12
Es war ein hübsches Haus mit differenzierten Wohnebenen in Miquon, einem kleinen Ort am Schuylkill River unweit der Grenze zum Philadelphia County.
Während Byrne die Beweismittel vom Tatort in Shawmont in den Computer eingab, folgte Jessica der Spur des Anrufs von David Solomon. Sie parkte in der Einfahrt, ging den Weg hinauf und klingelte.
Es dauerte nicht lange, bis eine Frau öffnete. Jessica schätzte sie auf Ende dreißig. Eine sportliche, konservativ gekleidete Frau, die eine zimtbraune Tweedhose und einen beigefarbenen Pullover trug.
»Sind Sie von der Polizei?«, fragte sie.
Jessica zeigte ihr den Dienstausweis. »Ja, Ma’am. Mein Name ist Jessica Balzano.«
»Ich bin Mary Gillen.«
Jessica fand, dass die Frau weder ängstlich noch bestürzt aussah, eher verwirrt.
Mary Gillen öffnete die Tür und trat zur Seite. »Bitte, kommen Sie herein.«
»Danke.« Jessica betrat das Haus. Das Wohnzimmer hatte ungefähr dieselbe Größe wie das gesamte Erdgeschoss in Jessicas Reihenhaus. Es war elegant mit Leder- und unbehandelten Kirschholzmöbeln eingerichtet.
»Ein Mann hatte mich angerufen und eine Nachricht auf meinem Handy hinterlassen«, sagte Mary Gillen. »Ein Detective …«
»Byrne. Er ist mein Partner.«
»Ah, okay. Er hat nicht gesagt, um was es geht.«
»Reine Routine. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
»Okay«, sagte die Frau noch einmal, schien aber nicht überzeugt zu sein. Jessica verstand das gut. Solange nicht alle Familienmitglieder gesund und munter vor einem standen, gab es berechtigte Zweifel. Sie blätterte in ihrem Notizheft. »Kennen Sie einen Mann namens David Solomon?«, fragte sie.
»Wie bitte? Würden Sie den Namen wiederholen?«
»David Solomon.«
Jessica beobachtete die Frau. Während Mary Gillen nachdachte, hob sie den Blick und schaute nach rechts. Jessica wusste, manchmal deutete der Blick eines Menschen darauf hin, ob er sich wirklich zu erinnern versuchte oder nur Zeit schinden wollte, um sich irgendetwas auszudenken.
Mary Gillen wandte Jessica wieder den Blick zu.
»Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wer das ist.«
»Kein Problem. Sind Sie berufstätig?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, wo Sie arbeiten?«
»Bei der Vanguard Group.«
»Das ist ein großes Unternehmen. Könnte es nicht sein, dass Sie mit Mr. Solomon mal beruflich zu tun hatten?«
»Möglich«, sagte Mary. »Aber der Name sagt mir nichts. Darf ich fragen, um was es eigentlich geht?«
»Natürlich. Dazu kommen wir gleich.« Jessica schaute auf die Uhr. »Waren Sie heute Morgen gegen elf zu Hause?«
Die Frau blickte wieder nach oben, dann nach rechts. »Nein, ich war einkaufen. Gegen elf Uhr war ich bei Whole Foods. In dem Geschäft in der Pennsylvania Avenue.«
Mrs. Gillen zeigte spontan auf die Küche. Jessica hatte das in ihrem Job tausendmal erlebt. Normalerweise geschah es bei einer Befragung, wenn die Leute skeptisch wurden, ob die Polizei ihnen glaubte oder nicht. Mary Gillen zeigte auf die Einkaufstüten auf der Küchenzeile, die das Logo von Whole Foods trugen.
Jessica blickte in ihr Notizheft, in dem die Nummer stand, die auf David Solomons Telefon angezeigt worden war. Sie zeigte Mary Gillen die Nummer. »Ist das Ihre?«
Jetzt sah Mrs. Gillen ein wenig verwirrt aus. »Ja.«
»Die Nummer Ihres Festanschlusses?«
»Ja.«
»Haben Sie einen Anrufbeantworter, der über den Telefonanbieter Ihres Festanschlusses läuft?«
»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen …«
»Müssen Sie eine Nummer anrufen, um den Anrufbeantworter abzuhören, oder haben Sie ein eigenes Gerät hier im Haus?«
»Ach so, verstehe. Wir haben einen Anrufbeantworter.« Sie zeigte noch einmal auf die Küche. »Er steht auf dem kleinen Tisch in der Küche.«
»Haben Sie die neuen Nachrichten heute schon abgehört?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Mrs. Gillen und redete sofort weiter, weil sie offenbar annahm, dass Jessica nachhakte. »Ehrlich gesagt schaue ich nicht oft nach, ob jemand eine Nachricht hinterlassen hat.« Sie griff in ihre Handtasche, die auf der Sofalehne stand, und zog ein iPhone heraus. »Neunzig Prozent der Leute rufen auf meinem Handy an. In meiner Ansage auf dem Anrufbeantworter habe ich die Handynummer angegeben.«
»Okay. Wir müssen uns die Nachrichten auf Ihrem Anrufbeantworter anhören, falls überhaupt jemand eine Nachricht hinterlassen hat. Nur die Nachrichten von heute.«
Mary Gillen wollte etwas sagen. Jessica glaubte zu wissen, was es war, und kam ihr zuvor.
