33

Das Haus in der Lancaster Avenue in Spruce Hill, West-Philadelphia, stand zwischen Häusern, die gerade instand gesetzt wurden oder die es bitter nötig gehabt hätten. Das Puppengeschäft war in recht gutem Zustand. Es erinnerte Jessica an Läden in Süd-Philadelphia aus der Zeit ihrer Kindheit – Bastelgeschäfte, Modellbauläden und kleine Warenhäuser. Ein paar gab es noch.

Als sie sich Secret World näherten, blickte Jessica auf das Schaufenster. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Puppen auf Stühlen, Puppen auf kleinen Kommoden, Puppen an einem Tisch, Puppen beim Picknick. Eine Puppe, die noch in ihrem Karton lag, trug ein kunstvolles Ballkleid aus Satin.

Das ganze Schaufenster mit den weit geöffneten rosaroten Türen zu beiden Seiten war dekoriert wie ein Puppenhaus.

Als sie das Geschäft betraten, klingelte eine Glocke über der Tür. Jessica fiel sofort auf, dass das Motiv des Puppenhauses im Innern des Geschäfts weitergeführt wurde. Es war ein langes schmales Ladenlokal mit einer Glastheke auf der linken Seite und Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, auf der rechten Seite. Auf diesen Regalen saßen oder standen Puppen mit verschiedenen Hautfarben aus aller Herren Länder. Es gab Puppen für Babys, Schmusepuppen, Puppen zum Spielen, Modepuppen, Zierpuppen und Puppen aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen – Lehrerinnen, Krankenschwestern und Tänzerinnen.

Hinten im Geschäft hing über der Theke ein altes, verwittertes Schild mit der Aufschrift: Inhaberin E. Rose.

Jessica fand es ein wenig beunruhigend, dass sie dieses Geschäft betreten konnte, ein Geschäft in ihrer Stadt, und sich nun schon länger als dreißig Sekunden darin aufhielt, ohne dass jemand aus dem hinteren Teil in den Verkaufsraum kam. Sie fragte sich schon, ob etwas passiert war, beschloss aber, noch einen Augenblick zu warten, und schaute sich ein paar der größeren Puppen an der hinteren Wand an. Einige waren so groß wie richtige Kinder, einige sogar noch größer.

Plötzlich bewegte sich eine von ihnen.

Jessica bekam einen Schreck und stellte jetzt erst fest, dass die lebensgroße Puppe in Wirklichkeit eine kleine alte Dame war. Sie hatte die ganze Zeit dagestanden und Jessica und Byrne Zeit gelassen, sich umzusehen.

Die Frau musste Ende siebzig, Anfang achtzig sein. Sie hatte schlohweißes Haar und trug eine hübsche gelbe Strickjacke über einer weißen Bluse. Den Kragen schmückte eine Saphirbrosche.

»Sind Sie E. Rose?«, fragte Byrne die Frau.

»Ja, die bin ich«, erwiderte sie.

»Mrs. oder Miss Rose?«

Die Frau musterte Byrne und dachte einen Moment darüber nach. Man hätte fast meinen können, sie hätte die Frage nicht gehört, oder es wäre unter ihrer Würde, sie zu beantworten.

»Mrs. Rose wäre richtig«, sagte sie dann. Sie hatte einen leichten Akzent, aber Jessica konnte ihn nicht sofort einordnen. Er stammte bestimmt nicht aus dem Osten Pennsylvanias, auch nicht aus dem Westen Philadelphias. Die Frau fuhr fort: »Natürlich war ich früher mal verheiratet, und ich habe den Namen meines Mannes angenommen, wie es üblich war und wie es meiner Meinung nach heutzutage auch noch sein sollte. Aber da mein geliebter Mann schon lange nicht mehr unter uns weilt, habe ich beschlossen, mich von allen Miss Emmaline nennen zu lassen.«

»Okay, Miss Emmaline«, sagte Byrne. »Mein Name ist Kevin Byrne, und das ist meine Partnerin Jessica Balzano. Wir sind vom Philadelphia Police Department.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, erwiderte Emmaline. »Willkommen in der Secret World.«

»Sind Sie die Geschäftsinhaberin?«, fragte Byrne.

