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Raphael öffnete die Tür zum Hotelflur in der ersten Etage und warf einen Blick hinein. Zimmeröffnungen gähnten ihm wie dunkle Mäuler entgegen. Vor kurzem hatte er hier auf der Suche nach Waller ein paar Türen eingetreten. Er registrierte es mit einem zufriedenen Grunzen und schnupperte wie ein Wolf, der Witterung aufnahm. Ehne, Mehne, Miste, es rappelt in der Kiste, summte es in seinem Kopf. Es war kalt in diesem Flur. Die Kälte schlüpfte durch das eingeworfene Turmfenster an der Frontseite des Hotels, das er von hier aus sehen konnte, hinein.
Noch einmal horchte er jetzt angestrengt in die Stille. Nichts, der Flur blieb ruhig.
War es möglich, dass Waller sich in einem der Zimmer in dieser Etage verkrochen hatte?
Raphael überlegte, was geschehen war. Zunächst hatte Waller den Aufzug aus dem Keller leer in die zweite Etage fahren lassen. Er war auf den Trick hereingefallen und dem Aufzug hinterher gerannt. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Kabine leer war, fuhr er wieder damit nach unten, weil er dachte, das Ablenkungsmanöver habe Waller veranstaltet, um das Hotel durch die Eingangstür im Erdgeschoss zu verlassen. Aber dem war nicht so. Waller musste ihm über das Treppenhaus nach oben gefolgt sein und konnte jetzt überall sein, von der ersten Etage bis in den dritten Stock. Wenn er jetzt die erste Etage betrat und Waller doch in einer der darüber liegenden Stockwerke wäre, hätte Waller, während er sich die Räume in dieser Etage erneut vornahm, Zeit genug, durch das Treppenhaus wieder nach unten zu laufen. Raphael hatte keine Lust, weiter zu spielen. Seine Geduld war zu Ende. Er würde Waller jetzt ganz systematisch in die Enge treiben.
Zu seiner Linken stand wieder einer dieser Blumenständer, auf dem eine Porzellanvase mit künstlichen Blumen stand. Die Dinger standen überall im Hotel herum. Er griff sich den Ständer und lehnte ihn mitsamt der Vase schräg vor die Tür. Wenn jemand von innen die Tür öffnen würde, musste die Vase unweigerlich nach unten fallen und zerbrechen. Er hoffte, es zu hören, wenn er in den darüber liegenden Stockwerken war.
Dann stieg er die Treppe weiter nach oben. Dabei nickte er mit dem Kopf im Rhythmus eines neuen Songs. Diesmal von der Band Metallica. Die Musik wurde lauter und lauter und der Text drängte ihm immer eindringlicher seine Botschaft auf: suche und zerstöre!
Er begann, den Song mitzusummen. Mit jedem Schritt summte er lauter, und als er den Flur zur zweiten Etage betrat, schrie er den Refrain aus vollem Hals hinaus. Er ging in einen leichten Trab über. Die Pistole, die er dem Mann im Büro des Direktors abgenommen hatte, lag schwer wie eine Streitaxt in seiner Hand. Mit jedem Zimmer, das er vergeblich durchsuchte, wurde er wilder. Und doch musste er am Ende feststellen, dass er allein auf dieser Etage war. Er hatte überall nachgesehen, unter den Betten, hinter den Vorhängen und in allen Schränken, die groß genug waren, dass sich eine Person darin verbergen konnte. Nun stand er vor der Tür, hinter der die Treppe in die dritte Etage führte. Er schnaubte noch einmal, bevor er auch diese Tür aus den Angeln trat. Im Hochgehen kam ihm auf einmal in den Sinn, wie sehr er es geliebt hatte, als Jugendlicher des Nachts die reflektierenden Straßenbegrenzungssäulen umzutreten. Sie hatten ihn nie dabei erwischt. Auch aus dieser Sache hier würde er unbehelligt rauskommen. Er fühlte es.
Oben im dritten Stock nahm er sich zuerst die Wohnung vor, auf deren Messingschild an der Wand neben der Tür Zurbriggen stand. Auch hier fand er niemanden.
