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Als Ram die Augen wieder aufschlug, lag er in einem Bauernbett in einem rustikalen, holzverkleideten Zimmer. Augenblicklich war alles wieder da. Der Unfall und die Männerstimme. Aber an mehr konnte er sich nicht mehr erinnern. Wo war er und wo war Paul? Er setzte sich ruckartig auf und fasste sich an den Schädel, der in einen dicken Verband gepackt war. Er blickte sich um. Die hellblauen Stoffgardinen vor dem Fenster zu seiner Linken waren zugezogen. Doch er konnte erkennen, dass es langsam hell wurde. Auf der anderen Seite an der Wand stand ein weiteres Bett. Eine Frau saß daneben und hielt eine kleine Hand, die unter der dicken Bettdecke hervor schaute. Als sie bemerkte, dass Ram zu sich gekommen war, drehte sie sich zu ihm und lächelte ihn an. Sie hielt den Zeigefinger vor den Mund, als Zeichen, er solle still sein. Jetzt sah Ram, wer in dem Bett lag. Es war Paul und zu seiner Verwunderung schien der Junge zu schlafen. Mühsam schälte er sich aus dem Bett. Jeder Knochen tat ihm weh. Aber das war belanglos. Er musste ins Hotel. Er stellte fest, dass jemand ihm die nasse Hose ausgezogen haben musste. Sie hing über einem Stuhl nahe dem Heizkörper unter dem Fenster. Er schnappte sich die Hose, zog sie über und ging zur Tür.

»Mein Mann und mein Sohn haben sie beide gefunden. Gehen sie runter, mein Mann wird ihnen alles erklären«, flüsterte die Frau.

Ram nickte ihr zu und verließ das Zimmer. Der Flur war weiß verputzt. An den Wänden hingen Bilder mit Bergmotiven. Ram ging an mehreren Türen vorbei und erreichte die Holztreppe, die nach unten führte. Das Haus wirkte auf ihn wie eine Pension. Als er unten ankam, konnte er durch eine offene Tür in die Küche sehen. Der Duft von frisch gekochtem Kaffee strömte ihm entgegen. Die Küche selbst war groß und geräumig. Ein großer Tisch mit einer gemütlichen Ecksitzgruppe fand darin Platz. Ein großer, kräftiger Mann mit einem eckigen Gesicht, saß auf der Bank vor dem Fenster. Er lachte breit und zeigte seine gelben Zähne, als Ram den Raum betrat.

»Na, wieder unter den Lebenden. Setz dich erst einmal und trink einen Kaffee«, sagte er zur Begrüßung.

Ram hatte keine Ahnung, wer der Mann war oder warum er ihn und Paul gefunden hatte.

»Was ist mit Paul? Er schläft. Ist er in Ordnung?«, fragte Ram.

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Kein Ahnung. Ich bin kein Arzt. In dem Moment, als wir euch gefunden haben, hast du das Bewusstsein verloren. Der Junge hat wie wild getobt und nach seinem Vater geschrien. Ich hab ihn gehalten und irgendwann geschüttelt. Doch er hat immer stärker geschrieben. Dann, ich weiß nicht genau, wie lange es gedauert hat, ist auch er ohnmächtig geworden. Mein Sohn und ich haben euch dann auf dem Transportschlitten hier heraufgezogen. War ganz schön anstrengend.«

»Danke«, sagte Ram, weil er wusste, dass der Mann wert darauf legte, es zu hören. »Aber was ist mit der Bahn. Die hätte uns doch auch aufnehmen können?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Die fährt heute mit Verspätung. Weiter oberhalb hat eine mächtige Lawine die Gleise blockiert. Es dauert noch, bis das freigeräumt ist.«

Ram griff nach einer Stuhllehne, um sich abzustützen. Er fühlte sich schwach auf den Beinen und sein Schädel tat höllisch weh.

»Ich muss aber ins Hotel rauf. Ein guter Freund von mir ist da oben. Ich glaube, er ist in ernsten Schwierigkeiten.«

Der Mann winkte mit einer Handbewegung ab.

»Sei froh, dass ihr noch am Leben seid. Um deinen Freund kümmert sich schon die Polizei.«

Ram dachte, er hätte sich verhört. Aber der Mann hatte deutlich gesprochen. Die Polizei? Wie war das möglich? Er fasste sich an den Verband um seinen Kopf, als ob er so die bohrenden Kopfschmerzen vertreiben könnte. Langsam setzte er sich an den Tisch. Der Mann registrierte es mit einem freundlichen Nicken, nahm eine Tasse von der Mitte des Tisches, schenkte ihm Kaffe aus der Thermokanne ein und schob sie zu Ram hinüber.

»Der Arbeiter, dem du das Motorrad entwendet hast, hat die Polizei informiert. Nicht, weil er dich wegen Diebstahl anzeigen wollte. Er hat dem Großvater des Jungen geglaubt, dass du den Jungen nur so schnell wie möglich zu seinem Vater bringen wolltest. Er hat aber gewusst, dass der Weg hinauf zum Hotel bei diesen Wetterbedingungen fast nicht zu schaffen war, und hatte Recht behalten. Die Polizei hat dann uns gebeten, nach euch zu suchen. Oder meinst du, wir laufen zum Spaß in aller Herrgottsfrühe bei diesem Wetter mit einem Schlitten durch den Wald?«

Ram schüttelte leicht den Kopf und starrte den Mann unverwandt an. Der Mann lachte, amüsiert über seinen eigenen Humor, kurz auf, bevor er weiter sprach.

»Weil niemand im Hotel zu erreichen war, schickt die Polizei mit dem Hubschrauber für den Lawinenräumdienst einen Mann nach oben, der nach dem Rechten sehen soll. Allerdings geht das erst, wenn sich der Wind noch ein wenig mehr beruhigt hat.«

Ram senkte den Kopf und nahm ihn in beide Hände. Niedergeschlagenheit breitete sich in ihm aus. Er hatte auf der ganzen Linie versagt. Er hatte Martin nicht helfen können, hatte dessen Sohn einem unnötigen Risiko ausgesetzt und zu allem Übel war die Polizei jetzt mit von der Partie. Und die würde ihm sicher Fragen stellen, die er nur beantworten könnte, wenn er seine eigene illegale Computerhackerei preisgab. Es sei denn, er könnte unbemerkt von hier verschwinden, bevor es so weit war.