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Als Polizeichefinspektor Andreas Burger mit seiner Dienstpistole die Shuttlekabine in der Seilbahnstation betrat, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Zunächst wusste er nicht, ob Martin Waller noch am Leben war. Dann im Näherkommen bemerkte er, dass der Mann zitterte.
»Herr Waller, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sind Sie verletzt?«, rief er.
Martin gab keine Antwort. Er hörte zwar genau, was der Polizist sagte, aber er war zu sehr in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen, als dass er zu einer Reaktion fähig gewesen wäre. Ursprünglich wollte Selma ihn töten und damit den Schlusspunkt in ihrem Racheplan setzen. Doch was war es, das sie letztlich veranlasste, von ihrem Plan abzuweichen, und sich selbst zu erschießen? Martin hatte angeführt, dass Anna es verurteilt hätte, wenn Selma dafür verantwortlich wäre, dass Paul ohne Vater aufwächst. Außerdem hatte Selma selbst eingeräumt, dass sie sich nicht besser fühlte, nachdem sie die meisten Menschen auf ihrer Todesliste schon umgebracht hatte. Das musste sie zum Nachdenken gebracht haben. Schließlich hatte sie das Übel gewählt, das Anna weniger schlimm empfunden hätte. Sie hatte Martin nicht getötet, sie hatte ihm die Wahrheit erzählt. Gleichzeitig war Selma klar gewesen, dass Martin damit vielleicht mehr Schaden zugefügt wurde, als wenn er jetzt starb. Für sie wiederum war der Tod die einzige Möglichkeit Frieden zu finden.
Burger hatte sich inzwischen zu Martin vorgewagt. Angeekelt vom Blut an den Fensterscheiben und auf dem Boden und den Leichen, den beiden der größte Teil des Kopfes fehlte, rüttelte er Martin zart an der Schulter.
Martin hob plötzlich den Kopf und sah Burger an.
»Oh mein Gott«, entfuhr es diesem als er Martins geschundenes Gesicht und den blutigen Kranz um seinen Hals sah.
»Bringen Sie mich bitte hier raus«, sagte Martin.
Burger machte sich unverzüglich daran, die Fesseln zu lösen.
»Ja selbst verständlich. Ich bringe Sie zu ihrem Sohn.«
Sohn? War Paul doch hier?
Burger fing Martins ungläubigen Blick auf, während er ihm half, sich aufzurichten, und sich auf ihm abzustützen.
»Ihr Vater und ein gewisser Ram haben ihren Sohn hergebracht. Ihr Sohn wollte unbedingt zu ihnen, ganz so als ob er gespürt hätte, dass sie in Gefahr schweben.«
Ihr Sohn. Die Worte geisterten Martin im Kopf herum, während er mit dem gesunden rechten Arm auf Burgers Schulter die Außentreppe hinunter humpelte. Er blickte nach oben und sah einen kleinen Jungen. Es war Paul. Er stand neben seinem Großvater und winkte ihm zu. Ja, Paul war sein Sohn, auch wenn ich nicht sein leiblicher Vater bin, dachte Martin. Aber davon brauchte niemals jemand zu erfahren. Er würde Annas Geheimnis bewahren. Und wenn man so wollte, dann hatte dieser kleine Junge ihm das Leben gerettet. Denn nur, weil Martin den Eindruck hatte, Paul in dem Zug nach oben gesehen zu haben, hatte er die Kraft gewonnen, noch einmal einen verbalen Angriff auf Selma zu starten. Ein Lucky Punch in der letzten Sekunde, dachte Martin und musste schmunzeln. Er löste sich von Burger und winkte mit dem gesunden Arm zurück.
Nur wenige Minuten später kam ein Rettungssanitäter auf einem motorisierten Skibob mit einer Trage als Anhänger aus dem Tal angefahren. Der Führer der Zahnradbahn hatte die Rettungswacht auf Burgers Anweisung hin sofort informiert. Martin legte sich auf die Trage und wurde hinauf zum Hotel transportiert. Bumann war mittlerweile aus seinem Loch, dem Panikraum, gekrochen. Wie sich später herausstellte, hatte Selma ihm einfach gesagt, sie wolle nicht untätig herumsitzen, während Martin vielleicht ihre Hilfe benötigte. Bumann hatte es, wie zu erwarten, vorgezogen in Sicherheit zu bleiben. Aber Martin beachtete ihn nicht. Durch die Menschenmenge hindurch nahm er nur eine Person wahr, Paul. Der Junge zwängte sich zwischen den gaffenden Touristen und den inzwischen mit dem Helikopter hinaufgebrachten Polizisten und Spurensicherern hindurch.
»Paul«, schrie Martin und musste weinen. Diesmal nicht vor Schmerzen. Die hatte der Arzt mit einer Spritze fast betäubt. Nein, diesmal weinte er, weil ihm das Herz überquoll vor Liebe. Und als Paul endlich vor Martins Bahre stand, tat der Junge etwas, das er noch nie zuvor getan hatte. Er legte sich neben Martin, schlang beide Arme um seinen Oberkörper und drückte seinen Vater so fest er konnte an sich. Dann sagte er: »Ich hab dich lieb, Papa.«