»Oh ja. Ich bin seit 1958 hier.«

Byrne zeigte ihr die Visitenkarte, die sie von Bethany Quinn bekommen hatten. »Diese Karte haben wir von der Enkeltochter eines gewissen Carl Krause bekommen.«

»Ach du meine Güte. Ich erinnere mich an Carl. Ein bemerkenswerter junger Mann. Er hat gern mit Miniaturen gearbeitet. Die Nachfrage nach solchen Dingen ist heute sehr gering.«

Zuerst wollte Jessica spontan einwerfen, dass der »junge Mann« vor über zehn Jahren verstorben war, doch es spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle. Falls die alte Dame fragte, würde sie es ihr sagen. Doch Miss Emmaline fragte nicht.

»Darf ich Ihnen ein Foto zeigen?«, wollte Byrne wissen.

»Ja, dürfen Sie.«

Byrne griff in seine Tasche und zog zwei Fotos heraus. Auf einem war die Puppe abgebildet, die sie am Tatort der Gillen-Morde gefunden hatten. Neben der Puppe lag ein Lineal, damit man eine Vorstellung von der Größe bekam. Das andere Foto war eine Nahaufnahme des Puppengesichts. Keines der beiden Fotos lieferte Hinweise auf die Opfer oder den Tatort. Byrne legte die Bilder vor Miss Emmaline auf die Theke.

Die alte Frau hielt sich ihre Brille vor Augen, die an einem Band um ihren Hals hing, und betrachtete beide Fotos aufmerksam.

»Können Sie uns irgendetwas über die Puppe sagen?«, fragte Byrne.

»Vielleicht eine ganze Menge, junger Mann«, erwiderte Miss Emmaline. »Aber zuerst müssen Sie mir einen Gefallen tun.«

»Gern. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich muss mich hinsetzen.« Sie wies über die linke Schulter zu einem Durchgang mit einem Vorhang hinten im Laden. »Da hinten ist mein Aufenthaltsraum. Können Sie mir helfen? Ich glaube, ich habe meinen Gehstock verlegt.«

»Es ist mir eine Ehre.« Byrne ging hinter die Theke und bot ihr seinen Arm an. Miss Emmaline hakte sich ein.

»Soll ich die Eingangstür abschließen?«, fragte Jessica.

Die Frau hob den Blick zu ihr. »Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe. Über der Tür ist eine Glocke, und mein Gehör ist noch so gut wie damals, als ich als kleines Mädchen in Metairie in Louisiana gewohnt habe. Und das ist über achtzig Jahre her.«

Kurz darauf traten sie durch den Vorhang in einen kleinen Raum und in Miss Emmalines Vergangenheit, in eine andere Zeit. Die Wände waren mit Seidentapisserien verkleidet. Es roch nach Zitronenöl und Pfefferminztee.

Und überall waren Puppen. Wunderschöne Puppen. An allen vier Wänden standen Glasvitrinen. Schon das Schaufenster hatte Jessica sehr beeindruckt, aber jetzt kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus.

In dem Raum stand ein Tisch mit zwei Stühlen; ein weiterer stand etwas näher am Vorhang. Jessica setzte sich auf den Stuhl neben dem Durchgang und stellte ihn so, dass sie durch die Lücke im Samtvorhang ins Geschäft schauen konnte. Eine Klingel über der Tür war in Gefahrensituationen zwar ganz okay, aber eine Pistole war auch nicht schlecht.

Auch wenn sie eine Zeitreise zu den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht hatten, hielten sie sich noch immer in West-Philadelphia auf.

»Als wir damals im Plaquemines Parish wohnten, war mein Vater Seemann auf einem Handelsschiff«, sagte Miss Emmaline. »Er war ein großer Mann, über eins achtzig, und hatte große Hände. Dennoch konnte er für meine Mutter einen Faden in die feinste Nadel einfädeln, wenn sie Schulkleidung für mich und meine Schwester genäht hat. Meine Mutter war eine geschätzte Näherin, die im ganzen County für ihre hervorragende Arbeit bekannt war.«

Miss Emmaline zeigte auf eine Puppe, die in einer Glasvitrine zu ihrer Linken saß, eine kleine Porzellanfigur, die aussah, als wäre sie eine Zeitgenossin von Marie Antoinette. »Meine Mutter hat dieses Brokatkleid genäht. Ist es nicht wunderschön?«

Jessica bewunderte die sorgfältige Handarbeit. »Ja, wirklich sehr schön.«

»Haben Sie sich schon immer für Puppen interessiert?«, erkundigte sich Byrne.

