzig Uhr begann das Bild auf dem Monitor zu flackern, dann erschienen bunte Streifen. Wieder ein Flackern, dann sahen Byrne und die anderen die zum Tod Verurteilte.
Byrne hatte sie seit zehn Jahren nicht gesehen. Damals war sie eine zarte, blasse junge Frau von neunzehn Jahren gewesen. Sie war nicht sehr kooperativ gewesen, als Byrne sie im Verhörraum vernahm, und hatte seine Fragen nur einsilbig beantwortet. Dennoch hatte sie sich höflich und respektvoll gezeigt, was die meisten Leute von einer Mörderin, die einen vierjährigen Jungen erdrosselt hatte, nicht erwartet hätten.
Jetzt saß eine erwachsene Frau von neunundzwanzig Jahren vor Byrne. Sie hatte ein paar Pfund zugenommen, was kein Wunder war bei dem kohlehydratreichen Essen im Gefängnis. Ihr Haar war viel kürzer, und die Blässe von damals, die sie ein bisschen kränklich hatte aussehen lassen, war verschwunden. Valerie Beckert sah zwar nicht gerade aus wie das blühende Leben, aber immerhin gesund.
Ihre Augen fielen Byrne besonders auf. Er erkannte darin, dass sie sich in ihr Schicksal ergeben hatte.
Es waren die Augen einer Todgeweihten.
»Hallo, Detective«, sagte sie.
Jetzt erst wurde Byrne bewusst, dass Beckert ihn ebenfalls sehen konnte. Er hatte sich innerlich nicht darauf eingestellt und fragte sich, wie er auf sie wirkte.
»Hallo, Valerie.«
»Es ist zehn Jahre her«, sagte sie.
»Ja.«
Byrne wusste nicht, wie er beginnen sollte. Ein solches Gespräch hatte er noch nie geführt. Normalerweise macht man jemandem ein Kompliment zum Aussehen, fragt nach der Familie und der Arbeit, und ehe man auflegt, sagt man »bis bald« oder »bis demnächst«.
Nichts davon konnte Byrne in diesem Augenblick sagen. Die Frau, die dort saß, würde in weniger als achtundzwanzig Stunden tot sein. Es gab kein Später.
Außerdem wusste Byrne nicht, was Valerie Beckert über die Morde bekannt war, die in den vergangenen Wochen in Philadelphia verübt worden waren, und ob sie überhaupt etwas darüber wusste.
Es sei denn natürlich, sie steckte selbst dahinter.
»Immer wenn Papa eine neue Puppe im Brennofen brannte, konnte ich es hören«, sagte sie. »Ich habe gehört, dass sie geboren wurde.«
Byrne hätte sie am liebsten mit Fragen bombardiert, wollte sie aber nicht unterbrechen. Er schaute auf die Uhr. Es waren tatsächlich schon fast neunzig Sekunden vergangen.
»Immer wenn er versagt und eine unvollkommene Sauveterre angefertigt hatte, hörte ich es ebenfalls«, fügte sie hinzu. »Wenn das geschah, war die Hölle los. Oh ja, das kann ich Ihnen versichern. Dann wurde er jedes Mal fuchsteufelswild.«
»Valerie, ich muss …«
»Das bedeutete aber jedes Mal, dass ich eine neue Freundin bekam. Alle meine Freunde waren kaputte Puppen. Aber kaputt war ich auch.« Sie wandte eine Sekunde den Blick ab, schaute Byrne dann wieder an. »Auch Sie sind ein gebrochener Mann, nicht wahr, Detective? Ich habe es sofort bemerkt, als wir uns im Fairmount Park gesehen haben.«
Byrne wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er schaute auf die Uhr. Noch zweieinhalb Minuten. Er musste zur Sache kommen.
»Erzählen Sie mir etwas über Martin und Cassandra White, Valerie.«
Sie starrte ihn schweigend an.
»Martin und Cassandra. Wo sind sie, Valerie? Ich muss es wissen.«
»Sie stehen jetzt auf dem Regal. Oder vielmehr wird es bald der Fall sein. Und Sie können nichts dagegen tun.«
»Okay«, sagte Byrne. Er spürte, dass Wut in ihm aufstieg. »Wo finde ich dieses Regal?«
»Ich hätte mir viel mehr für sie gewünscht, aber ich glaube, man kann sie nicht mehr reparieren. Und die anderen? Nancy und Aaron? Thaddeus und Jason? Ich würde an Ihrer Stelle mit Mr. Lundby sprechen.«
»Wer ist Mr. Lundby?«, fragte Byrne. Er sah aus den Augenwinkeln, dass Josh Bontrager sich vor einen Laptop setzte und eine Suche nach dem Namen startete.
Valerie Beckert schwieg.
Ehe Byrne es verhindern konnte, sprang er auf.
»Martin und Cassandra White, Valerie! Wo zum Teufel sind sie?«
»Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise.«
»Sie haben sie gekidnappt, haben sie in Ihre kranke Welt gebracht. Und jetzt sind sie Mörder, Valerie. Genau wie Sie.«
Byrne wusste, dass er alles vermasselte. Sie hatte ihn geködert. Er hatte den Köder geschluckt, und jetzt verdarb er alles.
Er atmete tief ein und langsam aus. »Valerie, hören Sie mir bitte zu. Noch können Sie das Richtige tun. Helfen Sie mir, sie aufzuhalten.«
Die kostbaren Sekunden verstrichen.
»Ich habe von ihnen geträumt, Kevin.«
»Valerie!«
»Sagen Sie ihnen, dass ich sie liebe.«
»Das werde ich, Valerie. Ich verspreche es Ihnen. Sagen Sie mir, wo sie sind, dann werde ich ihnen alles sagen, worum Sie mich bitten. Sie haben mein Wort.«
»Sie sind die letzten Sauveterres. Sie sind die schönsten von allen.«
Byrne schaute auf die Uhr. Noch sechzig Sekunden. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er würde nie wieder Gelegenheit haben, mit Beckert zu sprechen. Er setzte sich wieder.
»Valerie, es ist nicht mehr viel Zeit. Vielleicht kann ich etwas für Sie tun.«
Das war eine Lüge, und das wusste sie ebenfalls. Byrne sah neben Beckerts Stuhl einen Schatten an der Wand. Es war der Gefängniswärter. Die Zeit war fast um.
In den letzten fünf Sekunden hob Beckert den Blick, schaute genau in die Linse und in Kevin Byrnes Augen.
»Viel Spaß in Ihrem neuen Haus, Detective«, sagte sie.