»Um Ihre Frage zu beantworten, die Sie vorhin gestellt haben, dies ist nur eine Routinebefragung im Zusammenhang mit einer laufenden Ermittlung. Wie schon gesagt, besteht kein Grund zur Sorge.«
»Und das hat etwas mit diesem Mr. Solomon zu tun?«
»Ja.«
»Hat er etwas verbrochen?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Nein. Wir überprüfen nur ein paar Telefonate, die Mr. Solomon heute geführt hat.«
»Und er hat hier angerufen?«
»Sieht so aus.«
»Interessant«, sagte Mrs. Gillen und meinte vielleicht etwas anderes. Sie schien nachzudenken. Ein paar Sekunden vergingen.
»Ma’am?«, sagte Jessica. »Könnten wir jetzt die Nachrichten auf Ihrem Anrufbeantworter abhören?«
Mrs. Gillen kehrte in die Gegenwart zurück. »Natürlich. Verzeihung.«
Die beiden Frauen durchquerten das Wohnzimmer und gingen durch den Durchgang in die Küche. Schon das Wohnzimmer war geschmackvoll eingerichtet, aber die Küche übertraf es noch. Sie sah aus wie aus dem Architectural Digest. Ein Viking-Herd, Kühl- und Gefrierschrank von Sub-Zero und ein halbes Dutzend hochmoderne kleinere Elektrogeräte auf der Arbeitsplatte aus Granit. Der Tisch, von dem Mary Gillen gesprochen hatte, stand in einer Nische neben einer kleinen Essecke, wo die Familie vermutlich frühstückte.
Wie Jessica gehofft hatte, blinkte am digitalen Anrufbeantworter ein rotes Licht; daneben blinkte die Zahl 2. Zwei neue Nachrichten. Oder zumindest hatten zwei Leute angerufen.
»Es ist mir sehr unangenehm«, sagte die Frau. »Ich höre die Nachrichten nicht regelmäßig ab. Heute war ich sehr beschäftigt.«
»Verstehe. Darf ich fragen, wer noch hier wohnt?«
»Nur ich und die Jungen.«
»Die Jungen?«
»Ich habe zwei Söhne. Zwillinge. Sie sind zwölf.«
Jessica machte sich eine Notiz. Mrs. Gillen beobachtete sie, und ihre Skepsis – eher ihr Misstrauen – wuchs.
»Und Ihr Mann?«
Was gerade noch Skepsis war, verwandelte sich schlagartig in Verärgerung. Mrs. Gillen verschränkte die Arme – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie dichtmachte.
»Wir sind geschieden«, sagte sie knapp.
»Darf ich fragen, wo die Jungen jetzt sind?«
»Sie sind diese Woche bei Michael, meinem Exmann. Vermutlich sind sie jetzt beim Fußballtraining.«
»Könnte Mr. Solomon einen der Jungen angerufen haben? Könnte er ein Lehrer oder Trainer von ihnen sein?«
Die Frau lachte. Es hörte sich in dieser Situation sehr sonderbar an. »Verzeihen Sie, wenn ich lache, aber ich glaube, noch nie hat jemand die Jungen auf dem Festnetz angerufen. Sie haben eigene Handys, seitdem sie sieben oder acht sind.«
»Ich habe einen fünfjährigen Sohn«, sagte Jessica. »Er fragt mich jetzt schon, ob er ein Handy haben kann.« Sie klappte ihr Notizheft zu. Es war Zeit, zum Thema zurückzukehren. »Sollen wir uns jetzt die Nachrichten anhören?«
Mary durchquerte die Küche und setzte sich an den kleinen Tisch.
»Wissen Sie, wie der Anrufbeantworter funktioniert?«, fragte Jessica.
»Ich glaube schon. Wie gesagt, ich benutze ihn nicht oft. Aber die Bedienung ist ziemlich einfach.«
»Wissen Sie, was man tun muss, damit eine Nachricht gespeichert wird?«
Mary öffnete eine Schublade, nahm eine Lesebrille heraus, setzte sie auf und schaute auf den Anrufbeantworter. »Ja, ich weiß, wie das geht. Wenn man sich die Nachricht angehört hat, drückt man auf Löschen, falls sie gelöscht werden soll. Wenn sie nicht gelöscht werden soll, macht man gar nichts.«
»Okay. Wenn es Ihnen recht ist, hören wir uns beide Nachrichten an, ohne sie zu löschen.«
»Gut. Damit habe ich kein Problem.«
Jessica zog ihr iPhone aus der Tasche. »Ich habe auf diesem Gerät hier eine Memo-App, eine Art Diktiergerät. Wenn wir uns die Nachrichten anhören, würde ich sie gern aufnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Mary Gillen zuckte mit den Schultern. »Sicher.«
Jessica tippte mehrmals auf das Display, bis sie die Memo-App fand. Dann berührte sie das Icon, um die Aufnahme zu starten. Als sie sah, dass die Lautstärkenadel hin und her sprang, wusste sie, dass die Aufnahme begonnen hatte.
