53

Andi schaute zum zwanzigsten Mal innerhalb einer Stunde auf die Uhr.

Wie lang kann so ein verdammter Tag sein?, fragte sie sich.

Als sie den Job bei American Apparel in der King of Prussia Mall bekommen hatte, dem großen Einkaufscenter, in dem es Läden von Lord & Taylor, Neiman Marcus, Bloomingdale’s und Nordstrom gab, hatte sie einen Vertrag für dreißig Stunden die Woche unterschrieben. Andi glaubte, dass das neben der Schule zu schaffen war, sodass sie ein bisschen Geld für eine Reise nach New York nächsten Sommer sparen könnte.

Nur samstags arbeitete Andi den ganzen Tag. Sie hatte damit gerechnet, dass es ein cooler Job sein würde, ja, dass es sogar Spaß machte, den ganzen Tag in einem Einkaufscenter herumzuhängen. Das tat sie schon, seitdem sie dreizehn war. Doch wie sich herausstellte, war es kein Spaß. Überhaupt nicht.

Sie hatte sich in vielen anderen Geschäften beworben, in denen sie wirklich arbeiten wollte: Armani Exchange, Diesel, J. Crew, Lacoste, sogar Gucci, Hermès und Burberry. In keinem dieser Läden hatte sie Glück. Entweder stellten sie niemanden ein, oder sie waren der Meinung, Andi habe nicht den richtigen »Look«, was immer das war.

Andi war oft durch diese Geschäfte geschlendert. Ja, sicher, alle, die dort arbeiteten, waren gut gekleidet und sehr gepflegt, aber keine der Verkäuferinnen sah aus wie ein Topmodel. Keine Jennifer Lawrence oder Selena Gomez unter ihnen.

Am Ende war American Apparel eine ganz gute Alternative.

Nur heute nicht. Heute verirrte sich kein einziger Kunde in den Laden.

Andi verließ ihren Platz hinter der Ladentheke und bemühte sich, wenigstens so zu tun, als wäre sie beschäftigt. Sie faltete ein paar Pullover mit Rundhalsausschnitten vorne auf dem ersten Tisch ordentlich zusammen, legte die Portemonnaies auf den kleinen Ablageflächen an den Tischenden gerade hin und strich die Ärmel der Skaterkleider auf dem Ständer glatt. Andi fand die Kleider echt cool. Sie bekam einen ziemlich guten Angestelltenrabatt. Vielleicht würde sie sich eins kaufen.

Natürlich müsste sie zuerst fünf Pfund abnehmen.

Anschließend wollte sie ins Lager hinter dem Verkaufsraum, um ein paar neue Slim-Fit-Stretchjeans auszupacken. Die waren zwar schick, erforderten aber eine Gewichtsabnahme von sieben Pfund.

Plötzlich hörte Andi den leisen Gong, der erkennen ließ, dass jemand das Geschäft betrat.

Sie drehte sich um, um den Kunden zu begrüßen, brachte aber kein Wort heraus.

Wow, der Typ sieht ja total geil aus.

»Hey«, sagte sie schließlich. »Willkommen bei American Apparel.«

Er lächelte. Andi bekam weiche Knie.

»Danke«, sagte er.

Er trug einen blauen Anzug, ein weißes Hemd mit Haifischkragen und eine burgunderrote Krawatte. Das Hemd hatte französische Manschetten. Dazu trug er geschmackvolle silberne Manschettenknöpfe, die wie ein M geformt waren. Vielleicht war es auch ein W.

Andi wusste meistens, von welchem Hersteller Kleidung stammte, aber sein Anzug schien maßgeschneidert zu sein.

»Ich hoffe, du bist nicht sauer, dass ich dich beobachtet habe«, sagte er und zeigte auf die Bänke am Brunnen in der Nähe des Eingangs. »Ich habe fast den ganzen Morgen dort gesessen.«

Andi spürte, dass sie errötete, und konnte nichts dagegen tun. »Ich bin nicht sauer«, sagte sie.

»Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hast, dich mit mir irgendwo hinzusetzen und dich ein bisschen mit mir zu unterhalten«, fuhr der Mann fort. »Vielleicht, wenn du Feierabend oder Pause hast.«

Andi schaute auf die Uhr. »Um zwei habe ich Pause.«

»Wunderbar. Ich habe gesehen, dass in der Nähe vom Eingang zu Nordstrom ein Platz mit ein paar Cafés ist. Sollen wir uns da treffen?«

»Klar«, sagte Andi. »Okay.«

Er lächelte wieder. »Dann sagen wir bis zwei.«

Andi drehte sich um und lief beinahe gegen einen der Tische.

Als Andi das Café betrat, sah sie ihn an einem Tisch sitzen. Er las in keiner Zeitschrift, starrte auf kein Handy, trank keinen Kaffee und aß auch nichts, was man in einem der Fast-Food-Läden hier bekommen konnte. Er saß nur mit übereinandergeschlagenen Beinen und auf dem Tisch gefalteten Händen da. Seine schneeweißen Manschetten schauten genau zwei Zentimeter unter den Ärmeln des dunklen Jacketts hervor.

