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Sie trafen sich in der Notaufnahme des Penn Presbyterian Hospitals.
Als Byrne eintraf, telefonierte Jessica gerade mit Sergeant Dana Westbrook und informierte sie über die neuesten Ereignisse. Westbrook sagte, dass Detectives der Mordkommission in dem Puppengeschäft nach Spuren des Mädchens suchten; außerdem wurde die Nachbarschaft befragt.
Als Jessica sah, dass Byrne den Warteraum der Notaufnahme durchquerte, beendete sie das Gespräch. Sie erzählte ihm vom Treffen mit dem Drogendealer Denny Wargo und zeigte ihm das Phantombild, das leider nicht besonders aussagekräftig war. Wargo hatte sich dreimal mit dem jungen Mann getroffen, den er Mercy nannte, jedes Mal auf dem Parkplatz des Ark. Der Deal wurde in der Dunkelheit durch die Fenster beider Autos abgewickelt, deshalb sah Wargo höchstens drei Viertel des Profils.
Mercy war ein Weißer mit dunklem Haar und ohne Bart.
Nicht gerade viel.
Es gab aber auch eine gute Nachricht. Wenn die spezielle Pilzzüchtung, deren Wirkstoff im Blut von Nicole Solomon sowie der Gillen-Brüder nachgewiesen werden konnte, in Philadelphia gekauft oder angebaut worden war, hatte der Unbekannte die Pilze oder das Zubehör für den Anbau bei Denny Wargo gekauft.
Jessica und Byrne waren überzeugt davon, dass die Phantomzeichnung den Mann zeigte, den sie suchten.
»Wie geht es Miss Emmaline?«, fragte Byrne.
»Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen. Die Ärzte sagen, ihr Zustand ist stabil.«
»Hat sie noch etwas gesagt?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war im Rettungswagen und in der Notaufnahme auch noch kurz bei ihr, dann haben sie mich rausgeworfen. Ab und zu hat sie irgendwas gemurmelt, was aber keinen Sinn ergab.«
»Und du bist sicher, das Mädchen im Geschäft hat das getan?«
»Ich war in meinem ganzen Leben nie sicherer«, sagte Jessica. »Das Mädchen, das im Geschäft gearbeitet hat, ist auch das Mädchen, das auf der Kassette zu hören ist. Ich habe sie mir in der letzten Stunde zehnmal angehört. Das ist sie.«
»Und im Laden hat noch ein Mädchen gearbeitet, sagst du?«
Jessica nickte. »Die Kriminaltechnik sucht nach Spuren von ihr. Dana Westbrook sagte mir, sie habe für keines der beiden Mädchen Abrechnungen gefunden. Vermutlich hat Miss Emmaline sie bar bezahlt. Die Detectives aus dem zuständigen Revier fragen in der Nachbarschaft, ob jemand die Mädchen kennt.«
Byrne dachte darüber nach.
»Im Laden sind überall glatte Oberflächen«, fuhr Jessica fort. »Die Puppen bestehen aus Plastik und Porzellan, die Theke und die Schaufenster aus Glas. Falls wir die Fingerabdrücke des Mädchens im System haben, finden wir sie.«
»Wie alt war sie ungefähr?«, fragte Byrne.
»Siebzehn, vielleicht ein bisschen älter.«
Die Chance, das Mädchen im System zu finden, war eher gering. Und dann stellte sich natürlich die Frage, ob ein Mädchen in diesem Alter tatsächlich in so grausame Verbrechen verstrickt sein könnte. Große Hoffnungen machten die Detectives sich nicht, aber es war immerhin eine Spur.
»Josh hat nachgesehen, ob Nicole und die Gillen-Brüder bei Facebook und Twitter angemeldet waren.«
»Und?«
»Alle hatten Facebook-Accounts, aber nur Nicole war bei Twitter angemeldet. Bis jetzt hat Josh noch keine Hinweise auf einen Kontakt zwischen den dreien gefunden.«
»Was ist mit Mary Gillen?«, fragte Byrne. »Wirst du etwas gegen sie unternehmen? Immerhin hat sie dich tätlich angegriffen.«
Jessica schüttelt den Kopf. »Sie geht auch so schon durch die Hölle. Ich finde, ich sollte die Sache auf sich beruhen lassen.«
Ein Rettungswagen fuhr in die Haltebucht der Notaufnahme vor der Schiebetür aus Glas. Jessica und Byrne traten zur Seite. Ein Sanitäter schob einen älteren Mann herein, während er ihm ein Eispack auf die Stirn drückte. Das Team der Notaufnahme kümmerte sich um ihn.
