28
Als Josephine Beckert die Treppe zum letzten Mal hinaufstieg, klapperten die Fenster des alten Hauses im Sturm.
Am frühen Abend verteilte Valerie ein halbes Dutzend Töpfe und Schüsseln im zweiten Stock, um den Regen aufzufangen, der durch die Löcher im Dach fiel, wo die Ziegel fehlten.
An Abenden wie diesem – im Grunde an allen Abenden – zog Josephine sich nach dem Abendessen in den Salon zurück und entfachte das Feuer im Kamin, sogar im Juni und Juli, weil sie der Meinung war, dass ihre Arthritis die Wärme brauchte, obwohl es im Sommer oft über dreißig Grad waren.
Josephines schwerer Körper sank in ihren Lieblingssessel neben dem Kamin, einen schmutzigen Ohrensessel mit einem grauen Samtbezug, dessen Federn sich bereits unter dem Stoff abzeichneten, denn Josephine wurde immer korpulenter.
Auf dem Tisch neben dem Sessel lag alles, was sie brauchte: zwei Schachteln Pralinen, eine Schachtel Zigaretten, ein Kristallaschenbecher und eine Flasche Spiced Rum, den sie manchmal mit Cola Light mischte.
Zuerst quälte Josephine sich noch jede Stunde aus dem Sessel hoch, um Eis für ihre Drinks zu holen, doch nach einer Weile wurde es ihr zu anstrengend, und sie trank den Rum mit warmer Cola.
Als der Abend sich dem Ende zuneigte und Pralinenschachtel sowie Rumflasche fast leer waren, las Josephine Liebesromane. Hin und wieder brach sie in Tränen aus oder begann zu singen, meistens Herz-Schmerz-Schnulzen, vielleicht in Trauer um ihre zerbrochenen Liebschaften und ihre rasch verblühte Schönheit. Josephine bewahrte ihre Liebesromane niemals auf. Sobald sie einen zu Ende gelesen hatte, warf sie ihn ins Feuer und schimpfte oft dabei.
Als die Standuhr in der Eingangshalle elf Uhr schlug, quälte Josephine sich aus dem Sessel hoch, fachte die restliche Glut im Kamin an, führte die Flasche Rum an die Lippen und trank den letzten Schluck. Dann schlurfte sie zur Treppe und stieg sie langsam hinauf. Sie stellte immer beide Füße auf eine Stufe und legte nach drei, vier Stufen eine Pause ein.
Als sie die letzte Stufe erreichte, musste sie längere Zeit verschnaufen, wie jedes Mal. Valerie wusste das genau. Josephine umklammerte den Treppenknauf und zog sich bis zum Treppenabsatz hoch.
In dieser verregneten Nacht wartete Valerie im Schutz des großen Wandschranks. Mit geschlossenen Augen zählte sie die Sekunden.
Und dann geschah es.
Zuerst hörte Valerie, dass der Treppenknauf, den sie gelockert hatte, auf den Boden fiel. Eine Sekunde später stürzte Josephine die Treppe hinunter. Das Geräusch ihrer berstenden Knochen auf den Eichenstufen hallte durchs Haus.
Als Stille eintrat, schloss Valerie die Augen und lauschte auf weitere Geräusche – einen Schmerzensschrei, einen Hilferuf, Josephines leises Stöhnen, als sie ihr Leben aushauchte.
Eine ganze Weile bewegte Valerie sich nicht.
Sie hörte nichts mehr.
Schließlich öffnete sie die Schranktür und schlich die Treppe hinunter.
Mit weit aufgerissenen Augen lag Josephine ausgestreckt auf den unteren vier Stufen. Das Treppengeländer war am unteren Pfosten herausgebrochen.
Der Geruch von Rum und Galle vermischte sich mit dem Gestank von Ausscheidungen. Offenbar hatte Josephines Darm sich bei dem Sturz entleert. Es roch so scheußlich, dass Valerie sich die Nase zuhielt.
Bevor sie die Polizei rief, versteckte sie ihren wertvollsten Besitz, ihre Tagebucheinträge und die Zeichnungen, die sie als Kind im Keller ihres Elternhauses angefertigt hatte. Sie wusste nicht, ob die Leute, die in dieses Haus kommen würden, etwas mit den Texten und Zeichnungen anfangen konnten, aber dieses Risiko wollte sie gar nicht erst eingehen, denn sie war überzeugt, dass niemand davon erfahren durfte.
In dem großen Haus gab es viele gute Verstecke, aber keines, dem Valerie vollends vertraute. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, die Aufzeichnungen aus ihrer Kindheit im Kamin zu verbrennen, aber selbst die Asche würde ihre Geheimnisse verraten.
Valerie schlich ins Wohnzimmer. An einer Wand hing ein großes, verstaubtes Gemälde. Sie stellte sich auf einen Stuhl und nahm das Bild ab. Mit einem kleinen Küchenmesser schnitt sie ein Loch in den Putz. Als das Loch groß genug war, rollte sie die Blätter mit ihren Aufzeichnungen zusammen und schob sie hinein. Sie hörte, wie sie hinunterfielen. Falls sie die Blätter jemals wieder brauchte, könnte sie unten in die Wand ein zweites Loch schneiden.
Als Valerie das Gefühl hatte, nichts vergessen zu haben, bereitete sie sich vor.
Sie hielt einen Augenblick die Luft an, ehe sie den Hörer abhob. Dann rammte sie sich ein halbes Dutzend Mal die Faust in den Bauch, bis ihr der Atem stockte und ihre Stimme so verzweifelt klang, wie sie klingen sollte.
Atemlos wählte sie die Nummer der Polizei.
»Meine Tante, meine Tante!«, keuchte sie in den Hörer. »Sie ist die Treppe hinuntergefallen. Sie müssen sofort kommen!«
Nach all den Tränen, dem Kummer, den Formalitäten und dem Gespräch mit dem Bestattungsunternehmer saß Valerie drei Stunden später auf der obersten Stufe und schaute die Treppe hinunter.
Es gefiel ihr, dort oben zu sitzen, unerreichbar für schmutzige kleine Kinderhände. Dieser Aussichtspunkt bot ihr einen klaren Horizont.
Mit Hilfe eines Mannes namens Albert Hustings – einem Anwalt, der keine Probleme hatte, sein Honorar in bar entgegenzunehmen – wurde Valerie innerhalb von zwei Wochen die Besitzerin des Hauses in Wynnefield. Sie hatte ein Jahr gebraucht, um ihre Tante, wenn diese nach den zahlreichen Drinks schon ein wenig verwirrt war, dazu zu bewegen, alle notwendigen Dokumente zu unterschreiben. Valeries Hartnäckigkeit zahlte sich aus.
Am nächsten Morgen stand sie früh auf und machte sich ein einfaches Frühstück. Um sieben Uhr setzte sie sich im Salon ans Fenster.
Morgen würde sie dem Mädchen mit der Augenklappe folgen. Es hieß Nancy Brisbane.
Sie würde Nancy behalten, und sie würden für immer Freunde sein.