46

Als Anabelle es mir erzählte, war ich zuerst traurig. Ich hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich es nicht gut fand, dass sie in dem Geschäft arbeiten wollte. Aber das war nur anfangs so. Im Laufe der letzten Jahre begriff ich, wie viel es ihr bedeutete.

Wir spazierten Arm in Arm durch den Park.

»Sei nicht traurig«, sagte ich.

»Ich kann nichts dafür«, erwiderte Anabelle schluchzend.

Als wir zu unserem Wagen zurückkehrten, sah ich, dass zwei Jungen sich offenbar für uns interessierten. Ich schätzte sie auf sechzehn Jahre. Ihr äußeres Erscheinungsbild wies darauf hin, dass sie alles repräsentierten, was ich verabscheute: schlampiges Aussehen, Unsauberkeit, schlechtes Benehmen.

Ich nahm Anabelles Hand, und wir schlenderten weiter in den Park hinein. Es wurde allmählich kühl. Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn über Anabelles Schultern.

»Merci«, sagte sie. Ihre Stimme klang so unsicher wie die eines Kindes. Es brach mir fast das Herz.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Wie ich vermutet hatte, folgten uns die beiden Jungen.

»Wir werden verfolgt«, sagte ich zu Anabelle. Ich spürte, wie sie erstarrte.

Eines sollte man über mich wissen: Ich erhebe niemals die Stimme. Ich war immer der Meinung, dass Lautstärke ein armseliger Ersatz für Inhalte ist. Wenn man kein gutes Argument vorbringen kann, schreit man und hofft, sich dank seiner Aggressivität durchzusetzen.

Ich hasse aggressive Typen.

Seitdem ich mich rasiere, benutze ich ein Rasiermesser. Ich habe viele Messer ausprobiert, aber am besten gefällt mir das Thiers-Issard Eagle mit 1,5 Zentimeter breiter Klinge und Schildpattgriff. Es ist sehr leicht, extrem scharf und liegt gut in der Hand.

Während ich mich umdrehte, zog ich das Rasiermesser aus der Tasche und klappte es im Schutz der einsetzenden Dämmerung auf.

Die beiden Jungen näherten sich uns. Ich fegte mit den Händen die Blätter für Anabelle von einer Bank. Sie setzte sich, während ich den Weg hinunterging und eine Stelle unter ein paar Ahornbäumen wählte, die kaum noch Laub trugen.

Dann begrüßte ich die Jungen.

Sie waren keine drei Meter von mir entfernt.

»Gentlemen«, sagte ich. »Was kann ich für euch tun?«

Die Jungen schauten sich an, als hätte sie noch nie jemand als Gentlemen bezeichnet. Das war natürlich nur zu verständlich.

»Gib mir dein Handy, du Arsch«, sagte einer von ihnen. Er trug eine braune Kapuzenjacke. Auf der linken Seite war in Brusthöhe das Logo eines Sportteams aufgedruckt.

»Tut mir leid, ich habe kein Handy«, antwortete ich. Das war die Wahrheit. Ich kann mir kein Leben vorstellen, in dem man ständig mit nutzlosen Informationen überschwemmt und dann auch noch jede Sekunde des Tages aufgefordert wird, diese zu teilen.

»Ich glaub dir nicht«, sagte der andere Junge. Er war ziemlich dick und trug eine schwarze Kapuzenjacke. »Du siehst aus, als hättest du Knete. Reiche Säcke wie du haben immer ein Handy.« Mit diesen Worten zog er ein Messer von seinem Gürtel. Ich interessiere mich schon mein Leben lang für Messer aller Art und besah es mir genau. Es war ein feststehendes Messer mit vielleicht zwölf Zentimeter langer Klinge.

Ich hielt den Griff meines aufgeklappten Rasiermessers in der geschlossenen Hand, die Klinge hinter meinem rechten Handgelenk verborgen.