Er saß einfach nur da.

Als er sah, dass Andi sich näherte, stand er auf und rückte ihr den Stuhl zurecht.

»Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist.«

Andi setzte sich. Seitdem er im Laden gewesen war, hatte sie überlegt, was sie sagen könnte. Als sie jetzt neben ihm saß, war ihr Kopf wie leergefegt.

»Erzähl mir etwas über dich«, forderte er sie auf. »Ich möchte alles wissen.«

Andi dachte angestrengt über eine clevere Antwort nach, doch ihr fiel nichts ein. »Es gibt wirklich nicht viel zu erzählen«, antwortete sie schließlich.

»Oh, das glaube ich aber doch.«

In den nächsten Minuten sprach Andi über ihr Leben: ihre Mutter, ihren Vater, die Schule, die Arbeit, ihre Lieblingsmusik, ihre Lieblingsfilme und was sie am liebsten aß. Es hörte sich alles so langweilig an wie ein Albtraum aus der Vorstadt im Vergleich zu dem, was dieser junge Typ repräsentierte.

»Übrigens, mir gefällt dein Anzug«, sagte sie.

»Danke. Ich finde es sehr wichtig, dass man stets gut gekleidet ist.«

»Die meisten Jungen, die ich kenne, kleiden sich total schlampig. Ich hasse diese scheußlichen Baggy Pants.«

»Ich auch.«

»Diese Typen kommen in den Laden, kaufen aber nie etwas. Meistens wirft die Filialleiterin sie raus. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft sie schon den Sicherheitsdienst vom Einkaufscenter rufen musste.«

Er strich eine Fussel vom Revers seines Jacketts. »Die Jungen wollen dich bestimmt nur beeindrucken.«

»Warum sollten sie?«

»Weil du hübsch bist.«

Andi riss die Augen auf. »Du findest mich hübsch?«

Er streckte die Hand mit den gepflegten Fingernägeln aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du hast das Lächeln der Garbo und duftest nach Rosen.«

»Wow«, sagte sie. »Woher ist das?«

»Aus einem alten Lied.«

Andi kam das alles unwirklich vor, doch sie beschloss, sich darauf einzulassen. »Ich weiß nicht mal, wie du heißt.«

»Ich bin Marseille.«

Also waren die Manschettenknöpfe wie ein M und nicht wie ein W geformt. »Ein echt cooler Name.«

Andi hätte ihn gern gefragt, ob es sein Vorname oder sein Nachname sei, aber sie wollte nicht, dass er sie für neugierig hielt. Sie wollte ihm auch keinen Grund liefern, das Gespräch zu beenden, obwohl ihre Pause gleich vorbei war. Interessant, wie ein Tag, der sich zuerst wie Kaugummi in die Länge gezogen hatte, plötzlich rasend schnell verstrich.

»Und du bist Andrea«, sagte er.

Andi war überrascht. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

Er lächelte, wandte den Blick nicht von ihr ab. Ein paar Sekunden später machte es klick bei Andi.

Sie schloss die Augen, als sie begriff, was für eine dumme Frage sie ihm gerade gestellt hatte. Siebzehn Jahre. Siebzehn Jahre und zwei Monate – und sie hatte diesen Augenblick gewählt, um so einen Mist zu reden.

Großartig, Andi.

Sie tippte auf ihr Namensschild. »Bin ich dumm.«

»Überhaupt nicht.« Er beugte sich vor. »Wann hast du Feierabend?«

Andi schaute auf die Uhr. Sie hatte um vier Uhr Feierabend, also spielte es keine Rolle, wie spät es jetzt war. Sie wusste nur nicht, wohin sie schauen sollte. Schließlich wandte sie ihm wieder den Blick zu.

»Um vier.«

»Hast du nach der Arbeit schon etwas vor?«

Hatte sie nicht. Sie hatte nie etwas vor. »Nein.«

»Ich würde dich gern zum Tee einladen.«

Andi hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer Einladung zum Tee. »Tee?«

»Ja«, sagte er. »Jeden Samstag veranstalten wir einen Tanztee, einen Thé dansant, wenn du mir den Ausdruck gestattest. Bei dieser Veranstaltung geht es ziemlich förmlich zu. Du wirst meine Freunde mögen. Sie sind alle sehr lebhaft und exzentrisch.«

»Ist das ein Tanz oder so?«

»Ja.«

Es war das erste Mal, dass Andi zu einem Tanztee eingeladen wurde. Aber warum nicht?

»Klar«, sagte sie. »Hört sich gut an.«

»Wunderbar. Wo sollen wir uns treffen?«

Andi würde sich von Tracy mitnehmen lassen, die in der Parfümerie-Abteilung bei Nordstrom arbeitete. Das war das Beste.

»Wir treffen uns am Südausgang von Saks«, sagte sie.

Er schaute ihr tief in die Augen. »Ich zähle die Minuten.«

Tanz der Toten
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