Miss Emmaline trank einen Schluck Tee. »Ein bisschen, aber nicht mehr als andere Mädchen in dem Alter. Mein Großvater war Pfarrer. Wenn man in der damaligen Zeit den Eindruck erweckte, man würde über seine Verhältnisse leben, und wenn man dabei aus einer Pfarrersfamilie stammte, wurde das von den Leuten in der Gemeinde als Extravaganz betrachtet. Und das wiederum war für sie ein Grund, weniger Geld in den Klingelbeutel zu werfen. Damals waren Puppen sehr teuer. Aus Plastik wurden sie erst viel später hergestellt. Bei uns in der Gemeinde galten Puppen als Luxus, und ein kleines Mädchen mit einer Sammlung? Nein, mein Lieber, das wäre ein Skandal gewesen.«

»Wann haben Sie angefangen, Puppen zu sammeln?«, fragte Byrne.

»Ich glaube, ich habe mich zuerst ganz allgemein für alte Dinge interessiert, nicht speziell für antike Puppen.« Sie trank noch einen Schluck Tee. »Seitdem ich selbst alt bin, finde ich diese Vorstellung ziemlich sonderbar.«

»Alt? Sie sind doch nicht alt«, sagte Byrne.

Miss Emmaline lächelte. »Schmeichler.« Sie warf Jessica einen Blick zu. »Ist er immer so charmant?«

»Immer.«

Miss Emmaline stellte ihre Tasse auf den Tisch und fuhr fort: »Als meine Schwester und ich klein waren, holte meine Großmutter ihre Puppe nur zu besonderen Gelegenheiten aus dem Schrank. Meistens an ihrem Geburtstag oder an Feiertagen.«

»Sie hatte nur eine einzige Puppe?«, fragte Byrne.

»Ja. Eine wunderschöne Bru-Puppe.«

»Was ist eine Bru-Puppe?«

»Bru-Puppen wurden Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich angefertigt. Meistens bestanden sie aus Porzellan, manchmal aus Guttapercha. Für viele Leute, und dazu gehöre auch ich, sind sie die feinsten Puppen, die jemals hergestellt wurden.«

»Und Ihre Großmutter hatte eine solche Puppe?«

Miss Emmaline nickte. »Sie hieß Sarah Jane. Die Puppe, nicht meine Großmutter. Bevor wir sie anfassen durften, mussten wir frisch gebadet sein und saubere Hände haben. Als wir älter wurden und gern mal herumtobten, mussten wir unsere feinen Handschuhe tragen, die wir sonst nur zu unseren Osterkleidern trugen. Stellen Sie sich das mal vor!«

Während Miss Emmaline erzählte, blieb Jessicas Blick auf einer bestimmten Puppe haften, die hier ausgestellt war. Diese Puppe, die auf der Kommode zu ihrer Linken saß, war groß und schaute mit ihren riesigen, seltsam durchdringenden Augen zur Seite. Es sah aus, als würde sie Jessica anstarren.

»Ah, Ihnen scheint Carlene zu gefallen«, sagte Miss Emmaline. »Sie ist eine sogenannte Googly-Puppe.« Emmaline zeigte auf das Gesicht der Puppe. »Sehen Sie, dass die Augen ziemlich groß sind und zur Seite blicken? Das ist ein typisches Kennzeichen der Googly, obwohl es so etwas bei anderen Puppen und Figuren ebenfalls gibt, sogar auf bekannten Bildern.«

»Die Campbell-Kinder«, sagte Byrne.

»Sehr gut, junger Mann. Ja, die beiden Kinder in der Werbung für Campbell-Suppen stehen in der Tradition der Googly-Puppen.«

Die Zentrale der Campbell Soup Company befand sich lange Zeit in Camden, New Jersey, gegenüber von Philadelphia am Delaware River. Fast jeder, der in Philadelphia oder Camden wohnte und Campbell hieß, bekam den Spitznamen »Soupy« verpasst.

