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Nachdem Jessica dem teils neugierigen, teils besorgten Byrne anvertraut hatte, wem sie ihr blaues Auge verdankte, verbrachten die beiden den Vormittag damit, sich in Spielwarengeschäften umzusehen, wobei Jessica allerdings der Meinung war, dass sie ihre Zeit verschwendeten. Sie hofften, auf eine Puppe zu stoßen, die der vom Gillen-Tatort ähnelte, oder jemanden anzutreffen, der wusste, wo sie eine solche Puppe finden könnten.
Sie hatten zwar im Internet recherchiert und ähnliche Puppen und Porzellanfiguren gefunden, wussten aber immer noch nicht, wo die Puppe vom Tatort gekauft worden war. Manchmal brachte es mehr, die Geschäfte abzuklappern, als im Internet zu suchen.
Als sie in der Stadt eine Pause einlegten und einen Kaffee tranken, erzählte Jessica von den Miniaturdarstellungen und zeigte Byrne die Fotos auf ihrem iPhone. Er war ebenso beeindruckt, wie Jessica selbst es gewesen war.
Josh Bontrager und Maria Caruso leiteten die Ermittlungen im Doppelmord an den Gillen-Brüdern. Während Jessica und Byrne versuchten, etwas über die Puppe herauszubekommen, befragten Josh und Maria die Lehrer und Schüler an der Schule der getöteten Jungen.
Alle vier Detectives wollten später mit ihren Vorgesetzten zusammentreffen und die neuen Erkenntnisse miteinander abgleichen. Es gab keinen Zweifel, dass zwischen den Morden irgendeine Verbindung bestand.
Der fünfte Spielzeugladen, den sie an diesem Morgen aufsuchten, hieß Toy Chest und war in einem umgebauten Reihenhaus in der Germantown Avenue in Chestnut Hill untergebracht. Im Schaufenster war ein breites Spektrum des Angebots ausgestellt: Spiele, Puzzles, Puppen, Actionfiguren, Modelle.
Die beiden Detectives betraten den Laden.
Der Mann, der die Regale auffüllte, war Ende zwanzig, ein großer, spindeldürrer Bursche mit hellbraunem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er trug ein rotes Flanellhemd, eine dunkle Levi’s und schwarze Doc Martens.
Der Mann hob den Blick. »Hallo.«
»Hallo«, sagte Jessica. »Ich bin …«
Ehe sie fortfahren konnte, unterbrach der junge Mann sie. »Wow! Da haben Sie aber ein schönes Veilchen. Ich hoffe, der andere sieht schlimmer aus.«
Byrne interessierte sich plötzlich brennend für ein seltsam aussehendes Brettspiel auf einem der Regale. Er konnte seine Partnerin jetzt nicht ansehen.
»Der andere liegt auf Laurel Hill«, sagte Jessica.
Laurel Hill war der älteste und größte Friedhof in Philadelphia.
Der Bursche im Flanellhemd verstand sofort, was Jessica meinte. »Wahnsinn«, sagte er.
Jessica schaute auf sein Namensschild. Florian.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Florian.
Jessica zeigte ihm ihren Dienstausweis. »Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«
Ein Blick in Florians Gesicht ließ erahnen, dass er schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Man musste keine große Leuchte sein, um zu wissen, dass es dabei um den Besitz von Marihuana gegangen war. Der Blick, den Jessica ihm zuwarf, sagte ihm jedoch, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Vorerst.
Florian zeigte auf die Ladentheke hinten im Geschäft. »Kommen Sie«, sagte er.
Auf dem Weg dorthin schaute Jessica sich das Angebot auf den Regalen an – Winnie Puuh, die zerlumpte Ann, Coco – der neugierige Affe, Kewpie-Puppen, Figuren aus der Sesamstraße, Thomas die Lokomotive und Fancy Nancy. Außerdem gab es Modellbausätze, Kostüme, Burgen, Eisenbahnen, Raketen und sogar altmodische Ausschneidepuppen.
