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Jessica beschloss aus verschiedenen Gründen, nur alkoholfreie Getränke zu sich zu nehmen. Nicht zuletzt, weil sie nicht wusste, welche Überraschungen dieser Abend noch bereithielt.
Sie glaubte nicht eine Sekunde, dass die Geschichte, die Byrne ihr erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Irgendetwas war da faul. Er wollte, dass sie es wusste, aber er hatte nicht die Möglichkeit, es ihr zu sagen.
Sie rief Paul DiCarlo an, doch nur die Mailbox schaltete sich ein.
Anschließend versuchte sie es in der Abteilung für Spezialermittlungen. Wie erwartet war Byrne am heutigen Abend nicht dort aufgetaucht.
Als Nächstes rief sie im Roundhouse an. Was sie erfuhr, war verwirrend, aber nicht überraschend. Cassandra White war freigelassen worden. Die Einzelheiten kannte Dana Westbrook nicht. Der leitende Ermittler Kevin Byrne und der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Paul DiCarlo hatten die Freilassung veranlasst. Damit war die Sache erledigt.
Fast jeder Detective hätte sich damit zufriedengegeben.
Es sei denn, man war die Tochter von Lieutenant Peter Giovanni.
Jessica Giovanni Balzano wusste, dass hier etwas faul war.
Obwohl Byrne gesagt hatte, er käme erst um Mitternacht, ging Jessica alle paar Minuten hinaus auf die Veranda und hielt nach seinem Wagen Ausschau.
Um elf Uhr war die Party in vollem Gange. Fast vierzig Personen waren gekommen. Sophie hatte sich mit Maria Carusos Nichte Jennifer angefreundet. Sie saßen in einer Ecke und quasselten munter drauflos.
Auch Paddy Byrne und Colleen waren da. Paddy, der heute als vollendeter Gentleman auftrat und zudem das älteste Mitglied des Familienclans war, vertrat seinen Sohn als Gastgeber und Barkeeper. Er war in seinem Element.
Jessica schaute zum hundertsten Mal auf die Uhr und stellte sich im Salon neben den Kamin. Neben ihr stand ein junger Mann Ende zwanzig, der als Laborant in der Kriminaltechnik arbeitete. Jessica erinnerte sich weder an seinen Namen noch daran, was genau er dort machte. Die Mitarbeiter der Kriminaltechnik hatten ihre eigenen Arbeitszeiten.
Der junge Mann hatte schon einiges getrunken und lehnte sich allein schon deshalb gegen die Wand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dennoch bewegte er sich gleichmäßig im Rhythmus der Musik.
»Sie sind Detective Baldacci, nicht wahr?«, fragte er.
»Balzano.«
Der junge Mann wurde purpurrot. Im ersten Moment schien er zu glauben, sein Schnitzer könnte ein Kündigungsgrund sein. »Tut mir leid.«
»Kein Problem.«
Er streckte die Hand aus. »Ronnie Meldrum. Ich arbeite im Drogenlabor.«
Jessica reichte ihm die Hand. Sie waren sich schon einmal begegnet, aber sie sah keinen Grund, ihn darauf hinzuweisen.
Meldrum hob seine Bierflasche und zeigte damit auf die Stereoanlage.
»Clapton«, sagte er.
»Was ist mit ihm?«, fragte Jessica.
»Ich wusste nicht, dass es davon eine Liveversion gibt. Das ist echt klasse. Muss ich mir unbedingt besorgen.«
Jessica lauschte aufmerksam. Sie kannte den Song, wusste aber im Augenblick nicht, wie er hieß. »Welcher Song ist das noch mal?«
»After Midnight«, sagte Meldrum. »Dieser Song ist auf Claptons erstem Soloalbum, glaube ich, aber er hat ihn nicht geschrieben. Soviel ich weiß, er ist von J. J. Cale.«
»Ah«, sagte Jessica. »Okay.«
After Midnight. Seltsamer Zufall, dass Byrne gesagt hatte, er sei nach Mitternacht wieder zu Hause. Und genau dieser Song war auf seiner Playlist.
Mit einem Mal wurde ihr alles klar.
Als sie mit Byrne telefoniert hatte, war sie noch zwei Straßen von seinem Haus entfernt gewesen. Dennoch hatte sie den Song von Clapton durchs Telefon gehört.
Die Musik war zwar leise, aber zu verstehen.
Jetzt war Jessica sich ganz sicher.
Byrne hielt sich hier auf.
Hier, in diesem Haus.