»Ich bleibe noch einen Moment«, sagte Jessica. »Dann fahre ich nach Woodside.«
Die Woodside Health Group war ein Wohlfahrtsverband, der medizinische Dienstleistungen anbot. Das Angebot reichte von häuslicher Pflege über Sportkurse bis hin zu Psychotherapie. David Solomon hatte sechs Jahre bei Woodside gearbeitet, bevor er nach AdvantAge gewechselt war.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Byrne.
»Ich mach das schon. Könntest du Sophie nach Hause bringen?«
»Klar. Ich muss nur kurz an meinem neuen Haus vorbei. Dauert aber höchstens eine Stunde.«
Bei der Woodside Health Group traf Jessica sich mit der Geschäftsführerin, einer Endfünfzigerin namens Jane Grasson.
Jessica erklärte ihr kurz, was passiert war und weshalb sie mit ihr sprechen wollte. Es ging um den Selbstmord von David Solomon.
»Das ist ja furchtbar!«, stieß Mrs. Grasson hervor. »Ich kann es kaum glauben.«
Jessica wartete einen Moment, ehe sie der Geschäftsführerin die erste Frage stellte. »Wie lange hat Mr. Solomon bei Ihnen gearbeitet?«
»Nicht sehr lange. Nur ein paar Jahre.«
»Und Sie haben ihn kennengelernt, als er hier angefangen hat?«
»Ja.«
»Würden Sie sagen, dass Sie ihn gut kannten?«
Die Frau dachte kurz nach. »So gut, wie man Kollegen kennt. Ein kleiner Umtrunk an einem Geburtstag oder vor den Feiertagen. Privat haben wir nicht miteinander verkehrt.«
»Haben Sie ihn jemals zu Hause besucht? Oder er sie?«
»Nein.«
»Haben Sie seine Frau kennengelernt?«, fragte Jessica.
»Nein, auch nicht. Er hat aber oft über sie gesprochen.«
»Was hat er denn gesagt?«
»Nichts Besonderes, aber man hat gemerkt, dass er sie sehr geliebt hat. Sie wissen bestimmt auch, dass manche Leute abfällig über ihre Ehepartner sprechen. Als könnten sie nichts Nettes über sie sagen.«
»Ja.«
»David Solomon war das genaue Gegenteil. Er hat immer sehr liebevoll über seine Frau und seine kleine Tochter gesprochen.«
»Sie meinen Nicole?«
»Ja«, sagte Mrs. Grasson. »Sie wurde geboren, als David hier gearbeitet hat.«
Jessica machte sich eine Notiz. »Was können Sie mir zu seiner Arbeit hier sagen?«
»Sie können sich bestimmt vorstellen, dass man mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt kommt, wenn man sich als Sozialarbeiter um psychisch Kranke kümmert. Mehr als einmal sprach David über den einen oder anderen besonders schwierigen Patienten – ohne natürlich jemals ins Detail zu gehen – und die Möglichkeit, dass er dieser Person vielleicht nicht die richtigen Ratschläge geben könne oder sie nicht die richtige Behandlung bekäme.«
»Inwiefern?«
Jane Grasson schien zu überlegen, wie sie sich am besten ausdrücken konnte. »Wie Sie wissen, arbeitet Woodside auch für die Strafvollzugsbehörde. Es ist zwar kein kostenloses Angebot, aber unsere Dienstleistungen werden für kaum mehr als die Fahrtkosten und eine Aufwandsentschädigung angeboten. Wenn man als Sozialarbeiter in diesem Bereich tätig ist, hat man es mit den unterschiedlichsten Patienten zu tun. Das geht von leichten Depressionen bis hin zu bipolaren Störungen. Die Möglichkeiten, die ein Sozialarbeiter in diesem Bereich hat, sind durch seine Ausbildung und gesetzliche Vorgaben leider begrenzt.«
»Hatte Mr. Solomon Angst um seine Sicherheit?«
»Ja. Mehr als einmal habe ich ihn sagen hören, dass er Angst davor habe, einer seiner Patienten könne ihn nach der Haftentlassung oder dem Ende der Resozialisierung für seine Probleme zur Rechenschaft ziehen. Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Übertragungen.«
Jessica wusste nicht viel darüber, wohl aber, dass der Begriff der Übertragung in der Therapie sich darauf bezog, dass der Patient Gefühle für eine wichtige Person in seinem Leben auf den Therapeuten übertrug.
»Erinnern Sie sich, ob Mr. Solomon jemals in Bezug auf einen bestimmten Patienten Bedenken oder Ängste geäußert hat?«
»Nein.«
»Aber Sie glauben, dass er sich um die Sicherheit seiner Familie sorgte?«
»Ja«, sagte Jane Grasson. »Das glaube ich.«