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Raphael hatte es geschafft. Er hatte die letzte Fahrt der Zahnradbahn hinauf aufs Gornergrat noch bekommen. Nur wenige Menschen waren außer ihm im Zug. Es waren Einheimische. Sie stiegen alle an den beiden ersten Haltestationen aus. Er fuhr als Einziger bis ganz hinauf zum Hotel. Auf dem Weg spürte er das untrügliche Gefühl der Veränderung. Raphael wich mehr und mehr zurück und Eddie übernahm wieder die Kontrolle über seinen Körper. Er wollte es nicht. Aber er konnte nichts dagegen tun. Vermutlich lag es an den Medikamenten, die Eddie jahrelang genommen hatte. Sie hatten wahrscheinlich einen Wirkspiegel hinterlassen, der es Eddie erleichterte, wieder zum Vorschein zu kommen. Auch die Entspannung, die während der Zugfahrt eingekehrt war, schaffte eine passende Atmosphäre.
Als die Bahn an der letzten Station hielt, stieg Eddie aus. Die in den Zug drängenden Menschen beachteten ihn nicht. Es waren größtenteils Angestellte des Hotels und der Bahnstation, die hinunter ins Tal und in den Feierabend wollten. Aber auch einige Hotelgäste mit Taschen und Rucksäcken, sowie ein paar Ausflügler, die es besonders lange hier oben ausgehalten hatten, waren dabei. Nachdem die Bahn sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, schaute er ihr noch kurz nach, wie sie sich durch das schroffe schneebedeckte Gelände grazil auf den Gleisen nach unten schlängelte. Dann nahm er das Hotel in Augenschein. Unzählige Lampen, die im Boden eingelassen waren, strahlten es an. Außer ihm war nun niemand mehr hier draußen. Er spürte die Pistole in seinem Hosenbund. Er hatte seine Ruger von zu Hause mitgenommen. Die Pistole, mit der er seinen Bruder erschossen hatte, hatte er noch in Deutschland beim Überfahren einer Brücke in den Rhein geworfen. Die Beseitigung dieses Beweisstückes würde ihn nicht vor einer Verurteilung wegen Mordes an seinem Bruder schützen. Dafür reichte das Video der Tat aus. Er wollte die Pistole einfach nicht bei sich haben.
Die Ruger drückte leicht gegen seinen Oberschenkel und vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Seine Jacke reichte ihm bis weit über die Hüfte und verdeckte die Ausbeulung, welche die Waffe hervorrief. Während er auf das Hotel zu ging, versuchte er sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie Martin Waller ausgesehen hatte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Auf seinem Gedächtnis lag ein Schleier. Er führte es auf all die Medikamente zurück, die er in den letzten sieben Jahren hatte schlucken müssen. Wenn er Waller sah, würde er ihn erkennen, da war er sicher.
Auf dem Schild neben dem Hoteleingang stand, dass das Hotel geschlossen sei. Er überlegte, was er tun sollte und spähte durch die Glastür ins Innere. Am Schreibtisch hinter der Rezeption sah er einen Angestellten, der seinen Blick konzentriert auf den vor ihm stehenden Computerbildschirm richtete. Wenn er an die Tür klopfen würde und nach Martin Waller fragen würde, wäre das eine Möglichkeit, aber womöglich würde der Mann Waller informieren und Waller wäre vorgewarnt. Raphael wäre vor dieser Tür bereits Amok gelaufen, hätte sie zerschossen und wäre mit viel Tamtam in das Hotel eingedrungen. Den Mann an der Rezeption hätte er zuerst nach Waller gefragt und ihn dann umgelegt. Eddie hingegen war anders gestrickt. Eddie konnte seine Wut zähmen, überlegter handeln, trotz aller Trauer um seine Frau. Man hätte auch sagen können, Eddie war der feige Teil von beiden. Statt in das Hotel zu stürmen, erkundete Eddie zunächst das Außenterrain und dachte nach.
Wenn Waller hinter all dem steckte, warum hatte er sich dann selbst verraten, indem er die Todesanzeige seiner Frau neben Sarahs Leiche gelegt hatte? Vielleicht war Waller durchgeknallt. Vielleicht war Waller auch alles egal. Vielleicht hatte der Tod von Wallers Frau auch nur etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun und deshalb hatte die Todesanzeige dort gelegen. Jemand spielte hier ein tödliches Spiel. Er würde herausfinden, wer es war. Wenn es doch Waller war, der hinter allem steckte, dann musste diesem klar sein, dass er alles unternehmen würde, um ihn aufzuspüren, und dass er ihn töten würde, für das, was er ihm angetan hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Waller so dumm war.
Möglicherweise sollte er hier oben in eine weitere Falle tappen. Er musste vorsichtig sein. Doch für den Augenblick war es am wichtigsten, ohne Aufsehen in das Hotel zu gelangen. Ihm war jetzt schon beißend kalt. Der Wind verstärkte sich. Die Temperaturen waren zwar am Steigen und es hatte angefangen zu schneien, aber dennoch war ihm kalt. Er ging an der Fassade des Hotels entlang. Sein Plan war, sich irgendwie unbemerkt Zutritt zu verschaffen. Wenn alle schliefen, würde er der Rezeption einen Besuch abstatten und herausfinden, in welchem Zimmer Waller untergebracht war. Anschließend würde er Waller zum Reden bringen. Er hoffte, dass Raphael ihm dabei helfen würde.
Er ging an dem vorstehenden Glasanbau vorbei. Dahinter stieß er auf den linken Turm des Hotels. Wenige Meter daneben befand sich eine alte Kapelle. In der ersten und zweiten Etage des Turmes befanden sich Fenster, klein, aber groß genug, um durch die Öffnungen zu schlüpfen. An der Mauer verlief ein dicker Draht mit starken Halterungen bis nach oben auf die Spitze des Turmes. Es war ein Blitzableiter. Er verlief unmittelbar an den Fenstern vorbei. Eddie schaute sich noch einmal um. Für einen Moment dachte er darüber nach, in die Kapelle zu schauen, tat es dann aber doch nicht. Er wollte ins Warme. Er trat näher an den Draht heran, stellte den linken Fuß auf die unterste Halterung und griff mit der rechten Hand den Draht, um sich daran hochzuziehen. Dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Er hörte ein Geräusch, ein Knistern und im selben Moment breitete sich ein Schmerz von bislang ungekannter Intensität schlagartig in ihm aus. Er fiel in den Schnee und krümmte sich, unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Er erstarrte, riss den Mund auf. Doch kein Ton kam heraus. Sein Gesichtsfeld verengte sich, es wurde dunkel. Bevor er das Bewusstsein verlor, war ihm eines klar. Jemand hatte sich ihm unbemerkt von hinten genähert und ihm mit einem Elektroschocker mehrere hunderttausend Volt über die Schädeldecke in den Körper gejagt. Mit der gleichen Geschwindigkeit, wie der Strom durch seinen Körper floss, hatte eine andere Person von ihm Besitz ergriffen. Er stellte es mit Genugtuung fest. Diese Person war noch kälter, als der Schnee, in dem er jetzt lag. Er wusste nicht, ob er jemals wieder die Augen öffnen würde, aber wenn er es tat, dann wäre Raphael da und er würde sich ruhig zurücklehnen und zuschauen können, was dieser tat.