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Das große, im Kolonialstil gebaute Haus der Skolniks mit seinem gepflegten Grundstück stand in West Mount Airy. Jetzt erhellte das Blaulicht der beiden Streifenwagen, die am Straßenrand standen, die Fassade.
Als Jessica und Byrne eintrafen, sahen sie Dana Westbrook vor der Eingangstür auf dem Bürgersteig. Neben ihr stand ein großer, sonnengebräunter, gut gekleideter Mann um die fünfzig.
Die beiden Detectives hängten die Dienstmarken an ihre Mäntel.
»Mr. Skolnik, das sind Detective Byrne und Detective Balzano«, sagte Westbrook. Sie reichten sich die Hände. Dass – abgesehen von den Streifenpolizisten und Detectives – auch Westbrook bereits vor Ort war, ließ erkennen, dass sie die Möglichkeit eines weiteren Mordes todernst nahmen. Natürlich spielte auch die gesellschaftliche Stellung des Anwalts Marvin Skolnik eine Rolle.
»Ich hatte den ganzen Nachmittag Besprechungen«, sagte Skolnik. »Mein Handy war ausgeschaltet. Julies Nachricht habe ich erst vor fünf Minuten abgehört. Auf dem Weg hierher habe ich Andi sofort auf dem Handy und dem Festnetzanschluss angerufen. Leider konnte ich sie nicht erreichen.«
»Hält sich im Augenblick noch jemand in Ihrem Haus auf?«, fragte Byrne.
Skolnik schüttelte den Kopf. »Meine Frau und mein Sohn sind in unserem Häuschen in Key West.«
»Wo arbeitet Ihre Tochter?«
»In der King of Prussia Mall.«
»In welchem Geschäft?«
Der Anwalt sah ein wenig verlegen aus. »Das weiß ich nicht«, gestand er.
»Sind Sie sicher, dass sie nicht zu Hause ist?«, fragte Byrne.
»Ich habe überall nachgesehen«, antwortete Skolnik. »Sie ist nicht zu Hause. Aber sie war vorhin noch da, das weiß ich genau.«
»Woher?«
»Ich war in ihrem Zimmer. Normalerweise ist es immer sehr aufgeräumt. Außerdem habe ich den Duft ihres Lieblingsparfums gerochen. Sie trägt es nur bei besonderen Gelegenheiten auf. Es ist sehr teuer.«
»Wissen Sie, ob sie zu einer Feier oder einer Hochzeit eingeladen ist?«, fragte Byrne.
»Das glaube ich nicht. In der Diele hinten im Haus hängt ein großer Monatsplaner. So ein Whiteboard, das man trocken abwischen kann. Wir schreiben alle unsere Termine dort auf, jeder benutzt eine andere Farbe. Andi nimmt immer einen roten Stift. Für heute hat sie aber nichts eingetragen.«
»Würden Sie bitte Ihre Frau anrufen und sie fragen?«
»Das habe ich gerade«, sagte Skolnik. »Es ging nur die Mailbox an. Dasselbe bei meinem Sohn. Vielleicht sind sie ins Kino.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns kurz im Haus und im Garten umsehen?«, fragte Byrne.
»Aber nein.«
Jessica, Byrne, Bontrager und Maria Caruso betraten das Haus. Jessica und Maria nahmen die Treppe in den ersten Stock, während Byrne und Josh sich im Erdgeschoss umsahen.
Im ersten Stock waren vier Zimmer und zwei Badezimmer – alle aufgeräumt und sauber.
Als Jessica Andis Zimmer betrat, wusste sie sofort, was Marvin Skolnik gemeint hatte. Auf dem Boden lagen ein paar Kleidungsstücke. Jessica hob einen dunklen, langärmeligen Pullover auf. Am Pullover hing ein Etikett von American Apparel.
Jessica zog ihr iPhone aus der Tasche, suchte die Nummer von America Apparel in der King of Prussia Mall heraus und wählte. Es dauerte nicht lange, bis sich jemand meldete.
»Danke, dass Sie bei American Apparel anrufen. Hier ist Martina. Was kann ich für Sie tun?«
»Martina, ich bin Jessica Balzano vom Philadelphia Police Department. Es besteht kein Grund zur Sorge, aber ich muss Ihnen schnell ein paar Fragen stellen.«
»Hm, okay.«
»Ich versuche Andrea Skolnik zu erreichen. Ist sie zufällig da?«
»Andi? Nein, ich glaube, sie hatte um vier Uhr Feierabend. Ich schaue mal nach.«
Jessica hörte, dass die Frau auf die Tastatur tippte.
»Ja. Sie hatte um vier Uhr Schluss. Morgen um zwölf ist sie wieder hier. Soll ich ihr etwas ausrichten?«
»Haben Sie sie heute schon gesehen?«
»Ja. Ich war so gegen zwei Uhr im Einkaufscenter. Ich wollte noch ein bisschen shoppen.«
»Und da haben Sie Andrea gesehen?«
»Ja. Sie saß in einem der Cafés.«
»War sie allein?«
»Nein«, sagte Martina. »Sie saß mit diesem süßen Typen da.«
»Könnten Sie ihn beschreiben?«
»Ein gut aussehender Kerl mit dunklem Haar. Er trug einen Anzug. Ein echter Traummann.«
»Haben Sie ihn vorher schon mal gesehen?«
»Auf keinen Fall. An den würde ich mich erinnern.«
»Haben Sie gesehen, ob die beiden gemeinsam weggegangen sind?«
»Nein. Als ich um Viertel vor vier ins Geschäft kam, war Andi hinten. Als sie gegangen ist, hatte ich Kundschaft. Wir haben nur gewunken. Ich wollte sie noch nach Mister Movie Star fragen, aber da war sie schon verschwunden.«
»Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer«, sagte Jessica. »Falls Sie etwas von Andrea hören, sagen Sie ihr bitte, sie möchte mich anrufen.«
»Mach ich.«
Jessica gab Martina ihre Handynummer und legte auf. Dann schaute sie sich im Zimmer des Mädchens um.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie saß mit diesem süßen Typen da …
Wo bist du, Andrea? Was ist dir zugestoßen? Was machst du jetzt, in dieser Sekunde?
Als Jessica den Blick hob und Byrne in der Tür stehen sah, wusste sie Bescheid.