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Als Byrne nach Hause fuhr, gingen ihm tausend Dinge durch den Kopf.
An erster Stelle stand die Frage, welche Verbindung es zwischen Nicole Solomon und den Gillen-Jungen gab. Bisher hatten sie nichts gefunden. Die Opfer besuchten unterschiedliche Schulen, Kirchen und Sportclubs, und soweit sie bisher wussten, kannten die Familien sich nicht. Die Ermittler wussten auch noch nicht, welche Beziehung zwischen Richter Gillen und David Solomon bestand, falls es tatsächlich Michael Gillen war, den Solomon hatte erreichen wollen.
Ehe Byrne das Krankenhaus verließ, erfuhr er, dass der Arzt in der Notaufnahme Miss Emmaline auf Bitten der Mordkommission Blut abgenommen hatte, um es untersuchen zu lassen. Heute Abend würden sie wissen, ob in Emmalines Blut Psilocin nachgewiesen werden konnte und ob es sich um dieselbe Substanz handelte wie in Nicole Solomons Blut.
Als Byrne sich seinem Haus näherte, sah er ein Stück weiter zwei Pick-ups am Straßenrand stehen, einen Ford F150 und einen Dodge 1500. Auf der Ladefläche eines der Fahrzeuge lagen die Bretter und Stangen eines Baugerüsts. Die des anderen wurde von einer Kunststoffschutzauflage bedeckt, auf der eine große Werkzeugkiste stand.
Byrne freute sich. Wenn auch andere Hausbesitzer Reparaturen an ihren Häusern vornehmen und sie instand setzen ließen, kam das der ganzen Straße zugute.
Byrne fuhr in seine Einfahrt und parkte den Wagen.
»Wahnsinn!«, rief Sophie. »Dein Haus ist echt cool.«
»Danke.«
Als Byrne ausstieg und die Einfahrt hinuntergehen wollte, stockte ihm der Atem.
Im Garten hinter dem Haus stieg Rauch in den Himmel auf.
»Bleib hier«, sagte er zu Sophie.
Sie stieg wieder in den Wagen.
Seitdem Byrne bei der Polizei arbeitete, vor allem als junger Cop bei der Schutzpolizei, hatte er unzählige Häuser betreten, ohne zu wissen, welche Gefahr ihn dort erwartete. Es gehörte zu dem Job, nicht darüber nachzudenken.
Als er nun zur Garage rannte, rechnete er damit, dass die Veranda hinter dem Haus, vielleicht sogar die gesamte Rückseite des über neunzig Jahre alten Gebäudes, das seit mehr als zehn Jahren nicht mehr bewohnt wurde, in Flammen stand.
Byrne hatte die Notrufnummer der Feuerwehr bereits auf seinem iPhone eingegeben, als er um die Ecke bog. Am Ende der Einfahrt blieb er stehen.
Sein Haus brannte nicht.
Im Garten hinter dem Gebäude hielten sich ungefähr fünfzehn Männer auf. Aus irgendeinem Grund waren alle gleich gekleidet – Strohhut, Overall, Arbeitsstiefel. Bis auf einen trugen alle Männer Bärte. Sie saßen in einem Halbkreis auf der Erde und rauchten Maiskolbenpfeifen.
Byrne schwor sich, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. Er wollte gerade etwas sagen, als einer der Männer aufstand. Er war der Einzige, der keinen Bart trug.
»Kevin!«, sagte er.
Die Stimme des Mannes kam Byrne bekannt vor, aber nicht sein Aussehen.
Dann nahm der Mann den Strohhut ab.
Es war Josh Bontrager.
»Josh«, sagte Byrne. »Was hat das zu bedeuten?«
Bontrager zeigte auf die anderen Männer. »Ich möchte dir die Jungs gern vorstellen.«
Er begann an einem Ende des Halbkreises. »Das sind Caleb, Abram und Isaac.« Während er die Männer der Reihe nach vorstellte, nahmen sie die Pfeifen aus dem Mund und nickten Byrne zu, pafften dann aber sofort weiter. »Hier drüben haben wir noch einen Caleb – wir nennen ihn Eli’s Caleb – und neben ihm Mark, Lemuel und John.«
Als Josh Bontrager beim letzten Mann ankam, der geschätzte hundertsiebzig Kilo wog, von denen mindestens ein Drittel auf den Bart entfiel, blieb er stehen und erklärte: »Wie immer kommt das Beste zum Schluss. Das ist Silo Mervin.«
»Meine Herren, ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte Byrne. »Willkommen.«
Bontrager stellte sich neben Byrne, setzte den Strohhut wieder auf, schob die Hände in die Hosentaschen des Overalls und wippte auf den Absätzen seiner Arbeitsstiefel. Byrne fand, dass er in diesem Augenblick wirklich aussah wie der Junge vom Lande, der in Berks County aufgewachsen war. Offenbar waren die Männer Verwandte oder Freunde seiner Familie.