»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss«, sagte ich. »Wenn wir nun nichts weiter zu besprechen haben, würde ich gern …«

»Leck mich, Alter!«

Mit zwei schnellen Schritten kam der Junge mit dem Messer auf mich zu. Er hatte den Arm ausgestreckt und hielt das Messer ähnlich wie beim Säbelfechten. Deshalb war er schlecht auf einen Gegenangriff vorbereitet, falls es ihm nicht gelang, mir die Klinge in die Brust zu stoßen.

Der dicke, ein wenig linkische Junge rannte ins Leere, nachdem es mir mühelos gelang, dem Angriff auszuweichen. Als er an mir vorbeilief, hob ich den rechten Fuß und trat ihm mit voller Wucht in die linke Kniekehle.

Er stürzte bäuchlings zu Boden und schnappte nach Luft.

Ich drückte ein Knie auf sein Kreuz, zog ihm die Kapuze vom Kopf und hielt ihm die Klinge des Rasiermessers an den Hals. Allein von dieser leichten Berührung begann die Haut zu bluten. Der Dicke zitterte am ganzen Körper.

»Beweg dich nicht«, flüsterte ich.

Er rührte sich nicht.

Ich musterte den anderen Jungen, der sich gerade noch gemeinsam mit seinem Freund auf mich hatte stürzen wollen. Jetzt stand er da wie erstarrt.

»Das ist ein Thiers-Issard«, sagte ich. »Es besteht aus französischem Stahl und ist unbestritten eines der besten Rasiermesser, die es gibt. Man kann keine bessere Klinge kaufen, abgesehen von einem DOVO vielleicht.«

Ich hatte darauf gehofft, dass der andere Junge keine Waffe bei sich trug. Aber es war ein kalkuliertes Risiko. Und ich hatte recht. Hätte er eine Waffe gehabt, hätte er sie mittlerweile gezogen.

»Jetzt passiert Folgendes. Ich zähle bis drei.« Ich zeigte auf eine Laterne ungefähr vierzig Meter entfernt. »Wenn du in der Zeit, in der ich bis drei zähle, nicht bei der Laterne bist, schneide ich deinem Freund das Rückenmark durch. Er wird überleben, aber das wird kein Spaß. Wenn du dich auch nur einmal umdrehst, schneide ich ihm die Kehle durch.«

Der Junge zitterte wie Espenlaub.

»Ich muss wissen, ob du das verstanden hast. Sag: ›Ich habe verstanden.‹«

Der Junge sagte nichts. Stattdessen nickte er nur. Das genügte mir.

»Eins.«

Ich brauchte nicht bis drei zu zählen.

Als ich die Klinge vom Hals meines Angreifers zog, stieg mir der unverkennbare Gestank von Urin in die Nase. Ehe ich ihm aufzustehen erlaubte, hob ich sein Messer auf und warf es in das Waldstück am Kelly Drive. Es war nur als Schnitzmesser zu gebrauchen.

»Steh auf«, sagte ich.

Der Junge bewegte sich nicht.

»Ich sage nie etwas zweimal.«

Langsam stand der Junge auf, drehte sich aber nicht um.

»Wenn es nur um mich ginge, würden sich unsere Wege jetzt trennen. Aber du hast den Menschen, der mir mehr bedeutet als alles auf der Welt, in Angst und Schrecken versetzt.«

Ich zeigte auf Anabelle.

»Wir gehen jetzt zu ihr, und du entschuldigst dich bei ihr.«

Der Junge wusste nicht, was er tun sollte.

»Du weißt doch, was eine Entschuldigung ist, oder?«

Er nickte zögernd und schielte auf meine rechte Hand, in der ich noch immer das Rasiermesser hielt.

»Komm«, sagte ich.

Der Junge ging langsam auf die Bank zu. Als er etwa drei Meter von Anabelle entfernt war, tippte ich ihm auf die Schulter. Er blieb stehen.

»Es … es tut mir leid«, sagte er.

Ach wie rührend. »Als du mich vorhin beschimpft hast, warst du viel lauter.«

»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal, diesmal lauter.

»Mit wem sprichst du?«, fragte ich ihn.

Der Junge war völlig verkrampft. Er wusste nicht, was als Nächstes kam.