Jessica dachte an die Morde an den Gillen-Brüdern, wo eine solche Puppe gegenüber von den Opfern in einer Ecke gestanden hatte.

Schaute die Puppe auf die Opfer? War das die »Einladung«?

Byrne zeigte der alten Dame das Foto mit der Puppe vom Tatort. »Könnte es sein, dass Sie so eine Puppe in Ihrem Geschäft verkauft haben?«

»Schon möglich. Aber ich glaube, diese Puppe hier habe ich noch nie gesehen.«

»Kann man irgendwie feststellen, wo sie gekauft wurde?«, fragte Byrne. »Gibt es irgendwelche Kennzeichnungen oder so etwas?«

»Antike Puppen können die unterschiedlichsten Merkmale aufweisen«, antwortete Miss Emmaline. »Die Kennzeichnung des Herstellers auf einer antiken Puppe findet man oft auf dem Hinterkopf, meist versteckt unter der Perücke. Aber die Kennzeichen können auch auf einer Schulterplatte, auf der Brust oder dem Rücken sein, mitunter auch auf den Fußsohlen.«

»Werden diese Kennzeichen eingestanzt?«

»Manchmal. Das hängt vom Material ab. Sie können auch ins Material geritzt werden, oder sie stehen auf einem Anhänger oder Aufkleber. Es kommt immer darauf an.«

Jessica glaubte zu wissen, worauf ihr Partner hinauswollte. Der Gedanke ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Miss Emmaline hielt das Foto hoch. »Auf diesem Bild hier kann ich nicht viel erkennen. Würden Sie mir die Puppe bringen, könnte ich Ihnen bestimmt mehr sagen. Wenn ich die Kennzeichnung sehe, weiß ich genau, wer die Puppe hergestellt hat. Und ich könnte Ihnen fast auf den Tag genau sagen, wann und vielleicht sogar wo sie gekauft wurde.«

»Dann tun wir das«, sagte Byrne. »Vielen Dank für das Angebot.«

»Gern.«

»Darf ich fragen, ob Sie das Geschäft alleine führen, Miss Emmaline?«

»Größtenteils. Ich wohne über dem Laden, deshalb habe ich keinen Anfahrtsweg. Ab und zu helfen mir ein paar Mädchen aus der Nachbarschaft beim Putzen. Es ist nicht schwierig, Mädchen zu finden, die in einem solchen Laden arbeiten möchten. Ich bezahle sie so, wie meine finanzielle Situation es mir erlaubt.«

Ein paar Minuten später kehrten alle drei ins Ladenlokal zurück. Jessica war froh, dass in der Zwischenzeit niemand eingebrochen war. Sie wurde wirklich misstrauisch auf ihre alten Tage.

»Ich frage mich gerade, ob alle Puppen Namen haben«, sagte Byrne.

Miss Emmaline musterte ihn, als hätte er sie gefragt, ob die Sonne wirklich im Westen aufgeht. »Natürlich, junger Mann. Für viele Menschen sind Puppen lebendige Wesen. Für viele sind sie sogar Familienangehörige.« Sie zeigte auf die Puppen, die überall in dem Geschäft ausgestellt waren. »Das ist jetzt meine Familie.«

Byrne knöpfte seinen Mantel zu. »Vielen Dank, dass Sie Ihre Zeit geopfert haben.«

»War mir ein Vergnügen. Ich habe mich sehr über Ihren Besuch gefreut. Hoffentlich konnte ich dem Philadelphia Police Department helfen. Wissen Sie, ich kann mich kaum erinnern, wie oft die Polizei mir schon geholfen hat.«

»Sie waren uns eine große Hilfe, Miss Emmaline.«

»Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie mit der Puppe kommen. Dann versuche ich, in meinem prall gefüllten Zeitplan eine Lücke zu finden.« Die alte Dame zwinkerte Byrne zu.

»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«, erkundigte sich Jessica.