»Na?«, sagte Bontrager. »Was meinst du?«
Byrne wollte ihn gerade fragen, was er meinte, als der Groschen fiel. Die Pick-ups am Straßenrand, das Baugerüst auf der Ladefläche des F150 und die mit weißer Farbe befleckten Overalls der Männer in seinem Garten …
Er trat einen Schritt zurück und schaute sich erst jetzt das Haus genauer an.
Es war fachmännisch gestrichen. Jeder Quadratzentimeter, von der Bekrönung an der Giebelwand bis zu den Fensterstürzen, von der Veranda auf der Rückseite bis zur Seitentür erstrahlte in leuchtendem Perlweiß.
»Josh«, sagte Byrne. »Ich …«
Bontrager hob eine Hand und unterbrach ihn. »Ich weiß, ich weiß. Unglaublich, nicht wahr?«
»Ich war doch nur ein paar Stunden weg«, sagte Byrne.
Bontrager schaute auf die Uhr. »Genau vier Stunden und vierzig Minuten.«
»Wie habt ihr das so schnell geschafft?«
Byrne hörte einen der Männer kichern. Vielleicht war es Caleb oder auch Eli’s Caleb.
»Das ist ein außergewöhnliches Team, sogar für amische Verhältnisse«, erklärte Bontrager. Er wandte sich Abram zu. »Erzähle ihm von eurem Rekord, Abram.«
Abram nahm die Pfeife aus dem Mund. »Sieben Scheunen in sechs Tagen.«
Wieder konnte Byrne es kaum glauben. »Was? Sie haben sieben Scheunen in sechs Tagen gestrichen?«
»Nein, wir haben sieben Scheunen in sechs Tagen gebaut«, antwortete Abram. »Und noch einen Silo dazu.«
»Wir mussten die Fenster im ersten Stock ein bisschen ausbessern«, sagte Bontrager. »Zum Glück hatten die Jungs Kitt dabei. Jetzt dürfte alles eine Weile dicht sein. Aber in den Räumen über der Garage müssten irgendwann mal neue Fenster eingesetzt werden.«
Byrne hatte sich mit den Räumen über der Garage noch gar nicht beschäftigt. Das stand ganz unten auf der Liste. »Kann ich kurz unter vier Augen mit dir sprechen, Josh?«
»Klar.«
Die beiden Männer traten ein paar Schritte zur Seite.
»Ich weiß nicht, was die Jungs für ihre Arbeit haben möchten, aber fest steht, dass ich sie auf keinen Fall angemessen bezahlen kann. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Haus professioneller gestrichen wurde. Ich finde, sie sollten den Preis erhalten, den richtige Handwerker bekommen würden. Sogar noch mehr. Sag mir, wie viel, dann fülle ich einen Scheck aus.«
Bontrager warf seinen Freunden einen Blick zu und wippte wieder auf den Fersen. Byrne fragte sich, ob alle Männer mit Strohhüten, in Overalls und Arbeitsstiefeln diese Angewohnheit hatten. Joshs Blick richtete sich wieder auf Byrne. »Ich habe nur eine Frage in dieser Sache.«
»Okay«, sagte Byrne. »Und die wäre?«
»Hast du Bier da?«
Als Byrne einfiel, dass er Sophie ganz vergessen hatte, lief er schnell zu seinem Wagen. Das Mädchen saß auf dem Beifahrersitz und las in aller Ruhe in einem Buch. Byrne ging mit ihr ins Haus, nahm eine Dose Limo aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Küchenzeile. Sophie setzte sich auf einen der beiden Hocker und schlug ihr Buch auf.
»Kommst du noch ein paar Minuten alleine klar?«, fragte Byrne.
»Klar, kein Problem«, erwiderte Sophie. »Das Haus ist super.«
Als Byrne den Kühlschrank erneut öffnete, wurde ihm klar, dass er noch gar nicht richtig verdaut hatte, dass dies hier sein neues Zuhause war. Im Kühlschrank waren Senf, Ketchup, Mayonnaise, ein halbes italienisches Brot, das vermutlich knochenhart geworden war, und ein Sixpack Bier. Byrne nahm das Bier heraus und ging auf die Veranda hinter dem Haus. Er schaute auf die Männer und hielt das Bier hoch.
»Das wird kaum reichen, oder?«, sagte er.