»Du sprichst mit einer Lady«, sagte ich. »Du musst sie mit ›Miss‹ anreden.«

»Es tut mir leid, Miss«, sagte er.

»Sehr gut.« Ich schaute Anabelle an. »Liebste?«

Anabelle hob den Blick und sagte: »Ich nehme die Entschuldigung an.«

Ich drehte den Jungen zu mir um. »Okay«, sagte ich. »D’accord.«

Als der Junge mir nun gegenüberstand, war der Uringestank unerträglich. Es konnte mir gar nicht schnell genug gehen, diese Angelegenheit zu beenden. Ich hob meine Hand und führte das Rasiermesser dicht an das Gesicht des Jungen heran.

»Lauf.«

Ein paar Minuten später saß ich mit Anabelle in unserem Auto. Wir schwiegen eine ganze Weile.

»Ich habe die Beherrschung verloren«, sagte ich schließlich. »Ich komme mir beinahe wie ein Schläger vor.«

»Ist schon gut.« Anabelle tätschelte meine Hand.

»Bist du nicht böse auf mich?«

»Niemals.«

Ich ließ den Motor an und stellte die Heizung ein. In dieser Jahreszeit fror Anabelle immer.

»Ich glaube, ich habe bei dem Kampf meine Taschenuhr verloren«, sagte ich und strich über meine Westentasche.

»Oh nein«, rief Anabelle. »Die Verge Fusee?«

»Ja.«

»Du liebst diese Uhr doch so sehr.«

Ich schaute aus dem Fenster auf den Park und zurück zu Anabelle. »Ich weiß, wo ich sie verloren habe. Ich laufe schnell zurück. Kommst du eine Minute ohne mich zurecht?«

»Ja, ich komme schon klar.«

Ich stieg aus. »Verschließ die Türen. Ich bin gleich wieder zurück.«

Der Junge saß auf einer Bank am Fluss und rauchte mit zitternder Hand eine Zigarette; in der anderen Hand hielt er ein Mobiltelefon.

Offenbar besaß er bereits ein Handy, dieser Lügner.

Aber ich war ebenfalls ein Schwindler, denn ich hatte meine Taschenuhr gar nicht verloren.

Zu welch dreisten Lügen wir greifen, verrät viel über uns, n’est-ce pas?

Ich stand vor dem Jungen, ehe er einen Ton von sich geben konnte.

Er hatte Anabelle Angst eingejagt, und da kannte ich kein Erbarmen.

Zwanzig Minuten später fuhren Anabelle und ich in die Garage, und ich stellte den Motor ab. Einen Augenblick war nur das Klacken des sich abkühlenden Metalls zu hören.

»Vier Puppen müssen wir noch ausbessern, dann sind wir fertig«, sagte ich.

Anabelle schaute in die dunkle Garage. Die Last unserer kleinen Welt, in der für alles gesorgt war, lag auf ihren schmalen Schultern. »Und was wird dann aus uns?«, fragte sie. »Wo gehen wir hin?«

»Wir gehen nach Frankreich und leben dort.«

»Wirklich?«

»Ja. Wir werden in einem gemütlichen kleinen Landhaus wohnen und viele Freunde haben.«

Anabelle setzte sich gerade hin. Ich sah ihr an, dass diese Vorstellung sie sehr erfreute. Mir fehlte der Mut, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Wir müssen sehr viele Vorbereitungen treffen«, sagte sie.

»Ja.«

»Unser letzter Tanztee wird der größte sein, den wir je veranstaltet haben.«

»Ja«, erwiderte ich. »Ein großes Fest.«

Wir stiegen aus und gingen das kurze Stück bis zu unserem Zuhause.

Ich war froh, dass uns niemand folgte.

Zu Hause angekommen, wusch ich mir das letzte Blut von den Händen.

Als ich aus dem Badezimmer kam, lag Anabelle auf dem Sofa und las in einem Buch über das Leben auf dem Lande in Frankreich. Sie hob den Blick und lächelte mich an.

Ich freute mich immer sehr, wenn meine Anabelle lächelte.

Tanz der Toten
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