»Nur zu.«

»Was ist aus Sarah Jane geworden?«

Miss Emmaline schaute aus dem Fenster. Vielleicht erinnerte sie sich an die versunkene Welt, als kleine Mädchen noch ihre feinen Handschuhe tragen mussten, wenn sie die kostbare Puppe aus Biskuitporzellan anfassen wollten, die ihrer Großmutter gehörte.

»Meine Mutter hatte drei Schwestern. Als die Farm meines Großvaters nach seinem Tod verkauft wurde, haben sie sich alle Dinge genau angeschaut. Mutter war die Jüngste und bekam nur, was die anderen übrig ließen. Als ich Sarah Jane zum letzten Mal sah, hielt meine Cousine Ruthie sie in der Hand und schaute hinten aus dem Fenster des 37er Fords von Onkel Frederick.«

Jessica hätte gern gefragt, ob Cousine Ruthie ebenfalls saubere Hände habe, doch als sie Miss Emmalines betrübte Miene sah, wusste sie Bescheid.

Jessica brauchte einen Moment, um ins einundzwanzigste Jahrhundert zurückzukehren, nachdem sie Miss Emmalines Geschäft verlassen hatten. Sie hatte das Gefühl, eine Zeitreise hinter sich zu haben. Und der Ort, an dem sie gewesen war, hatte ihr sehr gut gefallen.

Sie stiegen ein, schnallten sich an und schwiegen eine Zeit lang.

»Du willst wissen, ob der Killer Nicole und die Gillen-Jungen gekennzeichnet hat, nicht wahr?«, fragte Jessica schließlich.

»Ich habe darüber nachgedacht.«

»Du möchtest wissen, ob auf ihren Hinterköpfen Kennzeichnungen sind.«

Byrne erwiderte nichts. Das brauchte er auch nicht.

»Ich sag Bescheid, dass wir kommen.« Jessica nahm ihr Handy und rief in der Rechtsmedizin an.

Zum rechtsmedizinischen Institut von Philadelphia gehörten acht Abteilungen, wobei die Obduktionen den Schwerpunkt der Arbeit bildeten, bei der es darum ging, Art und Umstände eines Todesfalles zu ermitteln. Mitunter unterstützten die Rechtsmediziner die Detectives dabei, die Familien über den Tod eines Angehörigen zu informieren.

In Zusammenarbeit mit den anderen Abteilungen – Pathologie, Toxikologie, Histologie sowie der forensischen Odontologie und der forensischen Anthropologie – untersuchte die Rechtsmedizin mehr als sechstausend Todesfälle pro Jahr. Hinzu kam die psychologische Betreuung der Trauernden und das kürzlich ins Leben gerufene Programm zur Prävention von Todesfällen in Philadelphia. Es wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Bürger der Stadt in Zukunft besser vor tödlichen Unfällen und Gewaltverbrechen zu schützen.

Alle Detectives der Mordkommission hatten natürlich – genau wie die Cops in anderen Abteilungen – ihre eigenen Vorstellungen, was die Verbrechensvorbeugung betraf. Doch um keine Schwierigkeiten zu bekommen und ihre Jobs nicht zu verlieren, behielten die meisten ihre Gedanken für sich.

Jessica und Byrne parkten auf dem Parkplatz hinter dem riesigen Gebäude in der University Avenue.

Der Rechtsmediziner Steve Fenton war für die Obduktionen des Leichnams von Nicole Solomon und die der Gillen-Brüder zuständig. Der sportliche Familienmensch Anfang vierzig führte jede Obduktion mit derselben Ernsthaftigkeit durch. Zwar neigten einige Mitarbeiter innerhalb der Abteilung hin und wieder zu Galgenhumor, aber niemals Steve Fenton. Jessica hatte gehört, dass er am Westminster Theological Seminary studiert hatte; offenbar hatte er einst mit dem Gedanken gespielt, Priester zu werden.

Sie trafen sich im großen Untersuchungsraum der Rechtsmedizin. Die Leichen von Nicole Solomon sowie Robert und Edward Gillen lagen auf Edelstahltischen in der Mitte des Raumes.