Jessica nahm sich vor, niemals mit Sophie in diesen Laden zu gehen. Sie hatten auch so schon genug Geldprobleme. Ein Besuch mit ihrer Tochter in diesem Geschäft, und sie wäre pleite.
Florian stellte sich hinter die Theke, faltete die Hände und hob den Blick. Er wusste nicht, was ihn erwartete.
Byrne zeigte ihm ein Foto der Puppe, die sie am Tatort des Doppelmordes gefunden hatten. »Wir versuchen herauszufinden, wo diese Puppe gekauft wurde.«
Florian nahm das Foto und betrachtete es aufmerksam, wie es sich für einen engagierten Bürger gehörte. »Die war teuer.«
»Haben Sie die Puppe schon mal gesehen?«, fragte Byrne.
»Speziell diese Puppe nicht, aber ich besuche alle Messen. Ich habe größtenteils neuere Produkte im Sortiment, bin aber stets auf der Suche. Ab und zu schaue ich auch nach, was bei eBay angeboten wird.«
»Warum sagen Sie, die Puppe war teuer?«
»Man kann mit Puppen eine Menge Geld machen. Mit Sammlerstücken, meine ich. Die hier ist vermutlich antik. Sieht aus wie Biskuit.«
»Biskuit? Das kenne ich nur als Kuchenteig.«
»Biskuitporzellan. Ich glaube, unglasiertes Porzellan wird so genannt. Früher wurden Puppen oft aus Biskuitporzellan angefertigt.«
Jessica machte sich eine Notiz. »Sie meinen also, dass man viel Geld machen kann, wenn man Puppen sammelt?«
»Oh ja.«
»Was heißt sehr viel?«
»Wie Sie sehen, bin ich nicht auf Puppen spezialisiert, aber ich habe die Firmenkataloge hier. Barbies sind immer angesagt. Sie würden sich wundern, wie viele Barbie-Kollektionen es gibt. Die Leute bei Mattel sind clever.«
»Wie viel müsste man für eine seltene Barbie hinblättern?«, fragte Byrne.
Florian griff hinter die Ladentheke und durchsuchte einen Stapel Firmenkataloge, bis er den richtigen fand. Er legte ihn auf die Theke, blätterte ihn durch und zeigte den Detectives eine Seite. Auf dieser Seite war eine Barbie abgebildet, die ein kleines schwarzes Kleid und eine Halskette trug, die offenbar aus Edelsteinen bestand. Rechts neben dem Bild war ein kurzer Artikel.
»Das ist die Canturi-Barbie«, sagte Florian. »Ein Unikat.«
Jessica überflog den Artikel und suchte den Preis. »Echt? Fünfhunderttausend Dollar?«
»Und ein paar Zerquetschte. Wenn Sie die Diamanten wegnehmen, wäre es natürlich eine andere Barbie. Wenn es nur um die Puppe geht, ein Original, eine Barbie ohne Schmuck – wie zum Beispiel die Barbie Nummer eins –, ist man mit etwa acht Riesen dabei.«
»Ein Schnäppchen«, sagte Byrne.
»Moderne Puppenjungen sind viel weniger wert. Ein echter G. I. Joe, noch original verpackt, könnte vielleicht achthundert oder so einbringen. Er wurde ab 1978 nicht mehr hergestellt.«
»Warum nicht?«
»Weiß ich nicht genau. Als die Produktion eingestellt wurde, war die Figur ungefähr achtundzwanzig Zentimeter hoch. Als sie 1983 wieder auf den Markt kam, hatte sie nur noch eine Größe von rund neun Zentimetern. Ich wünschte, ich hätte noch original verpackte Figuren, das kann ich Ihnen versichern. Aber da kann man suchen, bis man schwarz wird.«
»Hätten Sie eine Idee, welches Geschäft in Philadelphia sich auf diese Puppen spezialisiert haben könnte?«, fragte Byrne.
Er hatte offensichtlich keine Lust mehr, auf der Suche nach Informationen über Puppen durch ganz Philadelphia zu fahren.