Alle Männer einschließlich Josh Bontrager wandten ihre Blicke Silo Mervin zu.
Silo Mervin schüttelte den Kopf.
»Sind das alles Bontragers?«, fragte Byrne, als die beiden Pick-ups wegfuhren. Er hatte drei Kisten Yuengling besorgt, die er den erfreuten Männern mitgegeben hatte.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Bontrager. »Es sind ein paar Ringenbergs, Beachys, Albrechts, Troyers und ein oder zwei Schrocks.«
»Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, ob die Amischen überhaupt Bier trinken.«
Bontrager lachte. »Mann, du musst öfter mal raus aus der Stadt, Detective.«
»Ich habe Der einzige Zeuge gesehen«, sagte Byrne. »Ich glaube, in Philadelphia ist es sicherer.«
Als sie in die Küche gingen, las Sophie noch immer in ihrem Buch. Die Limonade hatte sie nicht angerührt.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Bontrager.
»Hey, Josh.«
Byrne setzte sich zu Sophie. Sie starrte noch immer auf dieselbe Seite wie vor einer halben Stunde. Irgendetwas stimmte nicht. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sophie nickte, aber Byrne wusste es besser. Das Mädchen sah ängstlich aus.
»Mach dir keine Sorgen um deine Mutter«, sagte er. »Es ist alles okay.«
»Vor ein paar Tagen hat ihr eine Frau einen Faustschlag verpasst.«
»Ich weiß«, sagte Byrne. »Die Frau war furchtbar wütend. So was kommt vor. Ich habe schon oft Faustschläge bekommen.«
Zuerst sah es aus, als würde Sophie lächeln, doch dann verkniff sie es sich und schwieg.
»Ich kenne niemanden, der so hart im Nehmen ist wie deine Mutter«, sagte Bontrager.
Byrne fragte sich oft, wie Sophie wohl damit zurechtkam, dass beide Elternteile Detectives waren. Leicht war es bestimmt nicht.
»Ich habe gehört, du bist eine sehr gute Schwimmerin«, sagte Bontrager.
Sophie zuckte mit den Schultern und tat so, als würde sie eine Fussel von ihrem Pullover zupfen. »Ich bin Zweite geworden.«
»Verbessere mich, wenn ich was Falsches sage, aber das ist doch eine Silbermedaille, oder? Die meisten Leute kommen niemals auch nur in die Nähe einer Silbermedaille. Und du hast gerade erst mit dem Schwimmen angefangen.«
Wieder zuckte Sophie mit den Schultern. »Stimmt schon.«
Byrne öffnete die Dose Limonade, steckte einen Strohhalm hinein und reichte sie Sophie. Das Mädchen trank einen kleinen Schluck.
»Du musst eine Party geben, Kevin«, sagte Bontrager.
»Eine Party?«
»Ja. Eine Einweihungsparty.«
»Ja!«, rief Sophie. »Hier kannst du eine Riesenparty geben!«
»Ich weiß nicht …«
»Alle Häuser müssen eingeweiht werden«, sagte Bontrager. »Vielleicht kommt Donna auch.«
Byrne spürte, dass er errötete. »Woher weißt du das?«
Bontrager warf ihm einen Blick zu, der Byrne daran erinnerte, dass bei der Polizei fast genauso viel getratscht wurde wie in der Schule, vielleicht sogar noch mehr.
Byrne wandte sich Sophie zu. »Kommst du auch, wenn ich eine Party schmeiße?«
»Lädst du mich denn ein?«
»Na klar. Was wäre das für eine Party, wenn du nicht dabei bist?«
Sophie strahlte. Sie ähnelte Jessica immer mehr. »Keine gute jedenfalls. Kommt Colleen auch?«
Offenbar war die Entscheidung, eine Party zu geben, bereits gefallen. »Klar«, sagte Byrne. »Colleen kommt auch.«
»Ich sag den Leuten Bescheid«, erklärte Bontrager. »Soll die Party im großen oder im kleinen Kreis stattfinden?«
Bontrager würde die Information entweder nur ans Schwarze Brett im Roundhouse hängen oder Rundschreiben an die anderen Dienststellen in der Stadt schicken.
»Ich würde sagen, im kleinen Kreis«, erklärte Byrne.
»Finde ich auch.«
Josh Bontrager ging zu seinem Wagen. Byrne schaute ihm nach. Er freundete sich immer mehr mit dem Gedanken an eine Party an. Vielleicht war es genau das, was dieses Haus brauchte. Vielleicht würde eine Party unterstreichen, dass er jetzt tatsächlich ein richtiger Hausbesitzer war.