Hinter sich hörten sie Fliegen surren, größtenteils Schmeißfliegen, die von der elektrischen Insektenfalle angelockt und getötet wurden. Wenn man sich oft in diesem Raum aufhielt – was auf Jessica zum Glück nicht zutraf –, hörte man das Surren kaum noch.

»Ich habe es bei allen dreien übersehen«, erklärte Fenton und hielt die beleuchtete Lupe über Nicoles Hinterkopf.

Jessica setzte ihre Brille auf und beugte sich hinunter. Es war eine kleine, aber deutlich sichtbare Kennzeichnung. Jessica trat zurück, sodass auch Byrne einen Blick darauf werfen konnte.

»Das kann man wirklich schnell übersehen, Steve«, meinte Jessica. »Ich konnte nicht erkennen, was es heißen soll. Wonach sieht das für Sie aus?«

»Das sind Zahlen. Bei Nicole steht eine zehn, bei Robert Gillen eine elf, bei Edward eine zwölf. Ich habe Dr. Patel gebeten, ebenfalls einen Blick darauf zu werfen. Er schließt sich meiner Meinung an.«

Dr. Rajiv Patel war der Rechtsmediziner von Philadelphia County. Er hatte mit Sicherheit einen der unterbezahltesten Jobs angesichts der extremen Arbeitsbelastung.

»Wurden diese Kennzeichnungen vor oder nach Eintritt des Todes vorgenommen?«, fragte Byrne.

»Nach Eintritt des Todes«, antwortete Fenton. »Keine Blutung, keine Blutgerinnung.«

»Wissen Sie, womit die Kennzeichnungen vorgenommen wurden?«

»Noch nicht genau. Ich vermute aber mit einer Nadel.«

»Mit einer Stricknadel oder einer Injektionsnadel?«, fragte Byrne.

»Die Nadel war viel kleiner als eine Stricknadel. Ich würde sagen, vielleicht die Nadel eines Hutmachers oder eine spitze Nähnadel, wie sie für das Nähen mit der Hand benutzt wird.«

»Meinen Sie?«

»Ja, meine Mutter hat bei Wanamaker’s als Näherin gearbeitet. Ich bin mit diesen Dingen aufgewachsen.«

Mit geübter Hand zog Fenton die Tücher respektvoll über die Leichen und wandte sich wieder den Detectives zu. »Ich würde sagen, bei den Nadeln, mit denen diese Kennzeichnungen vorgenommen wurden, handelt es sich um Nadeln für feine Näharbeiten.«

»Haben Sie Fotos gemacht?«

»Ja.« Fenton zog die Handschuhe aus und ging zu einem Schreibtisch in einer Ecke des Raumes. Er kam mit einem großen Briefumschlag zurück und reichte ihn Byrne.

»Danke.«

Fentons Blick wanderte zu den drei kleinen Leichen unter den grauen Tüchern und zurück zu den Detectives. Offenbar wollte er irgendetwas sagen, was ihm schwerfiel. Er räusperte sich.

»Meine Tochter Catherine ist letzte Woche dreizehn geworden«, begann er. »Sie besucht dieselbe Schule wie Nicole Solomon. An unserem Kühlschrank hängt ein Flyer von diesem Film, den die Mädchen sich im Franklin Institute angeschaut hatten.« Er spähte noch einmal zu den drei Leichen hinüber. Das Surren der Schmeißfliegen verstummte für einen Augenblick. »Cathy war an dem Tag beim Kieferorthopäden, weil ihre Zahnspange neu eingesellt werden musste. Hätte sie den Termin nicht gehabt, hätte sie auch in dem Bus gesessen.«

Einen kurzen Augenblick blieben alle stumm, doch Fentons Miene war unmissverständlich:

Wir müssen dieses Monster schnappen.

Als sie zum Roundhouse zurückfuhren, schwiegen die beiden Detectives. Jessica wusste, dass ihrem Partner die neuen Erkenntnisse ebenso zu schaffen machten wir ihr selbst.

Der Killer kennzeichnete seine Opfer mit einer Nähnadel, nachdem er sie ermordet hatte.

Keiner der beiden sagte es laut, aber ein Irrtum war ausgeschlossen.

Der Mörder machte Puppen aus seinen Opfern.

Tanz der Toten
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