Florian nahm das Foto wieder in die Hand und betrachtete es aufmerksam. Sein kleiner Drogenvorrat motivierte ihn vielleicht, so gut wie möglich mit der Polizei zusammenzuarbeiten.
Jessica nutzte die Gelegenheit, um Byrne fast unhörbar zuzuflüstern: »Suchen, bis man schwarz wird …«
Byrne zuckte mit den Schultern und lächelte.
Florian hob den Blick. »Ich wüsste nicht, wo in Philadelphia. Könnte sein, dass Sie nach New York müssen.« Er gab Byrne das Foto zurück. »Sie können auch im Internet suchen oder bei eBay.«
Als Detective bei der Mordkommission hatte Jessica schon oft versucht, Verkäufe im Internet zurückzuverfolgen. Doch allein schon bei dem Gedanken, wie aufreibend es war, die notwendigen richterlichen Beschlüsse zu bekommen, um einen Online-Händler zu zwingen, den Ermittlern alle Unterlagen auszuhändigen, fühlte sie sich ausgelaugt.
Bevor sie das Geschäft verließen, klingelte ihr Handy.
Es war Bethany Quinn.
Und Jessica wurde in ihrem Glauben bestärkt, dass persönliches Vorsprechen sich häufig auszahlte.
Bethany Quinn öffnete Jessica die Tür. Heute sah die junge Frau noch schwangerer aus als beim letzten Mal.
»Das haben wir in der Truhe meines Großvaters gefunden«, sagte sie nach kurzer Begrüßung.
»Auf dem Speicher?«
»Ja.«
»Ich hoffe, Sie sind nicht auf die Leiter gestiegen.«
»Nein. Ich habe meinen Mann darum gebeten.«
»Manchmal sind Männer ganz nützlich.«
»Er wusste natürlich, dass Sie vorbeikommen. Als ich den Namen Ihres Vaters erwähnt habe, hat er sich sofort bereit erklärt, auf dem Speicher nachzuschauen. Ihr Vater ist so etwas wie eine Legende bei der Polizei.«
»Sagen Sie es ihm bitte nicht.«
Bethany lächelte und legte einen Finger auf die Lippen.
Jessica schaute auf die große, künstlerisch gestaltete Visitenkarte. Sie war ziemlich ausgefallen und stammte definitiv aus einer anderen Zeit.
Es war eine Straße in West-Philadelphia. Das Geschäft hieß Secret World.
»Wissen Sie, ob es den Laden noch gibt?«, fragte Jessica.
»Keine Ahnung«, erwiderte Bethany. »Mein Mann hat aber ein paar alte Rechnungen von Secret World in der Truhe gefunden. Ich bin ziemlich sicher, dass mein Großvater ein paar seiner Puppen dort gekauft hat.«
Jessica hielt die Visitenkarte hoch. »Das war sehr nett von Ihnen.«
»Kein Problem.«
»Alles Gute für Sie.«
Bethany zuckte zusammen und drückte sich eine Hand ins Kreuz. »Danke. Übrigens, Sie wissen ja, dass mein Mann auch bei der Polizei ist.«
»Ja«, sagte Jessica. »Richten Sie ihm meinen herzlichsten Dank aus.«
»Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass es sein größter Wunsch wäre, eines Tages in der Mordkommission zu arbeiten.«
Jessica lächelte. Ihr fiel spontan die Redewendung ein: Eine Hand wäscht die andere. Sie beneidete diese Frau um ihre Jugend und ihr Vertrauen. »Wie heißt Ihr Mann?«
»Danny. Police Officer Daniel Joseph Quinn. Er arbeitet im dritten Revier.«
»Ich werde es nicht vergessen«, versprach Jessica.
Auf dem Weg zum Wagen rief sie die Nummer auf der Visitenkarte an. Eine Ansage auf dem Anrufbeantworter begrüßte sie und teilte ihr mit, dass das Geschäft montags, donnerstags und samstags von zwei bis zwanzig Uhr geöffnet sei.
Jessica schaute auf die Uhr. Es war zehn vor zwei an einem Donnerstag.
Sie und Byrne fuhren nach West-Philadelphia.