Im Flur vor der Wohnung befand sich eine Luke an der Decke. Er holte sich einen Stuhl aus der Wohnung des Direktors, kletterte hinauf und zog sie auf. An der Luke war eine einklappbare Holzleiter befestigt. Er stieg die Leiter nach oben und fand auf der rechten Seite an einem Dachbalken einen Lichtschalter. Er drückte darauf und mehrere Neonlampen leuchteten den Raum aus. Es handelte sich um einen riesigen Dachboden, auf dem aber keine einzige Kiste stand. Der Raum war wie leer gefegt, keine Chance, sich hier zu verstecken. Er kletterte wieder hinunter. Neben der Wohnung der Toten in der Badewanne führte eine schmale Treppe in den Turm hinauf. Schnell folgte er den Stufen. Doch auch in der Wohnung im Turm und in der Sternwarte war niemand. Er lief wieder hinunter. Jetzt blieb nur noch die Wohnung der Toten. Zu seiner Verwunderung war die Tür nur angelehnt. Raphael durchsuchte die Wohnung vorsichtig und sorgfältig. Fuchsteufelswild schlug er um sich und schrie Wallers Namen. Dann ging er langsam hinaus und folgte der Treppe bis in den ersten Stock. Der Blumenständer lehnte noch an der Tür. Er stellte ihn beiseite und fing an, auch diese Etage Zimmer für Zimmer zu durchkämmen. Am Ende ging er zu dem offenen Fenster. Es gab nur noch die eine Möglichkeit. Waller musste hier das Hotel verlassen haben und befand sich jetzt wahrscheinlich in der Bahnstation. Obwohl das keinen Sinn ergab. Waller hätte doch einfach zur Eingangstür hinaus spazieren können, als Eddie dem leeren Aufzug in die zweite Etage nach jagte.
Eddie blickte hinunter in den im Umkreis der Bodenstrahler hell reflektierenden Schnee und erstarrte. Bis nach unten waren es etwa fünf Meter. Seitlich neben dem Fenster verlief ein dicker Draht, der Blitzableiter. Er war verbogen. Er selbst hatte sich daran nach oben gezogen. Genauso gut konnte man daran hinunterklettern. Aber etwas anderes verwirrte ihn. Der Sturm hatte noch nicht nachgelassen. Doch diese Stelle unterhalb des Fensters war in einer Nische zwischen der vorgebauten Terrasse des Restaurants gelegen und teilweise von dem Dach der unmittelbar danebenstehenden kleinen Kapelle überdacht. Nur wenig Schnee kam hier an. Es gab dennoch keine Fußspuren, die vom Gebäude wegführten. Raphael hätte sich das erklären können. Er hätte denken können, der wenige Neuschnee, der hier landete, habe ausgereicht, Wallers Fußabdrücke zu überdecken. Aber das konnte aus einem bestimmten Grund nicht sein. Denn Eddie sah Fußabdrücke. Sie waren zu einem früheren Zeitpunkt entstanden. Es waren seine Eigenen. Wie konnten diese da sein, Wallers hingegen verschwunden. Es gab nur eine logische Erklärung. Waller war niemals aus diesem Fenster gestiegen. Das hieß wiederum, dass Waller ihn zum Narren hielt. Er hatte sich so gut versteckt, dass er ihn einfach nicht finden konnte. Er fluchte vor sich hin und zu allem Überfluss kam nun auch schon wieder Eddie zurück an die Oberfläche. Raphael hatte nicht die geringste Lust jetzt zu gehen. Doch schon im nächsten Augenblick war er verschwunden und Eddie hatte seinen Platz eingenommen. Langsam trottete Eddie hinunter in die Eingangshalle und setzte sich an den Tisch hinter der Rezeption. Auch nach weiteren fünf Minuten wollte Raphael nicht zurückkommen. Eddie, der Ehemann und Nachtwächter blieb. Wie er sich fühlte, war nur schwer zu beschreiben. Raphael hatte Waller gesucht, den Mann, der seine Frau ermordet hatte. Er hatte ihn nicht gefunden. Was sollte er jetzt tun? Plötzlich wusste Eddie, wie er Waller hervorlocken konnte. Es fiel ihm in dem Moment ein, als er das Ständermikrofon und die rote Taste daneben an der Theke der Rezeption sah. Zufrieden nahm er den Zettel aus der Brusttasche seines Hemdes, drückte auf die Taste und verlas den Text, der darauf stand.