Sie legte das iPhone neben den Anrufbeantworter und fragte Mrs. Gillen: »Sind Sie bereit?«
»Ja.«
Jessica nickte. Mary Gillen drückte auf die Wiedergabe.
Die Roboterstimme sagte:
»Sie haben zwei neue Nachrichten. Erste neue Nachricht, heute, zehn Uhr und neun Minuten.«
Der Anrufbeantworter piepte.
»Hier ist die Stadtbücherei. Die Medien, die Sie bestellt haben, liegen in der Hauptstelle zur Abholung bereit. Sie können sie dort bis zum neunundzwanzigsten November abholen. Wir bedanken uns bei Ihnen, dass Sie Kunde bei uns sind.«
Piep.
»Ich hatte ganz vergessen, dass die Bücherei diese Nummer hat«, sagte Mrs. Gillen, als der Anrufbeantworter zur zweiten Nachricht sprang. »Ich habe nie daran gedacht, meine Handynummer dort anzugeben.«
»Wir bekommen auch immer solche Nachrichten von der Bücherei«, sagte Jessica.
Jetzt folgte die Ansage vor der zweiten Nachricht.
»Zweite neue Nachricht, heute, elf Uhr und zwei Minuten.«
Als erneut der Piepton erklang, hielt Jessica den Atem an. 11.02 Uhr war die Minute, als David Solomon sich einen Revolver in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte.
Zuerst hörte man nur ein Rauschen. Das kam bei schnurlosen Telefonen schon mal vor. Wenn in der Nähe Hochspannungsleitungen verliefen, konnte es manchmal zu Störungen mit dem DECT-Signal kommen. Jessica befürchtete schon, die ganze Nachricht würde nur aus einem Rauschen bestehen, doch nach einem Augenblick verstummte das Geräusch, und ein Mann sagte etwas. Es hörte sich an wie:
»… nicht jetzt …«
Ein paar Sekunden lang rauschte es wieder, dann war die Nachricht zu Ende.
Es piepte, doch statt der blinkenden roten 2 sah man jetzt eine 0. Keine weiteren Nachrichten.
Einen langen, unangenehmen Augenblick sagte keine der beiden Frauen ein Wort.
»Haben Sie die Stimme erkannt?«, erkundigte Jessica sich schließlich.
»Ich habe nicht viel verstanden«, antwortete Mary Gillen. »Aber die Stimme kam mir nicht bekannt vor.«
»Und was er gesagt hat? ›Nicht jetzt.‹ Hat das eine Bedeutung für Sie?«
Mrs. Gillen zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher, ob er das gesagt hat. Aber um Ihre Frage zu beantworten – nein, es hat keine Bedeutung für mich.«
Mary Gillen hatte recht. Das Rauschen war so laut gewesen, dass man nicht richtig verstehen konnte, was der Anrufer gesagt hatte.
»Ist okay«, sagte Jessica.
Ein paar Minuten später brachte Mrs. Gillen Jessica zur Haustür.
»Es wäre nett, wenn Sie mich anrufen, sobald Sie Ihre Söhne gefragt haben, ob sie David Solomon kennen.« Jessica nahm ihre Schachtel mit den Visitenkarten aus der Tasche und gab Mary Gillen eine davon.
»Mordkommission?«
Jessica bemerkte, dass die Hand der Frau leicht zu zittern begann. »Ma’am?«
»Hier. Auf Ihrer Karte. Da steht Mordkommission.«
»Ja. Ich bin dort Detective.«
Die Frau erblasste. »Es ist etwas Schlimmes passiert, nicht wahr?«
»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte Jessica. »Es besteht wirklich kein Grund zur Sorge. Gut möglich, dass Mr. Solomon sich nur verwählt hat. Vielleicht wollte er jemand anders anrufen.«
Mrs. Gillen nickte, schien aber nicht überzeugt zu sein. Nachdem sie nun wusste, dass Jessica bei der Mordkommission arbeitete, wollte sie vermutlich fragen, ob Mr. Solomon tot war, doch Jessica fuhr bereits fort: »Vermutlich hat das alles nichts zu bedeuten. Fragen Sie bitte Ihre Söhne, ob ihnen der Name etwas sagt. Es wäre nett, wenn Sie mich auf jeden Fall anrufen.«
»Okay, mach ich.«
Jessica ging zu ihrem Wagen, zog das iPhone aus der Tasche und berührte das Icon der App mit den gespeicherten Memos. Sie stieg ein, schloss die Tür und spielte die Aufnahme ab, die sie soeben in der Küche von Mary Gillen gemacht hatte.
Zuerst war nur das Rauschen zu hören, dann: »Nicht jetzt.«
Ist das überhaupt David Solomons Stimme?, fragte sich Jessica.
Es musste so sein. Die Zeit stimmte genau überein.
Jessica zweifelte nicht daran, dass es Solomons letzte Worte waren.
Nicht jetzt.