73

Byrne lauschte auf die Geräusche. Die Farben und Stoffe ringsum verschwammen vor seinen Augen. In dem Zimmer brannten Kerzen, und im Licht der flackernden Flammen schienen sich die Puppen an den Wänden zu bewegen.

Nein, es scheint nicht nur so, überlegte Byrne. Sie bewegen sich wirklich.

Die Puppen auf dem Regal zu seiner Linken starrten ihn mit Valerie Beckerts Augen an.

Rings um ihn her hörte er das Rascheln von Reifröcken, das Flüstern von Satin und das Klappern von Armen und Beinen aus Plastik und Biskuitporzellan. Er sah winzige Hände und Füße, die sich bewegten.

»Immer wenn Papa eine neue Puppe brannte, konnte ich es hören. Ich hörte, dass sie geboren wurde«, sagte die kleine Puppe links von ihm.

Byrne drehte sich zu der Puppe um. Sie trug ein Schultertuch mit Paisleymuster. Die Augenbrauen bestanden aus winzigen Federn, und auf dem unteren und oberen Lid waren Wimpern aufgemalt.

Byrne schloss die Augen und versuchte, die Halluzinationen zu vertreiben. Er überlegte, wie viel von den Rauschpilzen Marseille ihm untergemischt hatte. In seinem Glas war nur noch ein kleiner Schluck Whiskey gewesen, deshalb konnte es nicht allzu viel sein.

Als er die Augen öffnete, war die Puppe, die gerade mit ihm gesprochen hatte, einer anderen Puppe gewichen, die aussah wie Nicole Solomon. Byrne sah im Geiste, wie der Seidenstrumpf immer enger um den Hals der Puppe gezogen wurde. Er hörte, wie das Zungenbein brach und sah, dass die Augen sich mit Blut füllten.

»Warum haben Sie meinen Vater nicht gerettet?«, fragte die Puppe. Die Stimme klang jung und vertrauensvoll. Auf der Porzellanwange glitzerte eine Träne.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Byrne. »Ich habe es versucht.«

Als er wieder auf die Nicole-Puppe schaute, waren deren Augen geschlossen. Links und rechts neben ihr saßen Robert und Edward Gillen.

»Wir waren erst zwölf«, sagten beide gleichzeitig.

»Ich weiß«, sagte Byrne kaum hörbar. »Es tut mir leid.«

Die Zeit verging.

Byrne hörte, wie der Wind übers Dach fegte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein so trauriges Geräusch gehört zu haben.

Rings um ihn her begannen die zerstörten Puppen zu singen.

Byrne kannte das Lied.

Es hieß »These Foolish Things«.

Byrnes Cousin Paul, schon viele Jahre tot, saß ihm gegenüber im Schneidersitz auf dem Boden, mit dem Rücken an der Tür. Lange bevor in ihrem Viertel jemand das Wort »Yoga« auch nur gehört hatte, saß Paulie schon in diesem Schneidersitz da. Aber das war seine Art. Er war schon immer größer, dünner und gelenkiger gewesen als alle anderen. Für American Football hatte er kein Talent, aber er war schnell.

»Ich habe nie mit einem Mädchen geschlafen, Kev«, sagte er. »Und ich war nur einmal betrunken, dieses eine Mal mit dir.«

»Ja. Wild Irish Rose. Pennerglück«, sagte Byrne und hatte den Geschmack des Fusels auf der Zunge.

Paulie lächelte. Er hatte keine Zähne mehr. Er hatte sie ebenso wie sein Gesicht bei dem Unfall verloren. Außerdem hatte sich die Lenksäule in seine Brust gebohrt.

Paulie war an der Ecke Sechsundzwanzigste und Lombard von einem Wagen erfasst worden. Er war damals erst sechzehn gewesen. Der Typ im Camaro soll viel zu schnell gefahren sein und eine rote Ampel überfahren haben. Die Sanitäter sagten, Paulie sei auf der Stelle tot gewesen. Für die Menschen, die ihn liebten, war das eine gute Nachricht. Schlecht war hingegen, dass Byrne Paulie an diesem Abend zur Arbeit fahren sollte.

Alle im Viertel sagten, sie hätten den Aufprall gehört. Vielleicht war das auch nur eine Legende.

»Einmal hättest du fast … Wie hieß sie noch?«

»Linda«, sagte Paulie. »Linda Vecchio.«

Linda Vecchio trug noch immer dieses glitzernde Nylontop und den Jeansrock. Sie hatte ein Tattoo auf der rechten Wade, ein Sattelschlepper von Rolling Stoned, LLC, aus dessen Heck eine lange rote Zunge gestreckt wurde. Linda saß auf dem Boden an der Stelle, an der Paulie gesessen hatte.

»Verdammter Lügner.«

Linda war nun Deirdre Emily Reese, die Prostituierte, die man in dem Waldstück an der I-476 gefunden hatte – der Leichnam ohne Augen, der neben Ezekiel Moss lag.

Jetzt aber hatte sie wieder Augen. Sie waren aufgemalt.

»Der Trucker hat gesagt, er hätte noch eine Flasche«, sagte Deirdre. »Aber er hatte bloß ’ne Rasierklinge.«

Kurz darauf hörte Byrne, dass die Tür geöffnet und geschlossen wurde, und hob den Blick.

Es war Mr. Marseille. Aus irgendeinem Grund sah Byrne ihn jetzt als den sechsjährigen Jungen, den er im Videofilm in der Praxis der Psychologin gesehen hatte.

Wie hieß sie noch …?

Er erinnerte sich nicht.

»Hat Ihnen unser Tee geschmeckt?« Jetzt war Mr. Marseille wieder der junge Mann.

Byrne schwieg.

»Was haben Sie gesehen?«, fragte Marseille.

Byrne öffnete den Mund, doch kein Laut kam über seine Lippen. Er wusste, was er sagen wollte, konnte aber nicht sprechen.

»Das ist der Blick vom Regal aus, Detective.«

Der junge Mann hatte recht. Teilweise jedenfalls. Einen Augenblick sah Byrne den Raum von oben.

Marseille stand hinter ihm. Byrne versuchte aufzustehen, hatte aber wackelige Beine.

»Kennen Sie Alprazolam?«, fragte Marseille.

Der junge Mann stand wieder vor ihm. Byrne öffnete den Mund. Diesmal gelang es ihm zu antworten. »Ja.«

Marseille hielt ihm seine geöffnete Hand hin. In der Hand lagen zwei ovale blaue Tabletten.

»Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es hilft?«

Byrne glaubte ihm nicht, hatte aber keine andere Wahl. »Ja.«

»Nehmen Sie bitte die Tabletten.«

Byrne nahm sie aus Marseilles Hand, steckte sie sich in den Mund und schluckte sie ohne Wasser.

»Die ersten Gäste sind schon da«, sagte Marseille.

»Was haben Sie ihnen gesagt?«

»Die Wahrheit. Dass Sie verhindert sind.«

»Das ist nicht die Wahrheit.«

Marseille lächelte. »Das Buffet kommt gut bei den Gästen an. Sie langen ordentlich zu. Die hübsche junge Frau mit den dunklen Augen hat versprochen, sich um die Gäste zu kümmern, bis ich zurückkomme.«

Maria Caruso, dachte Byrne.

»In einer halben Stunde bin ich wieder da«, sagte Marseille. »Dann kümmern wir uns um den Anruf.«

Tanz der Toten
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